Eine Hand wäscht die andere
Beziehungen zu haben ist ein Schlüssel zum Erfolg. Mehr noch: Wir sind existenziell auf andere Menschen angewiesen, um das Leben zu bestehen. Ob es um Liebe geht oder um Krieg, um die Herstellung von Kühlschränken oder die Veröffentlichung von Gedichten, Menschen müssen zusammenarbeiten, um diese Aufgaben zu bewältigen. Unsere Mitmenschen können uns zudem Rat und Hilfe geben, uns unterstützen, wenn wir in Not sind, wichtige Informationen oder lebensnotwendige Ressourcen mit uns teilen. Das soziale Netzwerk, in dessen Mittelpunkt wir leben, schützt uns vor Isolation und Vereinsamung, fördert unser berufliches und soziales Fortkommen und erfüllt überdies eine Pufferfunktion in Stresssituationen: Je tragfähiger unsere sozialen Beziehungen sind, desto höher ist unsere Lebenserwartung, desto besser ist unser Gesundheitszustand, desto eher erholen wir uns von Krankheiten und Krisen, und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, seelisch zu erkranken.
Verbindliche Beziehungen werden geknüpft, indem man einander Dienste und Gefälligkeiten erweist. Durch wechselseitiges Geben und Nehmen entstehen Bindungen, auf die der Einzelne im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Dabei erfordert jede Leistung eine Gegenleistung. Wer nimmt, der geht damit die Verpflichtung ein, bei nächster Gelegenheit zu geben – wobei der Wert der einen Leistung in etwa dem Wert der anderen entsprechen soll. Eine Einladung beispielsweise erfordert eine Gegeneinladung, und wenn ihnen jemand dabei behilflich gewesen ist, einen Job zu finden, so hat er ein Anrecht darauf, dass Sie ihm auch seinen Weg ebnen, falls dies einmal nötig sein sollte. Nicht immer erfolgt die Rückzahlung in derselben Währung: Ein Kochrezept kann gegen Petersilie aus dem Gemüsegarten getauscht werden, die Vermittlung eines zuverlässigen Handwerkers gegen die Adresse eines guten Tierarztes, die Bereitschaft, zuzuhören, kann mit der Bereitschaft abgegolten werden, als Babysitter einzuspringen. Der kooperative Modus funktioniert also nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, und Menschen sind mit der Fähigkeit ausgestattet, Schuld- und Verdienstkonten für jede einzelne ihrer sozialen Beziehungen zu führen und auf eine ausgeglichene Bilanz zu achten: unser Sinn für Fairness und Gerechtigkeit.
Kooperation oder reziproker Altruismus sind auch im Tierreich bekannt. Da sind zum Beispiel die Vampirfledermäuse. Sie tragen ihren Namen, weil sie vom Blut anderer Tiere leben. Tagsüber verstecken sie sich und nachts saugen sie das Blut von Rindern und Pferden. Nicht immer sind sie dabei erfolgreich. Vor allem die jüngeren, unerfahrenen Fledermäuse gehen bisweilen leer aus. Das ist deshalb dramatisch, weil Vampirfledermäuse nur drei Tage ohne Nahrung überleben können. Dennoch kommt es selten zum Tod durch Verhungern, weil die Vampirfledermäuse sich gegenseitig helfen. Der Biologe G. S. Wilkinson entdeckte, dass die Fledermäuse regelmäßig einen Teil des Blutes, das sie gesaugt haben, wieder von sich geben und an die erfolglosen Jäger ihrer Kolonie abtreten. Dies geschieht aber nicht willkürlich. Die Fledermäuse spenden Blut nur denjenigen, mit denen sie in der Vergangenheit viel zusammen gewesen waren und die ihnen ebenfalls Blut abgaben, wenn es erforderlich war.
Kooperatives Verhalten zahlt sich nämlich nur aus, wenn auch der andere kooperativ ist. Wenn jemand sich Vorteile verschafft, die Gegenleistung aber schuldig bleibt, dann hat der Geber das Nachsehen. Da der wechselseitige Austausch in den meisten Fällen nicht gleichzeitig stattfindet, ist Kooperation anfällig für Betrug. Wenn ich Ihnen heute einen Gefallen erweise, muss ich darauf vertrauen, dass Sie mir diesen Gefallen irgendwann in Zukunft erwidern. Helfe ich Ihnen in Zeiten der Not, muss ich darauf vertrauen, dass Sie mir später ebenfalls helfen. Falls Sie mir dann jedoch Ihre Hilfeleistung verweigern, war meine Hilfsbereitschaft umsonst oder hat unter Umständen sogar meine eigenen Lebenschancen beeinträchtigt. Es gehört deshalb zur mentalen Ausstattung des Menschen (wie auch beispielsweise der Vampirfledermäuse), das Betrugsrisiko abzuschätzen: die Wahrscheinlichkeit, etwas zurückzubekommen, ist umso größer, je länger man sich kennt und je weiter in die Zukunft hinein eine Beziehung angelegt ist. Einem Freund Geld zu leihen, mit dem man vermutlich auch viele Jahre später noch Kontakt haben wird, ist weitaus weniger riskant als einem Fremden, dem man vielleicht nie wieder begegnen wird.
Wahre Nächstenliebe, so haben wir gelernt, erwartet keine Gegenleistung. Doch wer wahrhaft selbstlos ist, macht sich zum Objekt der Ausbeutung durch andere. Um dies zu verhindern, hat uns die Natur nach Ansicht des Evolutionsbiologen Robert Trivers mit der Fähigkeit ausgestattet, bei mangelnder Gegenseitigkeit moralische Entrüstung zu empfinden. Der Ärger über eine ausgebliebene Gegenleistung hindert einen kooperativen Menschen daran, einem Empfänger, der sich als unwürdig erwiesen hat, weiterhin entgegenzukommen. Gleichzeitig dient der Ärger dazu, den anderen zu größerer Kooperationsbereitschaft zu ‹erziehen›. Wir leben in einer sozialen Welt, in der unser Ruf darüber entscheidet, ob andere sich mit uns befreunden oder ob sie uns meiden. Wer als jemand gilt, der andere ausnützt, riskiert, seine Reputation als guter Kooperationspartner zu verlieren und beim nächsten Mal übergangen oder sogar ausgeschlossen zu werden.
Auch Tiere können sich moralisch entrüsten. Vor allem unter Menschenaffen und ganz besonders unter Schimpansen und Bonobos gehört wechselseitiges Geben und Nehmen zu den herausragenden Kennzeichen ihres Soziallebens. Dabei müssen die ausgetauschten Güter nicht unbedingt die gleichen sein: Nahrung kann gegen Nahrung, aber auch gegen Dienstleistungen wie Fußpflege oder gegen Sex getauscht werden. Wenn eine Gruppe von Schimpansen sich Nahrung teilt, dann geht es in der Regel friedlich zu. Nur gelegentlich kommt es zu einem aggressiven Schlagabtausch. Opfer der Aggression sind jene Schimpansen, die in der Vergangenheit wenig von ihrem Futter abzugeben bereit waren. Wenn die offensichtlich erwartete Gegenleistung für großzügiges Teilen ausbleibt, dann neigen Schimpansen zu Strafmaßnahmen – häufig erst nach langen persönlichen Erfahrungen mit einem Mitglied ihrer Gruppe. Auch wir kennen alle den Schnorrer, der, immer wenn es ans Bezahlen der gemeinsamen Mahlzeit geht, gerade kein Geld dabeihat. Einmal lassen wir es ihm durchgehen. Vielleicht sind wir sogar noch ein zweites Mal spendabel – aber dann machen wir unserem Ärger Luft oder verzichten auf die Gesellschaft des Schnorrers.
Wie du mir, so ich dir
Das Problem des reziproken Altruismus ist von dem Mathematiker Robert Axelrod und dem Evolutionsbiologen William D. Hamilton spieltheoretisch analysiert worden. Spieltheorie ist eine abstrakte Form, strategisches Denken im stark vereinfachten Rahmen eines Spiels darzustellen. Eines der bekanntesten dieser Spiele heißt das «Gefangenen-Dilemma». Es ist ein Spiel mit zwei Spielern, von denen jeder zwei Entscheidungsmöglichkeiten hat, nämlich zu kooperieren oder nicht zu kooperieren. Jeder muss seine Wahl treffen, ohne zu wissen, wie der andere sich verhalten wird. Das Dilemma liegt darin, dass es für jeden Spieler vorteilhafter ist, eine egoistische Strategie zu verfolgen, also nicht zu kooperieren, dass es jedoch für jeden Spieler ungünstiger ist, wenn beide sich egoistisch statt kooperativ verhalten. Die Situation wird folgendermaßen verdeutlicht: Zwei Gefangene werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Die Höchststrafe für das Verbrechen beträgt fünf Jahre. Der Richter macht jedem der beiden Gefangenen das Angebot, straffrei davonzukommen, falls er gesteht und damit den anderen belastet. Falls beide schweigen, erhalten beide aufgrund von Indizienbeweisen eine Strafe von zwei Jahren, falls beide gestehen, eine Strafe von fünf Jahren. Die beiden Gefangenen sind voneinander isoliert und können sich deshalb nicht über ihr Vorgehen abstimmen. Jeder von ihnen hat zwei Möglichkeiten: zu schweigen oder zu gestehen, also (aus der Sicht des jeweils anderen Gefangenen) zu kooperieren und sich damit eine Haftstrafe von zwei Jahren einzuhandeln, oder den anderen zu verraten und damit im besten Fall ohne Strafe davonzukommen. Wenn die Gefangenen sich gegenseitig verraten, so ist der Ausgang denkbar ungünstig: Beide müssen fünf Jahre lang im Gefängnis sitzen.
Wenn dieses Spiel über wenige Runden gespielt wird, so erweist sich die egoistische Strategie, also Verrat, als vorteilhaft, vor allem dann, wenn der Gegenspieler kooperiert. Rücksichtslosigkeit führt zum Erfolg. Das Gegenstück zur Strategie der bedingungslosen Durchsetzung eigener Interessen ist die unbedingte Kooperation. Falls der Mitspieler ebenfalls kooperationsbereit ist, ist diese Strategie durchaus erwägenswert, weil sie das Risiko herabsetzt, fünf Jahre eingesperrt zu werden, und moralisch gesehen Pluspunkte bringt. Es besteht jedoch die Gefahr der Ausbeutung, falls der Partner die aggressive Strategie anwendet.
Nehmen Sie, übertragen auf eine Alltagssituation, beispielsweise eine Wohngemeinschaft. Da haben sich zwei, drei oder mehr Menschen in einer Wohnung zusammengetan, was ein gewisses Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft erfordert. Im Gegensatz zur Familie, die hierarchisch strukturiert ist, sind Rechte und Pflichten auf die Mitglieder einer Wohngemeinschaft theoretisch gleich verteilt. In der Praxis kommt es jedoch immer wieder vor, dass...