Was wir von dem Verfasser der vorliegenden Aphorismensammlung historisch Beglaubigtes wissen, geht sehr eng zusammen. Es ist so wenig, daß die Kritik, die auf dem Gebiet der Sinologie noch in den Anfangsstadien der Schärfe ist, vielfach gar nichts mehr davon bemerkte und ihm samt seinem Werk im Gebiet der Mythenbildung den Platz anwies. Der Autor selbst würde seiner ganzen Art nach auch dagegen wenig einzuwenden haben. Auf Berühmtheit hat er nie Wert gelegt, und er hat es verstanden, sich vor den Augen der Welt gut zu verbergen, sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tode. »Sein Streben war, sich selbst zu verbergen und ohne Namen zu bleiben« ist das Urteil des chinesischen Geschichtsschreibers Sï Ma Tsiën (163-85 v. Chr.) über ihn. Diesem Geschichtsschreiber verdanken wir die wesentlichen Daten über sein Leben, mit denen wir uns abzufinden haben. Der Name Laotse, unter dem er in Europa bekannt ist, ist gar kein Eigenname, sondern ein Appellativum und wird am besten übersetzt mit »der Alte«1. Er hatte den Geschlechtsnamen Li, der an Häufigkeit in China den deutschen Namen Maier noch übertrifft; sein Jugendname war Erl (Ohr), sein Gelehrtenname war Be Yang (Graf Sonne), nach dem Tode erhielt er den Namen Dan, bzw. Lao Dan (wörtlich: altes Langohr, sinngemäß übersetzt: alter Lehrer). Er stammt wohl aus der heutigen Provinz Honan, der südlichsten der sogenannten Nordprovinzen, und mag wohl ein halbes Jahrhundert älter gewesen sein als Kung, so daß seine Geburt auf das Ende des 7. vorchristlichen Jahrhunderts fällt. Im Lauf der Zeit hatte er am kaiserlichen Hof, der damals in Loyang (in der heutigen Provinz Honan) war, ein Amt als Archivar bekleidet. Damals sei es gewesen, daß Kung bei seiner Reise an den Kaiserhof mit ihm zusammengetroffen sei. Über dieses Zusammentreffen der beiden Heroen ist in der chinesischen Literatur viel die Rede. Außer in dem erwähnten historischen Werk wird auch in dem Werk Li Gi, das der konfuzianischen Schule entstammt, ferner in den – allerdings ziemlich späten – »konfuzianischen Schulgesprächen« (Gia Yü), sowie in der taoistischen Literatur von verhältnismäßig früher Zeit an dieses Zusammentreffen direkt oder indirekt erwähnt. Jedenfalls war dieses Zusammentreffen in der Zeit der Han-Dynastie (zwei Jahrhunderte v. Chr.) schon so geläufig im Volksbewußtsein, daß wir in den berühmten Grabskulpturen in Westschantung (bei Gia Siang) eine bildliche Darstellung davon finden, wie Kung bei seinem Besuch dem Laotse als Ehrengabe einen Fasan überreicht. Über die Gespräche, die bei dieser Gelegenheit geführt wurden, finden sich mannigfaltige Berichte. Sie stimmen alle darin überein, daß Laotse über die Heroen der Vorzeit, die geehrten Vorbilder Kungs, ziemlich absprechend urteilt und ihn von der Hoffnungslosigkeit seiner Kulturbestrebungen zu überzeugen sucht, während Kung seinen Jüngern gegenüber sich voll Hochachtung über den unfaßbar tiefen Weisen äußert, indem er ihn mit dem Drachen vergleicht, der sich zu den Wolken erhebt. Im ganzen läßt sich der Stoff der aufgeführten Unterredung aus den Äußerungen des Taoteking, sowie aus den Erzählungen von dem Zusammentreffen Kungs mit den »verborgenen Weisen« in »Gespräche« Buch 18 ungefähr zusammenstellen. Es ist klar, daß sich über den Wortlaut dieser Unterredung nichts Zuverlässiges mehr feststellen läßt. Ob man die ganze Unterredung, wie Chavannes in seiner Übersetzung Sï Ma Tsiëns (Les mémoires historiques de Se-Ma Tsien, Tome V, Paris 1905, pag. 300 f.) geneigt ist, ins Reich der Fabel zu verweisen hat, ist schwer zu entscheiden. Zu denken gibt ja, daß sich in den »Gesprächen«, wo mehrere andere derartige Begegnungen erwähnt werden, nichts darüber findet2.
Als die öffentlichen Zustände sich so verschlimmerten, daß keine Aussicht auf Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Taoteking, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm übergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin. Daß auch an diese Erzählung sich die Sage geknüpft hat, die Laotse nach Indien führte und dort mit Buddha in Berührung kommen ließ, ist verständlich. Bei den späteren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Religionen behaupteten beide, daß der Religionsstifter der andern bei dem der eigenen Religion gelernt habe. In Wirklichkeit ist der Han Gu-Paß nur im Westen des damaligen Staates Dschou, aber noch mitten in China. Irgendeine persönliche Berührung zwischen Laotse und Buddha ist vollkommen ausgeschlossen. Man hat da spätere Zustände in das historische Bild zurückgetragen.
Aber dabei blieb es nicht. Gerade weil das Leben des »Alten« der Forschung so wenig Anhalt bot, konnte die Sage um so freier damit schalten. Die Persönlichkeit des verborgenen »Alten« wuchs immer mehr ins Riesengroße und zerfloß schließlich zu einer kosmischen Gestalt, die zu den verschiedensten Zeiten auf Erden erschienen sei. Die albernen Spielereien mit der Bezeichnung Laotse (die auch mit »altes Kind« übersetzt werden kann) brauchen in unserem Zusammenhang nicht erwähnt zu werden. –
Aus dieser Spärlichkeit und Unsicherheit der Nachrichten ergibt sich klar, daß wir über das Werk des Laotse wenig Aufschluß gewinnen können aus seiner Lebensgeschichte. Wie alles Geschichtliche, so löst sich auch das Lebensgeschichtliche für den Mystiker auf in wesenlosen Schein. Und doch spricht uns aus den vor uns liegenden Aphorismen eine originale und unnachahmliche Persönlichkeit an, unseres Erachtens der beste Beweis für ihre Geschichtlichkeit. Aber man muß das Gefühl für solche Dinge haben, streiten läßt sich darüber nicht. Schließlich kommt der Frage kein entscheidendes Gewicht zu. Der Taoteking ist jedenfalls vorhanden, einerlei wer ihn geschrieben hat.
Weit mehr als von dem persönlichen Lebensgang des Verfassers ist von seinem Werk in der chinesischen Literatur die Rede. Zum mindesten ein Ausspruch daraus wird in den Gesprächen des Kung erwähnt und kritisiert (Buch XIV, 36, pag. 163). Nun ist ja nicht ausgeschlossen, daß dieser Ausspruch aus weiter zurückliegenden Quellen stammt, die auch unabhängig von Laotse zugänglich waren. Aber wir sind auf diese Bezeugung nicht allein angewiesen. In erster Linie wird man in der taoistischen Literatur nach Zitaten suchen müssen. Und in der Tat fehlt es hier auch nicht daran. Es läßt sich konstatieren, daß von den 81 Abschnitten des Taoteking in den bedeutendsten taoistischen Schriftstellern der vorchristlichen Zeit weitaus der größte Teil sich zitiert findet. So schon in Lië Dsï (herausgegeben im 4. Jahrhundert v. Chr.) 16 Abschnitte. Dschuang Dschou (bekannt als Tschuangtse), der glänzendste Schriftsteller des Taoismus, der im 4. Jahrhundert lebte, hat seine ganzen Ausführungen durchgängig auf die Lehren des Taoteking basiert, so sehr, daß er sich ohne sie nicht denken läßt. Han Fe Dsï, der 230 v. Chr. unter Tsin Schï Huang Di starb, hat in Buch 6 und 7 eine teilweise sehr ausführliche Erklärung von zusammen 22 Abschnitten. Huai Nan Dsï endlich, ein Zeitgenosse Sï Ma Tsiëns (gest. 120) Buch 12 erläutert der Reihe nach, meist durch historische Beispiele, 41 verschiedene Abschnitte. Im ganzen bekommen wir mindestens 3/4 der Abschnitte auf diese Weise bezeugt. Das sind ganz günstige Verhältnisse für ein Werkchen von der Kürze des Taoteking. Es spricht aber auch dafür, daß der Taoteking keine buddhistische Fälschung aus später Zeit ist, es sei denn, daß man ihn auch der großen Fabrik Sï Ma Tsiën Co. entstammen läßt, die entdeckt zu haben Mr. Allen die Ehre hat.
In der Han-Dynastie wenden sich mehrere Kaiser dem Studium des Taoteking zu, so besonders Han Wen Di (197-157 v. Chr.), dessen friedliche und einfache Regierungsart als direkte Frucht der Lehren des alten Weisen bezeichnet wird. Sein Sohn Han Ging Di (156-140) legt endlich dem Buch die Bezeichnung Taoteking (Dao De Ging, d.h. »das klassische Buch vom Sinn und Leben«) bei, die es seither in China behalten hat.
Han Wen Di soll das Buch von Ho Schang Gung (dem »Herrn am Fluß«) erhalten haben, der auch einen Kommentar dazu geschrieben habe. Über die Person dieses Mannes, dessen Namen niemand weiß, ist man sich keineswegs im klaren. Auch chinesische Autoren (allerdings aus späterer Zeit) haben seine Existenz bezweifelt. Doch beginnen von jener Zeit an die Kommentare häufiger zu werden. Im Katalog der Han-Dynastie sind allein drei aufgeführt. Der älteste der zuverlässigen Kommentare, die jetzt noch vorhanden sind, ist der von Wang Bi, dem wunderbar begabten Jüngling, der im Jahr 249 n. Chr. im Alter von 24 Jahren starb. Von da ab häufen sich die Kommentare aller Schattierungen. Selbst der Begründer der gegenwärtigen Dynastie hat unter seinem Namen einen sehr berühmten Kommentar herausgeben lassen. Es würde zu weit führen, hier das Detail aufzählen zu wollen. Daß ein Werk wie der Taoteking in den Stürmen der alten Zeit auch manches zu leiden hatte, so daß der Text keineswegs in glänzendem Zustand ist, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Die Erklärungen zu den einzelnen Abschnitten werden sich genauer damit zu beschäftigen haben. Die Einteilung in Abschnitte ist nicht ursprünglich, nur...