Vergessenes Kulturerbe
Was verraten uns mysteriöse Zeichen und farbenfrohe Symbole, die Menschen der Eiszeit an Höhlenwände pinselten, die aussehen, als wären es Bilder von Picasso? Das globale Phänomen ist besonders in der Region Südeuropas verbreitet. Die ältesten Kunstwerke sind 36.000 Jahre alt. In der 1994 entdeckten Chauvet-Grotte, nahe der südfranzösischen Kleinstadt Vallon-Pont-d’Arc, befinden sich die spektakulärsten Bildmotive.
Während der eiszeitlichen Periode kam es zu genialen Erneuerungen: erstaunlich genaue Mondkalender, ausgeklügelte Zahlensysteme, perfekte Musikinstrumente, raffinierte Werkzeuge und vollplastische Statuetten wie die berühmten Venusfigurinen sind nur einige der vielen großartigen Errungenschafen. Doch woher kam der »göttliche Funke«, der den Wendepunkt in den altsteinzeitlichen Kulturen bedeutete? Wir wissen es nicht. Belegt ist aber, dass bereits viele Jahrtausende früher rätselhafte Felszeichnungen im freien Gelände entstanden sind, die geritzte, gehauene oder gemalte Petroglyphen enthalten. Manchmal lassen sich diese Markierungen auf tierischen Überresten finden, so etwa auf Knochen, Muscheln oder Schnecken. Die ältesten anerkannten Ornamente stammen aus der südafrikanischen Blombos-Höhle (vor 75.000 Jahren) und der Skhul-Höhle (vor 100.000 Jahren) in Israel. Die Entdeckungen belegen, dass bereits in grauer Vorzeit die abstrakte Ausdruckskraft hoch entwickelt war. Die Zeichen sind keinesfalls zufällig entstanden, sondern folgen einem strengen Schema.
Wie sind die meist als »primitiv« bezeichneten Symbole zu interpretieren? Die Fachwelt konnte bislang keine allgemeingültige These dazu anbieten. Wurden sie als Beschäftigungstherapie oder aus Langeweile geschaffen? Haben die prähistorischen Wunder lediglich Dekorationscharakter und sind Ausdruck natürlicher Triebe? Stehen die Zeichen und Bilder in Beziehung zu schamanistischem Jagdzauber und übernatürlichen Vorstellungen? Waren es Beschwörungsformeln, entstanden in Trance? Oder haben wir es mit magischen Bildern für Initialriten zu tun? In Bezug auf große Höhlengemälde mag diese Überlegung vielleicht zutreffen. Was aber ist von den vielen kleinen geometrischen Mustern zu halten? Sie sind häufig eher unscheinbar neben Darstellungen von Tieren, seltener neben Menschen und Mischwesen verewigt worden, darunter Halbkreise, gerade Linien, Zickzacklinien, Kreuze, Pfeile, Spiralen oder einfache Punkte in abwechselnder Vielfalt. Originell sind gerade Linien mit einer aufgesetzten Kuppel, die in unterschiedlicher Größe und Anordnung wie fliegende Untertassen zwischen Tierbildern zu schweben scheinen. Am Deckengewölbe der Grotte von Altamira und anderen nordspanischen Höhlen sind diese »UFO-Bilder« besonders zahlreich angebracht worden. Ein anderes häufig wiederkehrendes Motiv sind Handzeichen mit unterschiedlicher Fingeranzahl.
Versuche einer ersten Sprachfixierung? Vorstufen der Schrift? Prähistoriker können das nicht so recht glauben, hieße es doch, dass der Beginn der »kreativen Explosion«, der den Aufstieg zur Zivilisation ermöglichte, Zehntausende Jahre weiter in die Vergangenheit zurückverlegt werden müsste. Und doch spricht vieles dafür, dass den Markierungen ein logisches Informationssystem zugrunde liegt, das dem Gebrauch von Schrift ziemlich nahe kommt. Diese Theorie fand neue Unterstützung durch ein Projekt der kanadischen University of Victoria in British Columbia. Die Altsteinzeit-Forscherinnen Genevive von Petzinger und April Nowell legten 2010 eine Studie vor, die sämtliche sonderbare Zeichen von 146 französischen Fundstätten in einer Datenbank miteinander verglichen hat. Die Entstehung der Steinzeit-Graffitis umfasst das Zeitfenster zwischen 35.000 bis 10.000 Jahren v. Chr.
Die Überraschung: 26 Zeichen, alle im selben Stil gemalt, erscheinen immer wieder an verschiedenen Kultplätzen. Eine neue Einsicht, die gar nicht so neu ist. Schon in den 1960er- und 1970er-Jahren hatten Mysterienforscher wie Marcel Homet, Erich von Däniken, Peter Kolosimo oder Robert Charraux darauf aufmerksam gemacht. Die Querdenker wurden von der etablierten Gelehrtenwelt ignoriert und belächelt. Nun wird die These eines geschriebenen Höhlen-Codes auch vermehrt in akademischen Archäologenkreisen diskutiert. Offenbar haben Eiszeitkünstler eine Bildsprache entwickelt und genutzt, die allen prähistorischen Stämmen im heutigen Frankreich (und wahrscheinlich ebenso in noch weiter entfernt liegenden Gebieten) verständlich war.
Manche Bildwerke sind paarweise angebracht, was wiederum als Indiz für eine frühe piktografische Schrift angesehen werden kann. Von Petzinger und Nowell wiesen überdies darauf hin, dass weltweit auf Felswänden identische Merkmale zu finden sind, allerdings sind diejenigen in Europa die ältesten.
Es gibt noch andere ungeklärte Indizien, die für eine Höhlenschrift – Jahrtausende vor der eigentlichen Erfindung der Schrift – sprechen. Dazu zählen Kieselsteine aus der südfranzösischen Höhle von Mas d’Azil. Sie sind mit farbigen Punkten und geometrischen Linien bemalt, die verblüffend an Buchstaben des phönizischen, griechischen und lateinischen Alphabets erinnern. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Kieselsymbole entstanden vor 14.000 Jahren. Solche Kalksteinplättchen wurden inzwischen an vielen europäischen Orten entdeckt, in Birseck bei Basel in der Schweiz genauso wie in der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg oder in der Klausenhöhle in Bayern.
Die skurrilsten Funde stammen aus der La Marche-Höhle in Südfrankreich: Hunderte gravierte Kalksteintäfelchen mit Karikaturen von Menschen und Tieren! Wie es vor rund 16.000 Jahren möglich war, dass jemand diese Porträtgalerie auf Stein bannen konnte, ist ein ungelöstes Rätsel. In Fachkreisen schwebt deshalb der Fälschervorwurf im Raum. Damit sind Wissenschaftler immer schnell bei der Hand, wenn außergewöhnliche Artefakte nicht ins vertraute Schema passen wollen. Der Archäologe Nicolas Mélard ist dennoch von der Echtheit der komischen Relikte überzeugt. Er hat sie jahrelang untersucht und versichert: »Sie sind hundertprozentig keine Fälschung, auch wenn einige Stücke sehr überraschende Motive aufweisen.«
Eine andere anonyme Hinterlassenschaft ist in der Höhle von La Pasiega im nordspanischen Kantabrien erhalten. Die 400 Meter lange Grotte ist in vier Abschnitte unterteilt, die aufgrund ungleicher Bildmotive jeweils eine unterschiedliche Funktion gehabt haben dürften. Die für die Öffentlichkeit gesperrte Höhle besitzt die meisten Malereien der iberischen Halbinsel. Neben 291 Tierzeichnungen und 134 anderen figürlichen Motiven gibt es jede Menge unverstandener Symbole und Markierungen, die bildschriftliche Eigenarten aufweisen, besonders deutlich auf der linken Seite einer Felswand, wo sich der Durchgang zur Haupthöhle verengt. Die komplexe Anordnung der Zeichen ist so bestimmend an der Pforte angebracht, dass sie als Warnung für ungebetene Eindringlinge verstanden werden kann. Sinngemäß könnte der Text lauten: »Unbefugten ist der Zutritt in den heiligen Bezirk verboten!«
Ob die »Inschrift« tatsächlich so »gelesen« werden darf, bleibt freilich Spekulation. Keine noch so kluge Koryphäe, die die Wurzeln der Zivilisation erforscht hat, war vor 14.000 Jahren persönlich dabei, als die Symbole am Zugang zur Grottenpforte aufgemalt wurden.
Beim Betrachten dieser und all der anderen eiszeitlichen Aufzeichnungen drängt sich auch immer wieder der Gedanke auf, dass uns die bunten Bildwerke packende Geschichten erzählen wollen. Der Wunsch, etwas festzuhalten und Ausgesprochenes bewusst in einer bilderschriftähnlichen Form zu fixieren, existierte offenbar schon damals. Warum also sollte die Steinzeitkunst nicht tatsächlich textliche Botschaften enthalten, die dazu geschaffen wurden, erste dauerhafte Informationen an spätere Generationen weiterzugeben? Ob man der These folgen möchte oder nicht, eine Schlüsselfrage provoziert Forscher beharrlich in aller Welt: Was bedeuten die vielen Kerben, Striche, Punkte und Kreise, die scheinbar geplant und durchdacht auf Felswänden angebracht worden sind?
Nun, es bedeutet, dass wir in einer Sackgasse sind. Denn um die Nachrichten aus der Altsteinzeit zu verstehen, müssten wir neben den Bildsymbolen auch das Gesprochene kennen oder einen urzeitlichen Stein von Rosetta besitzen, der uns die unverstandenen Werke dechiffriert. Dazu fehlt aber leider jeder Anhaltspunkt. Die verlorene Symbolwelt und der rituelle Nachlass der Eiszeitsuperhirne bleibt eines der großen ungelösten Rätsel der Menschheit.
Wird es Prähistorikern, Felsbildarchäologen und Sprachforschern irgendwann gelingen, die aufgemalten und eingeritzten Erinnerungen unserer Urahnen zu entschlüsseln? Das ist trotz redlicher Bemühungen nicht sehr wahrscheinlich. Die Problematik des Wissensverlustes und der Sprachlosigkeit ist allgegenwärtig. Verliert ein Volk seine Sprache, ist auch sein kulturelles Erbe bedroht. Was bleibt, sind irgendwann bestenfalls mythologische Erzählungen einer versunkenen Epoche. Selbst wenn Gegenstände oder andere Spuren der Existenz erhalten geblieben sind, nützt das herzlich wenig, wenn wir ihren eigentlichen Sinn nicht begreifen können.
Wissenschaftler schätzen, dass weltweit alle vier Wochen eine Sprache ausstirbt. Das liegt an der Anzahl der Personen, die eine Sprache aktiv sprechen und kann sehr stark abweichen. Fast eine Milliarde Asiaten sprechen Mandarin-Chinesisch. Anders ist die Situation bei Naturvölkern, wo nur mehr ein paar Tausend Einheimische ihre Muttersprache beherrschen. Hier ist das kulturelle Gedächtnis der Ahnen gefährdet. Das wissen auch die Pygmäen im zentralafrikanischen Gabun....