Die Digitalisierung ist schneller als wir
Der Eindruck, dass alles Neue in einem noch nie gesehenen Tempo passiert, täuscht übrigens nicht. Digitaler Fortschritt verläuft nie so beschaulich wie der ruckelnde Fortschrittsbalken an Ihrem PC. Doch Fortschritt stoppen? Ein Widerspruch in sich. Es gehört zum Wesen einer exponentiellen Entwicklung, dass man zunächst gar nicht realisiert, was da abgeht. Biologische Generationen, wie wir sie kennen, entwickeln sich relativ langsam, sodass sie sich an die jeweils neue Umgebung anpassen können. Jede technologische Verbesserung hingegen führt dazu, dass die nächste technologische Verbesserung schneller erreicht werden kann. Und sobald sich eine Technologie dafür einsetzen lässt, das Leben der Menschen zu verbessern oder sie von Leid zu befreien, wird diese postwendend in Anspruch genommen. Darin sind wir schon allein deshalb so unglaublich schnell, weil es uns einen evolutionären Vorteil verspricht.
Bislang haben uns Maschinen Arbeit abgenommen, die schmutzig oder gefährlich war. Auch monotone und vergleichsweise simple Aufgaben haben sie für uns erledigt. Doch nun werden Computer intelligent. Selbstlernend können sie sich eigenständig verbessern. Und das Resultat dieser Entwicklung? Digitale Einheiten, die Bits, werden sich mit den Grundbausteinen der physischen Welt, den Atomen, Neuronen und Genen, immer weiter verknüpfen. Mensch und Maschine leben fortan nicht nur in Symbiosen, wie etwa mit einem Exoskelett, sie werden sich miteinander vereinen. Folgt man dem mooreschen Gesetz, das eigentlich nur eine Faustregel ist, ergibt sich eine Verdopplung der Integrationsdichte etwa alle anderthalb bis zwei Jahre. So werden wir in den nächsten Dekaden technologische Sprünge sehen, die alles bisher Erlebte in den Schatten stellen. Es werden Dinge möglich sein, die wir aus Science-Fiction-Filmen zwar kennen, die aber im wahren Leben noch gar nicht vorstellbar sind. Und sie werden nicht erst in 100 Jahren kommen, sondern in zehn oder 20.
Den Zeitpunkt der technologischen Singularität hat der umstrittene Futurologe und Transhumanist Ray Kurzweil, Director of Engineering bei Google, auf 2045 vorausberechnet. Andere legen ihn inzwischen auf 2039. Dies sei das Datum, zu dem Maschinen mittels künstlicher Intelligenz (KI) den technologischen Fortschritt derart beschleunigen könnten, dass die Zukunft der Menschheit nicht mehr vorhersehbar sei. Blauäugiger Optimismus ist dabei sicher nicht angebracht, doch eine Apokalypse sollte auch nicht gleich herbeigeredet werden. Denn folgt man modernen Wissenschaftlern wie etwa Steven Pinker in seinem Opus The Better Angels of Our Nature, dann ist die Menschheit im Laufe der Jahrtausende immer friedvoller geworden. In Vorzeiten starb zum Beispiel jeder zweite Mann eines unnatürlichen Todes. Hoffnung in die Zukunft ist also realistisch, und an das Gute zu glauben als Langzeit-Regulativ durchaus berechtigt. Gleichwohl ist »eine naive Technikglorifizierung ohne Humanorientierung und ohne gesellschaftliche Verantwortung eine ernste Gefahr«, so der Digitalvordenker Winfried Felser, Betreiber der Competence Site.
Um die Dimensionen dessen, was auf uns zukommt, deutlich zu machen, zieht Kurzweil gern die Geschichte mit dem Schachbrett und den Reiskörnern heran. Angeblich wünschte sich der Erfinder dieses »königlichen« Spiels zur Belohnung, auf das jeweils nächste Feld möge man ihm doppelt so viele Reiskörner legen wie auf das vorherige, also eins, zwei, vier, acht und so weiter. Demnach wären wir jetzt auf der zweiten Hälfte des Bretts unterwegs. Und mit Feld 64 endet das Spiel.
Wie dem auch sei, wir stecken mittendrin im digitalen Abenteuer. Und niemand kann heute noch sagen, er hätte das nicht gewusst. Denn das Web stellt alles Wissen der Welt bereit. Es macht uns quasi allwissend. Auch die digitalen Propheten waren rechtzeitig da. Die seismischen Wellen der Digitalisierung wurden vermessen. Digitale Kolosse wie Apple, Google, Facebook und Amazon – neuerdings A.G.F.A., die »Großen vier des Internets« genannt – kommen laut genug polternd daher.
Warum herkömmliche Unternehmen zu langsam sind
»Too big to fail«, also zu groß, um auf der Strecke zu bleiben, gilt schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Die Grabsteine derer, die der Markt bestrafte, weil sie in ihrem nicht digitalen Dinosaurierstatus verharrten, tragen ehrwürdige Namen. Agfa, ein Hersteller fotografischer Produkte, ist übrigens auch mit dabei. Was also ist zu tun, um nicht auf dem Friedhof der Unternehmen von gestern zu landen? Wer schnell sein will, muss Schnellboote bauen. Die digitalen Könner haben dies längst erkannt. Deshalb werden Start-ups sehr oft um die technologischen Lücken etablierter Organisationen herum gebaut. Kluge Unternehmen lassen sich von gewieften Experten bereits ganz gezielt attackieren, um zu erkennen, wo ihre Schwachstellen sind. »Kill the company« nennt man solche Versuche. Andere kaufen passende Lösungen teuer von Start-ups auf – und oft die Firma gleich mit, um sie sich als Wettbewerber vom Leib zu halten. Wieder andere gründen gezielt kleine Einheiten aus, damit diese, fernab von Hierarchiegedöns und Bürokratieexzessen, innovative Projekte mit Höchstgeschwindigkeit vorantreiben können. Solche Sandbox-Teams oder Innovation Labs sind Biotope für Wandel und Brutstätten für Disruption. Zudem bringen vorausschauende Unternehmen ihre Manager ganz gezielt mit der digitalen Elite an den transformativen Hotspots dieser Welt zusammen. Wohl nur so, wenn überhaupt, lässt sich die Innovationskraft einer tankerhaft trägen Konzernorganisation erhöhen.
Warum herkömmliche Unternehmen nicht aus sich heraus schneller werden? Hat sich die Wirtschaft nicht seit jeher entlang des technologischen Fortschritts neu orientiert? Zwangsläufig muss, wenn etwas Neues entsteht, etwas Altes beiseitetreten. Während die Alten dabei vor allem das sehen, was sie verlieren, stecken die Jungen nicht in diesem Dilemma. Sie haben nichts zu verlieren, keinen Firmenwagen, keine Senator Lounge und auch keinen Führungskraftstatus. Sie haben keine Kompetenzen zu verteidigen und keinen veralteten Kram im Gepäck, der erst mal entlernt werden muss. Und sie haben nichts aus der »Früher war alles besser«-Zeit zu betrauern. Sie können bei dem, was die Zukunft ihnen bringt, nur gewinnen.
Derzeit amtierende Manager hingegen müssten genau die Äste kappen, auf denen sie sitzen. Denn man kann keine alten Schablonen auf neue Zeiten legen. Doch obwohl sich draußen alles verändert, vertrödelt man drinnen in den Unternehmen mit gängigen Verfahren und verbrauchten Ritualen aus den Tiefen des letzten Jahrhunderts wertvolle Zeit. Machtgeplänkel, Top-down-Formationen, Abteilungsprotektionismus und Anweisungskultur verhindern jeden nötigen Fortschritt. Mit Werkzeugen von gestern ist die Zukunft nun mal nicht zu packen. Die Unternehmen sind in ihren eigenen Systemen gefangen. Und sie werden nicht am Markt, sondern an ihren Strukturen scheitern.
Besonders gefährlich sind festgeschriebene Businesspläne und Zielvereinbarungssysteme nach alter Manier. Hierbei wird kein bestmögliches Ergebnis, sondern eine Punktlandung bei überoptimistischen Ratespielen verlangt. Und was macht ein braver Manager dann? Er folgt nicht der Wirklichkeit, sondern dem Plan. Das ist absurd! Was den Unternehmen heute im Markt begegnet, ist permanente Vorläufigkeit. Und Unsicherheit ist ein Dauerzustand. Zudem liegen die größten Chancen meist jenseits der Pläne. Derzeit lauern »schwarze Schwäne« (Nassim Nicholas Taleb), also höchst unwahrscheinliche Ereignisse, an jeder Ecke. Dafür sollten vorausschauende Wenn-dann-Szenarien, flexible Ziele und Optionen für verschiedene Zukünfte auf Abruf in der Schublade liegen. Denn »schwarze Schwäne« warten nicht auf Budgetierungstermine. Und »weiße Schwäne« schon gar nicht.
Weshalb junge Unternehmen so schnell sein können
Tradierte Unternehmen sind geschlossene Systeme, in denen jeder sein Wissen hortet. Junge Unternehmen hingegen haben verstanden, wie arm man bleibt, wenn man alles für sich behält, und wie reich man wird, wenn man teilt. Sie sind offen für alles und jeden. Sie lassen sich in die Karten schauen. Und sie kommunizieren lautstark am Markt. Sie nutzen die »Weisheit der Vielen« und integrieren dankbar jede hilfreiche Idee, ganz egal, von welcher Seite sie kommt. Sie attackieren tradierte Modelle nicht nach evolutionärer, sondern nach revolutionärer Manier.
Bei alldem sind sie unglaublich flott unterwegs. Sie probieren alles Mögliche aus und kalkulieren das Scheitern mit ein. »Beim nächsten Mal machen wir eben bessere Fehler«, sagen sie heiter. »Start many, try cheap, fail early«, heißt dieses Prinzip bei Google: Viele Projekte starten, sie mit kleinen Mitteln im Markt testen, Flops schnell erkennen und eliminieren. Während Fehler in der industriellen Produktion in den Ruin führen konnten, werden Fehler in der digitalen Industrie als Lernfelder gefeiert.
Haben die Großtanker der Old Economy in diesem Umfeld überhaupt Chancen? Letztere seien, wie Clayton M. Christensen meint, Gefangene ihres eigenen Erfolgs. Disrupten sie nämlich ihr Geschäftsmodell, bleiben die Gewinne, die im Dreimonatstakt zu erwirtschaften sind, zunächst aus. Wer den Regeln der Börse oder dem Willen der Anteilseigner unterliegt, favorisiert kleine Verbesserungsschritte, ein bisschen Facelifting hier, ein Effizienz-Innovatiönchen dort, aber keinen Wiederaufbau nach disruptiver Zerstörung. Klassische Manager sind keine Rebellen, sondern allenfalls Optimierer. Ideenlosigkeit, Mutlosigkeit und Zögerlichkeit sind die Folge.
Doch es bleibt keine Wahl: Jeder Unternehmer muss sich damit auseinandersetzen, welche...