Vorwort
An Theodor Heuss zu erinnern heißt, an die Anfänge der zweiten deutschen Demokratie zurückzukehren, in eine Zeit, in der es alles andere denn gewiss war, ob diesem neuen Staat je ein glücklicher Stern leuchten würde. Die Städte lagen in Trümmern, Zehntausende Flüchtlinge lebten in Lagern, wichtige Teile der Industrie wurden demontiert, und Demokratie war für die Mehrheit der Deutschen damals keineswegs ein positiv besetzter Begriff: Die Erfahrung von Weimar mit seiner Parteienzerrissenheit bestimmte die kollektive Erinnerung, bei einem Teil der Deutschen war die nationalsozialistische Indoktrination gegen alles Demokratische noch virulent, und die wahren Herren über Westdeutschland, die Alliierten Kommissare, thronten hoch über Bonn auf dem Petersberg.
Wenn dieser zweite deutsche Demokratieversuch, allen Schwierigkeiten des Anfangs zum Trotz, schließlich so gut geglückt ist, dass er bis heute den festen institutionellen Rahmen selbst für das vereinte Deutschland gibt und zu einer Epoche der Freiheit führte, wie es sie in der deutschen Geschichte bisher nie gegeben hat, ist dies nicht zuletzt das Verdienst von Theodor Heuss. Er half an entscheidender Stelle mit, das Fundament zu legen, auf dem die deutsche Demokratie bis heute steht. Nach zwei verlorenen Kriegen und der ersten, gescheiterten Republik, nach zwölf Jahren des totalitären Terrors und aufpeitschender Durchhalteparolen erscheint er im Rückblick als die ideale Besetzung des höchsten Amtes der zweiten deutschen Demokratie.
Erstmals stand mit ihm an der Spitze eines deutschen Staates ein klassischer Bildungsbürger mit unerhört großem Fundus, der eine Symbiose von Geist und Macht zu repräsentieren schien, auch wenn von der Machtfülle eines Präsidenten der Weimarer Republik fast nichts geblieben war. Weil Hindenburg die seine zur Berufung Hitlers hatte nutzen können, entschieden die Väter der Verfassung, zu deren wichtigsten ja Theodor Heuss selbst gehörte, dass der künftige Präsident nicht mehr über die besondere Legitimation der Wahl durch das Volk verfügte. Auch über die Richtlinien der Politik hatte er nichts mehr zu sagen – die bestimmte jetzt allein der vom Parlament gewählte Bundeskanzler. Im erheblich geschrumpften Arsenal der politischen Waffen blieb dem neuen Präsidenten vor allem die Rede, aber gerade sie wusste Heuss so überzeugend zu nutzen wie nach ihm bisher nur Richard von Weizsäcker. Heuss wurde zur moralischen Instanz, gab dem neuen Staat Konturen und ein geistiges Gesicht. Er trat ein Amt an, das über keinerlei Tradition verfügte, aber durch sein Amtsverständnis und seine präsidiale Praxis vermochte er eine Tradition zu schaffen, an die sich seine Nachfolger gebunden fühlen. Bis heute ist die politische Kultur der Bundesrepublik nicht zu denken ohne die Akzente, die Theodor Heuss am Anfang setzte.
Dieser Präsident war ein echter Bürger, durch und durch zivil, ein Mann des Maßes, allen Ausschweifungen abgeneigt und mit einfachen Vorlieben ausgestattet: eine gute Brasil und zwei, auch mal drei Viertele Lemberger mussten es für den Schwaben schon sein. Als Bürger wurde er populär in einer Zeit, in der nach Jahren totalitärer Gewaltexzesse und des Chaos die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und ziviler Ordnung dominierte. Und wenn sich bald sein »Bürgerbauch« unter der Weste zu dehnen begann, machte ihn das erst recht zum ersten Repräsentanten im Wirtschaftswunderland. Allem Pomp und großem Zeremoniell abgeneigt, empfand er Etikette oft als Zwang, und nicht immer beugte er sich ihr. Bei Staatsjagden erschien er nicht in grünem Loden, sondern in bürgerlichem Zivil und spazierte in Halbschuhen mit Stock neben den Jägern und ihren Flinten einher. Von Soldaten im Manöver verabschiedete er sich mit seinem berühmten: »Nun siegt mal schön!« – ein Satz, eingegangen in die deutsche Sprichworttruhe. Er predigte nicht nur Demokratie, er lebte sie vor: Stets natürlich bleibend, wurde er mit der Heuss-typischen Mischung von volksnah und behäbig-humorvoll ein Präsident zum Anfassen, ein überall gefragter Fest- und Eröffnungsredner, und mit der bei ihm hochentwickelten Neigung zu Ironie und Selbstironie brachte er seine Popularität selbst auf die Formel: Von München, Kiel bis Neuss – keine Feier ohne Heuss.
Dieser erste Präsident der neu geschaffenen Bundesrepublik war nicht nur bekennender Demokrat, dem schon der Vater die Ideale der Paulskirche und der 1848er-Revolutionäre in die Kinderseele eingepflanzt hatte. Er war ein nicht minder überzeugter Nationaler, nach dessen Verständnis Demokratie und Nation untrennbar zusammengehörten. Einerseits mahnte er in seinen Reden deutsche Selbstläuterung an, forderte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und Mut zur Wahrhaftigkeit. Er erinnerte an das tragische Schicksal der Juden (den Begriff Holocaust gab es noch nicht) und setzte gegen das Wort von der Kollektivschuld das von der Kollektivscham. Andererseits aber hoffte er auf eine Zeit, in der die Deutschen nach moralischer Läuterung wieder Stolz empfinden könnten. Wegen zwölf Jahren nationalsozialistischer Verbrechen wollte er, der Nationale, nicht gleich die ganze deutsche Geschichte verdammt und verleugnet sehen, und so setzte er – gegen den modischen Strom jener, die ein verhängnisvolles Erbe von Luther über Friedrich und Bismarck zu Hitler in der Geschichte walten sahen – die positiven Seiten der »an Größe reichen Geschichte der Deutschen« und ihrer Kultur. Mit diesen beiden Grundpositionen in seinen Reden, dem Mut zur Aufarbeitung der Vergangenheit und der Rückbesinnung auf die positiven Traditionen der deutschen Geschichte, wies er einem Volk, das nach dem Zusammenbruch aller bisherigen Autorität in Rat- und Orientierungslosigkeit verharrte, den Weg zur Demokratie und half, die junge Republik geistig zu fundieren. Er wollte seine Deutschen aus der Schockstarre von 1945 befreien, sie lockern, dafür sorgen, dass sie wieder »normal« würden, und sie »entkrampfen«, wie er dieses Ziel einmal umschrieb.
Theodor Heuss schlägt die Brücke vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in seinem Leben spiegeln sich sieben dramatische Jahrzehnte deutscher Geschichte. Als der »Lotse von Bord« geht, als Bismarck von Wilhelm II. entlassen wird, ist er ein siebenjähriger Knabe, als er sich Friedrich Naumann anschließt, dem Mann, der zwar mehr Demokratie will, aber diesen Kaiser lange idealisiert und bestimmend für Heuss’ Denken wird, ein neunzehn Jahre alter Jüngling. Als Journalist kommentiert er die – vergebliche – Hoffnung auf Reformen und die Parlamentarisierung des wilhelminischen Reichs. Als Anhänger des Werkbunds unterstützt er den Durchbruch zur Moderne in Architektur und Kunst, und seine Ehe mit Elly Knapp trägt für die damalige Zeit unerhört aufgeklärt-moderne Züge, auch wenn es eine Moderne ist, die sich, wie alles bei Heuss, stets in angemessenen bürgerlichen Formen vollzieht. Als Journalist und später als Parlamentarier erlebt er Aufstieg und Niedergang der Weimarer Republik, die Nationalsozialisten stellen nach ihrer Machtübernahme zwei seiner Bücher an den Pranger des »undeutschen Geistes«, Heuss erhält als Hochschullehrer Berufsverbot und geht in die innere Emigration. Nach dem Krieg beginnt dann unverhofft die zweite Karriere, die vom Zeitungsherausgeber über den Kultminister (wie man den Kultusminister im Ländle nannte) von Nord Württemberg-Baden und den Parlamentarischen Rat schließlich in die Villa Hammerschmidt führt. Sein demokratisch-politisches wie persönliches Leben kennt, all dem zeitbedingten und dramatischen Auf und Ab zum Trotz, keine Brüche – fast jedenfalls.
Fast, denn da gibt es jene Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, von der Heuss sagt, er habe schon während der Abstimmung gewusst, dass er »dieses ›Ja‹ nie mehr aus seiner Lebensgeschichte auslöschen« könne. Unter welchem Druck die winzige Gruppe der fünf linksdemokratischen Abgeordneten bei dieser Abstimmung stand, dass der Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss es ursprünglich nicht befürworten, sondern sich der Stimme enthalten wollte – davon wird ausführlich zu handeln sein. Aber dass dieses Ja, welches die Grundrechte außer Kraft setzen half und der Regierung Hitler den Freibrief erteilte, Gesetze ganz nach ihrem Belieben ohne parlamentarische Zustimmung zu erlassen, eine Erzsünde war, deren er sich schuldig gemacht hatte – dieses Gefühl hat den Demokraten Heuss nie verlassen, auch wenn er nach dem Krieg versuchte, die Auswirkungen des Gesetzes und damit auch sein eigenes Votum nach Kräften herunterzuspielen.
Konnte ein Mann, der an der Zerstörung der demokratischen Strukturen der Weimarer Verfassung mitgewirkt hatte, dem Aufbruch zu einem demokratischen Neubeginn glaubhaft präsidieren? Würde ein Ja-Sager vom 23. März 1933 als erster Mann im Staat nicht ein Schönheitsfehler sein, musste er nicht den ganzen Neubeginn belasten, ja ihn unglaubwürdig machen? Hätte die heutige Generation das Sagen gehabt, als es darum ging, im Jahr 1949 einen Präsidenten zu wählen – eine Generation, die aus der Distanz von Jahrzehnten härter, ja gnadenlos urteilt –, Theodor Heuss wäre nie Staatsoberhaupt der jungen Republik geworden.
Wenn er dennoch der ideale Präsident der ersten Stunde gewesen ist, dann gilt das trotz seiner Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. Wie wir sehen werden, war der Bürger Heuss frei von vielen, vielleicht den meisten, aber keineswegs frei von allen politischen Irrtümern des deutschen Bürgertums. In einem Volk, das in seiner großen Mehrheit Hitlers außenpolitische Erfolge bis 1939 und den Sieg über Frankreich bejubelt hatte und das sich nach dem...