II. DIE TEXTE
DAS PRAGER MANIFEST
(erweiterte Fassung)
Angesichts der Frage nach Theologie und Zielsetzung Thomas Müntzers gehört das von ihm in vier Fassungen entworfene „Prager Manifest“ zu den ersten und wichtigsten Dokumenten, die wir seiner Feder verdanken. Es zeigt die „eigenartige Verbindung von mystischem Spiritualismus45 und Apokalyptik“ (Gottfried Seebaß). Damit sind die beiden Sichtweisen, deren sich Müntzer bediente, um seine Botschaft auszurichten, benannt. Er richtete seinen Blick sowohl nach innen wie nach vorne, nämlich auf die Christusankunft und die große Wende, wie sie namentlich im 16. Jahrhundert von vielen erhofft und angekündigt wurde. Darunter ist zum einen die Hervorhebung des auf innere, mystische Erfahrung gegründeten Erfasstwerdens vom Heiligen Geist zu verstehen. Zum andern ist sich der Verfasser des Manifests bewusst, dass die Zeit drängt und dass, von Gott geoffenbart, das Ende aller Dinge mit dem Anbruch einer neuen Welt in der Gestalt einer grundlegenden Reformation unmittelbar bevorstehe. Gelegentlich wird von ihm die prophetische Botschaft von Joachim von Fiore (gest. 1202) aufgerufen. Daher sein Drängen, daher auch seine in Wort und Schrift sich artikulierende Ungeduld angesichts des Bevorstehenden. Bewusst ist er sich ferner, dass der böhmische Theologe und Kirchenkritiker Johannes Hus ein Jahrhundert vor ihm die zu erwartende Wende46 bereits eingeleitet und durch seinen Märtyrertod während des Konzils von Konstanz (1415) besiegelt hat. Seiner, der Lebensspur von Hus, versucht Müntzer zu folgen. Nun aber sei es eine Sache, die der Stolberger Prediger der ganzen böhmischen Nation darzustellen und seinen Freunden ans Herz zu legen hat. Das Prager Manifest nimmt darauf Bezug.
Luther und mit ihm die ihm verbundenen Wittenberger Theologen bleiben in dieser Verlautbarung Müntzers so gut wie unerwähnt, zumal er sich nun selbst als der maßgebliche, neue Akzente setzende Reformator versteht. Dennoch gilt er auch noch während seines nur über wenige Monate sich erstreckenden Aufenthalts in Prag für die Hiesigen unter den Hussiten als ein „Martinianer“ und empfiehlt sich damit als einer ihrer Gesinnungsfreunde. Als ein solcher, das heißt als ein Geistesverwandter sowohl der Hussiten als auch der Luther-Bewegung, wird er zumindest anfangs an Ort und Stelle Anerkennung und gegebenenfalls wohl auch die erforderliche Unterstützung erhalten haben. Wenn der Autor des Manifests schließlich werbend von der Reformation spricht, die ihm am Herzen liegt, dann meint er nicht allein eine theologische Lehre, die sich zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt. Er meint hier und immer wieder das heute im menschlichen Seelengrund vernehmbare, als ein Geistesereignis zu ergreifende Gotteswort, das nunmehr die „Sache der Böhmen“ werden solle. Er meint somit vor allem keinen stummen, sondern einen in jedem Menschen redenden; er meint einen jeden anredenden Gott. Das bringt er am Schluss zum Ausdruck. Diesem Gott leiht er nun seine Stimme, und zwar seiner Meinung nach anders als Luther. Es handelt sich um:
Der Böhmen Sache betreffende Protestation
Ich, Thomas Müntzer, gebürtig von Stolberg, [derzeit] mit Wesen zu Prag, der Stadt des teuren und heiligen Kämpfers Johannes Hus, gedenke: Die lauten und beweglichen Trompeten erfüllen [diesen Ort] mit dem Lobgesang des Heiligen Geistes.
Zunächst ein Wort zur Selbstcharakteristik, in der Müntzer – seiner anfeuernden Ausdrucksweise und Wesensart entsprechend – mit heftigen antiklerikalen Schimpfworten nicht spart, insoweit er mit der Romkritik der ebenfalls romkritischen Böhmen, namentlich der Hussiten, übereinstimmt, ehe er auch Luther und die Wittenberger seiner temperamentvollen Rüge aussetzt. Hier beklagt er die geistliche Inkompetenz einer betrügerischen Priesterschaft samt ihrer spirituellen Erfahrungsarmut, während er selbst sich stets bemüht habe, sich des „unüberwindlichen Christenglaubens“ zu vergewissern. Und dafür müsse ein jeder den Heiligen Geist empfangen haben, und zwar gemäß der biblischen Tradition siebenfältig. „In übertragener Weise denkt Müntzer an die innere Reinigung durch Wirkungen des Heiligen Geistes.“47 Das Schlussgebet seiner Messe für die Pfingstzeit ist auf diesen Ton gestimmt; es lautet:
O Herr, verleihe uns die Gnade des Heiligen Geistes, auf dass der Tau deiner Güte unsern Grund des Herzens in seiner Besprengung fruchtbar mache durch Jesum Christum.
Insbesondere ein Amtsträger der christlichen Kirche habe es nötig, von Gott unmittelbar angesprochen und vom göttlichen Geist erfüllt zu sein. Er müsse selbst zum Offenbarungsempfänger werden, das heißt zu einem, der gleichsam an der Quelle schöpft und nicht etwa nur vom Hörensagen oder bloßem theologischen Bücherwissen Bericht erstattet. Müntzer unterscheidet die schulmäßige Beschäftigung mit der äußeren Bibel samt ihrer gelehrten Auslegung von dem Erfülltwerden mit dem darin enthaltenen geistlebendigen Wort. Deshalb sei es unumgänglich, sich dafür „leer“ und offen zu machen. Aber wird man ihn verstehen? Setzt er bei seiner Gemeinde, bei den Hörern und Lesern seiner Verkündigung nicht oft eine spirituelle Reife voraus, die noch gar nicht vorhanden, sondern in der Regel erst zu bilden ist?
Mit ganzem Herzen bezeuge ich und klage ich voll Jammers der ganzen Kirche der Auserwählten, auch der ganzen Welt, da diese Briefe hinkommen. Christus und alle Auserwählten, die mich von Jugend auf gekannt haben, bekräftigen ein solches Vorhaben. Ich sage bei meinem höchsten Pfand48, dass ich meine ganze Aufmerksamkeit und allerhöchsten Fleiß aufgewandt habe, um vor den anderen Menschen zu erkennen, wie der heilige, unüberwindliche Christenglaube gegründet ist.
„Auserwählte“ sind für Thomas Müntzer solche Menschen, die sich für den Geist und die Einsprache des göttlichen Wortes öffnen, während er unter „Verdammten“ solche Zeitgenossen versteht, die in einer Verstocktheit verharren und sich dieser Bewegung verschließen; ganz zu schweigen von jenen Amtsträgern in der Kirche, die nur dem Schein nach „Geistliche“ sind, in Wirklichkeit aber mangels echter Geisteserfahrung mit „gestohlener Schrift“ umgehen und somit betrügerisch handeln.49
Ich bin so kühn, in der Wahrheit zu sagen, dass kein pechgesalbter Pfaffe, kein noch so geistvoll scheinender Mönch auch nur am allerwenigsten in der Lage ist, etwas über den Grund des Glaubens auszusagen. Auch haben es gar viele Menschen mit mir beklagt, dass sie, durch unerträglichen offenkundigen Betrug beschwert, keinmal haben getröstet werden können, um ihr Wollen und Wirken im Glauben zuversichtlich zu führen und sich [durch alle Hindernisse] hindurchzuarbeiten. Auch die [Unverzichtbarkeit und Heilsamkeit der] Anfechtungen und die nützliche [Vertiefung], die in der Leermachung des vorsehenden Geistes50 [begründet ist], konnten sie51 nicht aufdecken; nimmermehr vermögen sie das. Denn der Geist der Furcht Gottes hat sie nicht ergriffen. [Dieser Geist] ist der Auserwählten einziges Ziel und Grundlage. In einem solchen Erfülltwerden, das die Welt nicht empfangen kann, sind [die Auserwählten von diesem Geist] überströmt und getränkt worden. Kurz: Es muss ein jeder Mensch den Heiligen Geist siebenmal empfangen haben. Anders kann er den lebendigen Gott weder hören noch verstehen.
Frei und frisch sage ich, dass ich noch keinen eselfurzigen Doktor von der in Gott und alle Kreaturen gesetzten Ordnung auch nur im Mindesten habe lispeln, geschweige denn laut [und deutlich] habe reden hören. Auch die Vornehmsten unter den Christen – die höllengrundfesten Pfaffen meine ich – haben nicht ein einziges Mal gerochen, was das Ganze oder das ungeteilte Vollkommene52 sei, das Eine, das not tut, welches laut 1 Korinher 13, Lukas 6, Epheser 4, Apostelgeschichte 2,15.17 allen anderen Teilen überlegen ist.
Mit dieser Behauptung gibt er zu erkennen, dass er zum fraglichen Zeitpunkt noch weiterhin aus dem theologischen Gedankengut schöpft, das der Wittenberger Reformator auch ihm kürzlich ans Herz gelegt hat, indem er ihm wie seinen Anhängern die mystisch angelegte, auf innere Erfahrung hinzielende Schrift „Theologia Deutsch“ vor anderen spirituellen Schriften zur Lektüre empfohlen hat. Dazu kommen jene Schriften von Mystikerinnen und Mystikern, speziell die von Johannes Tauler, deren Botschaft er u.a. während seiner Seelsorgertätigkeit in den genannten Frauenklöstern bereits kennengelernt hat.
Oft und immer wieder habe ich von ihnen53 [nichts anderes als] die bloße Schrift gehört, welche sie aus der Bibel schalkhaft gestohlen haben wie die...