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E-Book

Taubentürme

Wie ich in Frankreich mein Zuhause fand

AutorBettina von Arnim
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl354 Seiten
ISBN9783105614938
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Bettina von Arnim beschreibt die Suche nach ihrem eigenen Weg. Sie muss sich befreien vom großen Namen der Ahnin, der «wie ein zu weiter Mantel» um sie liegt. Von Berlin, wo sie an der Hochschule für Bildende Künste studiert, kommt sie nach Paris. Als sie eines Tages im Süden Frankreichs das Haus mit den Taubentürmen entdeckt, weiß sie: dieses Haus wird sie kaufen, auch wenn sie kein Geld hat, in diesem Haus wird sie eines Tages wohnen. Langsam wird die Ruine aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt ... Das stimmungsvoll und sensibel gezeichnete autobiografische Bild einer Frau, die sich einen Ort erschafft, wo beides Platz hat: ihre ganz eigene unverwechselbare Persönlichkeit und Kunst und die Träume ihrer Kindheit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Bettina von Arnim, 1940 in Zernikow/Mark Brandenburg geboren. Flucht mit der Mutter in den Westen. Studium der Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Schöneberg und an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Während der Pariser Zeit abenteuerlicher Erwerb einer Ruine mit Taubentürmen in Südwest-Frankreich. 1965-1975 wieder in Berlin. Gründungsmitglied der Künstlergruppe «Kritischer Realismus»; seit 1972 Mitglied des deutschen Künstlerbundes. Zahlreiche Einzelausstellungen. Bettina von Arnim lebt heute in Frankreich.

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Leseprobe

I Berlin


In der Malklasse von Fritz Kuhr


Am Eingang der West-Berliner Kunsthochschule saß der Pförtner in einem gläsernen Kasten. Niemand, der in das Gebäude hinein- oder hinausging, kam unbemerkt an ihm vorbei. Im Mai 1960 war ich Studentin des ersten Semesters und erschien brav und pünktlich, als ginge ich noch ins Gymnasium, um acht Uhr morgens vor der Pförtnerloge. So früh war noch kein Student und schon gar kein Professor zu sehen, um diese Uhrzeit wurde nur die Post gebracht, ein Stapel, den der Pförtner dann sorgfältig in einen hölzernen Wandkasten alphabetisch einordnete.

«Halt!», rief er, ging vom Holzkasten in seine Glaskiste zurück, öffnete eine gläserne Klappe, durch die er mir ein großes, braunes Kuvert hinhielt, das an «Bettina Brentano» adressiert war. Das habe wohl etwas mit dem Außenminister von Brentano zu tun, aber doch nicht mit mir, meinte ich und wollte weitergehen. Dann solle ich ihm doch wenigstens sagen, ob er die Post unter A oder B einordnen solle. «Warum nicht gleich unter V?», schlug ich vor, weil es schon öfter vorgekommen war, dass mir Post oder Gepäck nach langem Warten unter A schließlich erst unter V wie «Von Arnim» ausgehändigt wurde. «Besser noch unter Z wie Zernikow», sagte der Pförtner zu meinem Erstaunen.

Zernikow, mein Geburtsort, das Haus meiner Wunschträume und frühen Kindheitserinnerungen, in der Nähe von Berlin gelegen und dennoch unerreichbar und fast vergessen, wie auf einer weißen Landkarte auf verbotenem Gebiet, als läge der Ort hinter gläsernen Panzerplatten.

«Den Brief gebe ich Ihnen erst, wenn Sie mir drei Fragen richtig beantworten», sagte der Pförtner. Gut, ich war gespannt.

«Erste Frage: Wie kam der große Findling vor die Zernikower Kirche?»

«Der Teufel hat ihn dorthin geworfen, die Kirche aber hat er nicht getroffen. Seine Fingerabdrücke sind noch im Stein zu erkennen.»

«Zweite Frage: Welche ist die älteste der Zernikower Alleen?»

«Die Maulbeerallee. Fredersdorff, der Kämmerer des Alten Fritz, ließ sie für die Seidenraupenzucht anpflanzen.»

«Auch richtig. Nun die dritte Frage: Welche Position hatte der Baron auf dem Fußballfeld?»

«Links außen.»

Der Pförtner kam aus seinem gläsernen Kasten heraus. «Mein Name ist Zieske», stellte er sich vor und fügte mit Tränen in den Augen hinzu: «Mit Ihrem Vater zusammen habe ich in Zernikow Fußball gespielt, das waren schöne Zeiten!» Außerhalb seines gläsernen Kastens, an dem er sich abstützte, war zu sehen, dass Herr Zieske nur einen Schuh trug, unter dem anderen Hosenbein steckte ein schwarzer Gummipfropfen. Er sagte, in Zernikow habe er in der Forstwirtschaft gearbeitet. «Ein guter Chef, richtig kameradschaftlich war Ihr Vater, außerdem ein großer Land- und Forstwirt. Dann wurde ich aber als Soldat eingezogen.» Er blickte an sich herunter und fragte, ob mein Vater noch lebe. Nein, er sei im Frühjahr 1945, als er mit Zernikowern und den französischen Kriegsgefangenen noch das Saatgut unter die Erde bringen wollte, weil er eine Hungersnot voraussah, als «Junker» denunziert, von den Sowjets festgenommen und nach Russland abtransportiert worden. Im darauf folgenden Januar war er dort in einem Lager an Hunger und Kälte gestorben. Bei diesem Kurzbericht kamen auch mir die Tränen, ich konzentrierte mich darauf, sie zu unterdrücken, und vergaß den Briefumschlag mit der kuriosen Adressierung.

Herr Zieske, wieder ganz Pförtner, überreichte mir den Umschlag mit offizieller Miene. In den folgenden Monaten begrüßten wir uns am Eingang zur Hochschule freundlich, fragten manchmal, wie es ginge, über Vergangenes und Zernikow sprachen wir jedoch nicht mehr. Diese Verschlossenheit, zumal in Gegenwart anderer, war mir nur recht, denn ich empfand es als unangenehm, mit diesem anspruchsvollen Namen herumzulaufen, als steckte ich in einem zu weiten Mantel. (Dass wahrscheinlich mein Familienname mit dem Mädchennamen meiner Urahnin verwechselt worden war, hatte ich deshalb auch nicht zur Kenntnis nehmen mögen.)

Was in dem geheimnisvollen Briefumschlag steckte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht handelte es sich um eine Ermahnung, an den unbeliebten Fächern Methodik und Pädagogik regelmäßig teilzunehmen, um etwas ganz Banales. Dazu fällt mir die ungewöhnliche Sammlerleidenschaft eines Schriftstellers ein, der Antworten von Menschen sammelte, die nicht mehr lebten.

Meine Tante, die Malerin Bettina Encke-von Arnim, älteste Schwester meines Vaters, erzählte mir einmal, sie habe einen Brief des israelischen Schriftstellers Ben Garchem erhalten, in dem aber nichts weiter gestanden habe als die Frage, ob der Brief denn angekommen sei. Das Kuvert sei an «Bettina von Arnim, Wiepersdorf über Dahme/Mark» adressiert gewesen, also an die Adresse der Dichterin der Romantik, die Urgroßmutter meiner Tante. Aus Wiepersdorf war meine Tante 1947 vertrieben worden, so dass der Brief mit dem Vermerk «Verzogen nach Überlingen/Bodensee» erst ein Jahr nach dem Datum des israelischen Poststempels bei ihr eintraf. Verwundert über diese merkwürdige Post habe sie dem Schriftsteller geantwortet. Dieser wiederum habe ihr eine freundliche Erklärung geschrieben: Er schicke solche Briefe an die ursprünglichen Adressen von Persönlichkeiten der Vergangenheit, die er verehre. Er sammle alles, was ihm zurückgeschickt würde, auch die vielen Umschläge mit dem Vermerk «Unbekannt/Verzogen». Besonders freue er sich, wenn er tatsächlich eine Antwort erhalte, wie dieses Mal.

 

An der Hochschule für bildende Künste, Abteilung Kunstpädagogik, in der Grunewaldstraße studierte ich seit kurzer Zeit in der Mal- und Zeichenklasse von Fritz Kuhr. Von meiner Tante, die mit Fritz Kuhr befreundet war, wusste ich, dass er als «entarteter Künstler» verfemt, in Wiepersdorf bei meiner Großmutter Agnes von Arnim, der «Erdbeeroma», Zuflucht gefunden hatte. Ein Brief mit seinem Absender hatte mich noch in der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall überrascht.

Nach dem Abitur hatte ich in diesem Krankenhaus als freiwillige Schwesternhilfe für Kost und Logis gearbeitet, wusste ich doch nicht, wohin, noch wovon leben. Auf gut Glück hatte ich vorher meine Bewerbung und eine Mappe mit Aquarellen und Zeichnungen nach Berlin geschickt.

Im Krankenhaus begann der Dienst bereits um sechs Uhr morgens. Geweckt wurde um fünf Uhr zum Frühgebet, als hätten wir jungen Mädchen Nonnen werden wollen. In der Meinung, Kunst könne nicht helfen und nichts bewirken, wollte ich Ärztin werden, um einmal Leiden mindern zu können. Nach mehreren Wochen im «Diak», als ich wieder einmal den täglichen Gang auf den langen Fluren zum Tablettenverteilen antrat, winkte mir die Oberschwester der HNO-Abteilung mit einem Brief zu und rief, als ob sie sich für mich freue: «Schweschderle Bedina, da habet Sie einen Brief von einem Professor aus Berlin!»

Professor Kuhr schrieb, die Prüfungskommission habe nach Durchsicht der Mappe meinen Antrag auf das Studium an der Kunsthochschule angenommen. Daraufhin habe er darum gebeten, dass ich seiner Malklasse zugeteilt würde, denn er habe meinem Vater viel zu verdanken.

Mein Herz schlug höher, und ich tanzte nur so mit dem Tablett und dem Brief durch die Flure.

 

Das Atelier der «Kuhr-Klasse» lag im dritten Stock unter dem Dach. Von den großen Nordfenstern aus sah man in den Kleistpark hinunter, rechts auf die Kupferdächer der Kleistkolonnaden und links, weiter entfernt, auf das Kontrollratsgebäude, vor dem vier hohe Fahnenmasten standen. Tagte der Kontrollrat, waren alle vier Fahnen der Besatzungsmächte hochgezogen. An normalen Tagen wehte die amerikanische, englische, französische oder sowjetische Fahne, je nachdem, welche Vertretung gerade in dem Gebäude Wache hielt.

Eines Sommerabends, während einer Feier im Kuhr-Atelier, wurde eine Wette abgeschlossen: Wem es gelänge, eines der Bronzepferde im Kleistpark zu besteigen und darauf zu sitzen, der bekäme eine Flasche Rotwein. Zum Glück war gerade die französische Fahne gehisst, unter den Augen der Sowjets hätten wir die Kletterpartie nicht gewagt. Von unten aus gesehen waren die Pferde wesentlich höher als von oben geschätzt. Mit großer Anstrengung gelang es mir, mich an einem überdimensionalen Steigbügel hochzuziehen. Die Weinflasche wurde gleich nachgereicht.

Diese Begebenheit trug sich erst gegen Ende des ersten Semesters zu, vorher hätten wir Neuankömmlinge nicht den Mut zu solchem Unfug gehabt.

Frisch vom Gymnasium an die Kunsthochschule gekommen, waren wir noch voller Respekt und Bewunderung für die «Großen». Besonders einschüchternd wirkten zwei Studenten höheren Semesters, die das Privileg hatten, hinter dem großen Gemeinschaftsatelier ein kleineres für sich zu haben. Sie malten zwar nur in der «Knochenkammer», in dem Abstellraum für Gipsmodelle und Skelette, dafür aber umso größere und starkfarbigere Bilder. Was wir malten, betrachteten sie herablassend und drückten ihre Zigaretten einfach auf dem Fußboden aus. Meine Bewunderung für die beiden, Petrick und Baehr, ließ nach, als ich merkte, dass man vor ihnen seine kostbaren Farben gut wegschließen musste.

Schon von weitem war Professor Fritz Kuhr an seinem schlurfenden Gang und seinem ständigen Begleiter, dem weißen Spitzhündchen Pucki, zu erkennen, wenn er morgens aus dem Bus stieg und die Hochschule betrat. Meist schloss er sich erst einmal in seinem Privatatelier ein, bevor er zu Korrekturen beim Aktzeichnen und zu Gesprächen zu uns herüberkam. Einmal erzählte er, seine schlechte Gehweise sei die Folge einer Hungersnot. Nachdem das staatliche Bauhaus in Weimar 1926 geschlossen und in Dessau...

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