Spürnase für Futter und Freundlichkeit
Ihre Dominanz verdanken die frühen Kaniden einer beispiellosen Ordnung.
Die soziale Bindung von Wölfen unter ihresgleichen ist enorm. Sie leben in Gruppen bis zu 50 Tieren, von denen jedes einzelne seinen eigenen, festen Platz einnimmt. Eines ihrer Überlebensprinzipien ist die vollkommene Umsetzung der Idee, mit so wenig Energie wie nötig Maximales zu erreichen. Zum Beispiel der leichteste Weg zu Futter. Sie sind die schlauesten, die erfolgreichsten, die am stärksten verbreiteten. Sie sind auch die scheuesten. Aus weitester Entfernung, geleitet von ihren überdurchschnittlichen Sinnen der Wahrnehmung, ziehen sie ihre Schlussfolgerungen. Noch heute resultiert die Überlebensfähigkeit vieler Wolfsarten unter schwersten Bedingungen aus ihrem hervorragend ausgebildeten Gemeinschaftsverhalten. Dabei ist ihr Spielraum enorm, was sich aus der Beobachtung wild lebender Kojoten ableiten lässt. Sie entscheiden sich in großer Beweglichkeit für ein Leben im Rudel, in der Paarbeziehung, als einsame Kämpfer in einer bestimmten Region, als vierbeinige Nomaden oder für Gruppierungen auf Zeit.
Stellen wir uns jetzt ein einzelnes Tier vor, das aus welchen Gründen auch immer aus der Geborgenheit einer Gruppe gerissen wurde. Sein Handeln muss von dem Gedanken geprägt gewesen sein, für das Leittier und das Rudel unverzüglich Ersatz zu schaffen. Ein Welpe, der seinen gewohnten Lebensbereich verloren hat, hat mit noch größerer Sehnsucht nach einer neuen Bindung getrachtet.
Noch heute hält ein gewaltiger Mix aus Angst, Intuition und Sicherheitsbedürfnis wild lebende Tiere von den Menschen fern. Den größten Respekt erkennen wir bei Wölfen – sogar jene, die mit Menschen aufgewachsen sind, haben panische Angst vor Fremden. Beobachtungen in großflächigen Gehegen zeigen, dass der scheue Rotfuchs eine Mindestdistanz von mehr als 200 Metern für beruhigend hält. Die Fluchtreichweite der Wölfe schätzt man in einer Größenordnung von einem Kilometer.
Dank ihres hervorragenden Geruchssinns und ihres Hörvermögens haben ihre Vorfahren in der Urzeit die unmittelbare Begegnung mit Hominiden erfolgreich vermieden. Sie orteten aus einer sicheren Entfernung die neuartigen Wesen, die in ihrem Territorium erschienen. Sie näherten sich, bis sie die Eindringlinge in Augenschein nehmen konnten. Ihr Interesse galt in erster Linie leichter Beute. Wagemutige könnten sich nach und nach genähert und über zurück gelassene Röhrenknochen hergemacht haben. Sie schnappten die Laute der Zweibeiner auf, sie beobachteten die Bewegungen ihrer Arme. Aus der Analyse der Frische aufeinander folgender Urinspuren und aus der Distanz, die in der Zwischenzeit zurückgelegt worden war, zogen sie Rückschlüsse auf deren Schnelligkeit und Körperkraft. Alle diese Kriterien belegten die Unterlegenheit der Zweibeiner. Gleichzeitig beherrschten sie aber auch Techniken, die sie interessant und vielleicht wertvoll machten. Vermutlich führten die Tiere sogar Angriffe gegen sie, wie jedes Mal auch, wenn ein feindliches Rudel ihnen ihre Vorherrschaft streitig machen wollte: verfolgen, heranpreschen mit abschließender Beißattacke gegen die Beine.
Den schlauen Wölfen muss dann gedämmert haben, dass die Hominiden in der Grundhaltung friedlich und freundlich waren und mehr als bloß eine Nahrungsquelle unter vielen sein konnten. Die Zweibeiner jagten dieselben Hufträger wie sie. Beim Aufspüren und Verfolgen waren sie zwar lange nicht so geschickt. Allerdings vermochten sie, die letzte Distanz mit Steinen zu überwinden, und den Nahkampf mit Holzspießen für sich zu entscheiden.
Reichten diese besonderen Motive aus, die natürliche Kluft zu den Menschen aufzugeben und sich ihnen allmählich zu nähern? Den raffinierten Tieren musste ein tiefer Nutzen winken – und er musste mit geringem Aufwand und ohne Gefahr zu erzielen sein. Das war am ehesten möglich, wenn die Wölfe in ihren Denkmodellen auch den Zweibeinern bestimmte Aufgaben und Rollen zuwiesen, und wenn diese Wesen mitspielten! Am Ende war die Belohnung für beide Seiten viel, viel grösser, als es irgendein Mensch damals hätte ahnen können.
Das Interesse der Hundeartigen an den ersten Zweibeinern, derer sie ansichtig wurden, war vor 50.000 und mehr Jahren die Triebkraft am Beginn dieser Freundschaft. Sie paarte sich mit einer stetig wachsenden Zuneigung, die in der Tier-Mensch-Beziehung ohne Parallele ist. Diese Entwicklung wurde immer bewusster geformt, als der anatomisch gesehen moderne Mensch begann, sesshaft zu werden und feste soziale Strukturen zu bilden. Wir gehen allerdings davon aus, dass bereits vorher eine stete Daseinsverwandtschaft zu den in der gleichen Ökologie beheimateten Wildtieren bestanden hatte. Rentier, Zweibeiner, Wolf, Proto-Hund, Bär, Rabe und unzählige weitere Gattungen existierten neben- und miteinander. Fernsehberichte zeigen uns heute, dass der Polarfuchs nur überlebt, weil der Eisbär ihm zuverlässig und regelmäßig Reste eines raffiniert am Wasserloch überlisteten Belugawal überlässt. Damals waren die einzelnen Schicksale noch viel stärker verzahnt. Wölfe und Menschen haben vergleichbare Botenstoffe im Blut. Nach Tagesanbruch sind sie am aktivsten. „Niemand ist eine Insel“ – die Botschaft dieses Bestsellertitels stimmte schon damals. Wenn sich nun im Laufe der Evolution die Welt des Zweibeiners allmählich veränderte, so wirkte sich dies auch auf die Lebensbasis der Hundeartigen aus.
Das könnte der Startschuss für den gewaltigen Einfluss auf das hormonelle Geschehen und das Verhalten der Tiere gewesen sein. Wollten sie ihren Platz in der erspähten Lücke beibehalten, mussten sie sich dramatisch anpassen. Der große Schritt aus der Wildnis an die Grenzen der menschlichen Lagerstätten bedeutete nur den Anfang. Wir wissen, dass anhaltend bis heute der Wolf zu außerordentlicher Unabhängigkeit veranlagt ist und dass seine Zähmung bis in unsere Zeit nur in ganz wenigen Fällen gelungen ist. Deshalb wird als Ausgangspunkt, als Rohmaterial für die profundere Kultivierung und Zähmung des Hundes vor allem der Wildhund betrachtet.
Als Erster hat es der Biologieprofessor Dr. Robert K. Wayne von der University of California in Los Angeles, UCLA, jetzt unmissverständlich deutlich ausgesprochen: „Alle Evidenz weist darauf hin, dass die Hunde uns als Freunde gewählt haben und nicht umgekehrt.“ Davor urteilten Wissenschaftler noch zurückhaltender. „Es ist augenscheinlich“, notierten die Biologen I. L. Brisbin Jr. und T. S. Risch 1997, „dass viele Wesenszüge im Verhalten und im ökologischen System des heutigen Hundes das Ergebnis einer durch ihre eigene Lebenswelt herbeigeführten Veränderung sind, auch durch Paarentscheidungen der Tiere selbst – und nicht vor allem das Resultat künstlicher Auslese durch den Menschen.“
Geringere Angst vor den Hominiden oder größere Neugiere waren nur einige der Kriterien, die einzelne Wölfe von dem übrigen Rudel absondern ließen. Eine andere Ursache könnte eine Verletzung gewesen sein, die es einem Tier unmöglich machte, an der Jagd der Anderen teilzuhaben. Und es gab – übrigens ähnlich wie bei den Urmenschen – Einzelne, die aus unterschiedlichen Gründen von der Gemeinschaft ausgestoßen, vertrieben wurden. Wenn sie etwa nach Erreichen des Erwachsenenalters gegen die bedingungslose Disziplin verstießen. Auch derartige, von der Wissenschaft Omega-Wolf genannte Exemplare, hatten besonderen Grund, das Tun der Hominiden aufmerksam zu beobachten. Wölfe erlegen ihre Beute in einem raffinierten Mehrkampf aus Aufspüren, Verfolgen, Isolieren und Angreifen. Eines der Tiere allein in der Wildnis war fast nicht überlebensfähig.
Das war der Augenblick, als eine besondere Intuition das erste von ihnen allmählich näher und näher zur Lagerstätte der Zweibeiner führte ...
Wie Urmenschen auf Wölfe reagiert haben, die ihre Behausung umlauerten, ist nicht überliefert. Aber es gibt heute noch eine spezielle Geistesverwandtschaft der Indianer des amerikanischen Kontinents und anderer Naturvölker zu den Wölfen in ihrer Region. Zwar gibt es so gut wie keinen unmittelbaren Kontakt mit einander. Aber Wissenschaftler finden zu Recht Belege für eine besondere Wertschätzung, wie es sie auch zu Urzeiten gegeben haben mag. Indianer betrachten den Wolf als ihren Bruder und sprechen von Manitou, große Kraft. Ihren Kindern und Enkelkindern erzählen sie, dass dieses Tier mit der gleichen Taktik jagt wie sie, dieselben Hufträger jagt wie sie und auch die Natur erlebt wie sie. Ihre Bewunderung unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von jener der Einwohner der indischen Provinz Uttar Pradesh. Sie preisen den Mut des Wolfes, seine Weisheit und fühlen sich ebenfalls durch ein ähnliches Erleben der Umwelt mit ihm seelenverwandt. Sicherlich war die Kenntnis der Indianer in früheren Zeiten wesentlich reicher und intimer, aber sie diente wohl nie als Basis für Versuche, den Wolf zu bedrohen oder ihn zu unterwerfen. Noch heute orientieren sich Jäger der Naturvölker an den Heulsignalen, mit denen Wölfe ihren Artgenossen von Bergrücken zu Bergrücken Nachricht vom Eintreffen der Rentierherden geben. Indianer sind überzeugt, dass es zwischen ihrem Bruder im Geiste und einer Reihe anderer Tiere eine erprobte Zweckgemeinschaft der Verständigung gibt. Der Rabe beispielsweise führt den Wolf indirekt in die Nähe von Herden, über denen er hoch am Himmel kreist. Der Vierbeiner umgekehrt verkündet durch Heullaute den Jagderfolg. Krähen, Raben, Eichelhäher und Rote Eichhörnchen können in diesen kargen Regionen nur dank der übrig gelassenen Beutereste überleben. Ganze Scharen von Raben folgen den Wölfen von Jagdplatz zu Jagdplatz. Nichts spricht gegen die Vorstellung, dass es eine ähnliche Beziehung auch zwischen dem...