2.1 Unverwundbar?
Und, wie laufen Ihre Geschäfte? Bestimmt haben Sie diese Frage schon oft gestellt bekommen oder selber Gesprächspartnern gestellt. Selten gibt es darauf eine ehrliche Antwort. Und wenn Sie sich die Frage selber stellen? Die Antwort vieler Unternehmer und Führungskräfte geht in etwa so:
Na ja, es läuft nicht alles rund, aber im Großen und Ganzen sind wir ganz zufrieden. Wir sind schon einige Jahre am Markt und haben uns eine gute Position und Größe erkämpft. Die Veränderungen unseres Geschäftes haben wir auf dem Radar. Digitalisierung? Damit haben wir bereits seit dem ersten Computer zu tun! Konkurrenz durch Start-ups? Die meisten verdienen sowieso kein Geld. Low-Cost-Wettbewerber? Immer wieder ärgerlich, hatten wir aber schon immer. Wir haben die Augen natürlich offen, im Wesentlichen sind wir für die Zukunft aber gut aufgestellt.
Klingt ziemlich unverwundbar. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Unternehmen werden nicht alt. Laut einer aktuellen Studie des Lehrstuhls für Statistik und Ökonometrie der Universität Rostock liegt die Lebenserwartung deutscher Unternehmen bei durchschnittlich acht bis zehn Jahren. Dabei ist natürlich die existenzielle Gefährdung in den ersten Jahren des Bestehens am größten, dann, wenn es darum geht, vom Markt erst einmal akzeptiert zu werden. Doch auch wenn man die früh Gescheiterten rausrechnet, bleiben Studien zufolge Unternehmen gerade einmal 30 bis 40 Jahre lang selbstständig. Lediglich circa fünf Prozent der Unternehmen leben länger als 50 Jahre. Siemens, Bayer, BMW oder Henkel gehören beispielsweise dazu. Da viele von uns mit diesen Unternehmen sozusagen aufgewachsen sind, vermitteln sie uns den Eindruck, als wären Unternehmen quasi unvergänglich. In Wirklichkeit sind sie die Ausnahmen.
Die Zahlen vermitteln einen Eindruck davon, wie schwer es Unternehmen fällt, sich kontinuierlich verändernden Bedingungen anzupassen und unabhängig zu bleiben. Der Blick auf die Zeit, die ein etabliertes Unternehmen im Durchschnitt eigenständig bleibt, erinnert mich immer wieder an das »Buddenbrook-Phänomen«, das Thomas Mann so wunderbar in Erzählform gebracht hat: Die erste Generation baut etwas auf, die zweite führt es zur Blüte, die dritte richtet es zugrunde.
Und tatsächlich lässt sich dieses Phänomen auf unsere heutige Wirtschaft übertragen: Die erste Führungsgeneration entdeckt einen Marktbedarf, die zweite nutzt ihn – und die dritte verpasst den Wandel. Das Besondere, welches das ursprüngliche Kennzeichen des Unternehmens ausgemacht hat, wurde nicht ausreichend den veränderten Bedingungen angepasst. Große Konzerne können solche Defizite durch ihr breiteres Portfolio zumindest zeitweise auffangen, für die anderen wird die mangelnde Anpassung schnell existenzbedrohend. Und schon gehört ein Unternehmen, welches bisher so stolz seinen Weg ging, zu den Verlierern des Marktes.
Vielen Führungskräften ist diese hohe Sterblichkeitsrate nicht präsent, auch wenn die Sensibilität für die Verwundbarkeit des eigenen Unternehmens in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Wenn ich heute über die Überlebenschancen von Unternehmen spreche, so wird immer häufiger die Sorge artikuliert, durch einen »disruptiven« Wettbewerber vom Markt gefegt zu werden. Zum Beispiel von einer aggressiven Plattform, die sich zwischen das Unternehmen und seine Kunden klemmt. Oder von einem neuen Technologieanbieter, der die bisherigen Angebote obsolet macht. Oder von einem cleveren Jungunternehmer, der mit einer schlauen Geschäftsmodell-Idee in die Domäne etablierter Anbieter eindringt. Keine Frage: Wir erleben gerade eine wilde unternehmerische Ära, in der neue Technologien und Ideen neue Chancen und Risiken geschaffen haben. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Mit solchen Umbrüchen mussten Unternehmen schon immer umgehen, auch wenn die Zeit, die zur Anpassung zur Verfügung steht, deutlich kürzer geworden ist.
Der erbitterte Kampf um die Sonnenplätze des Marktes ist kein neues Phänomen. Marktveränderungen und technologische Disruption sind keine exklusive Besonderheit unserer Zeit, auch früher mussten Unternehmen kontinuierlich um ihr Überleben kämpfen.
Schauen wir zur Erinnerung auf längst verschwundene Unternehmen, die noch vor einer Generation prägend waren. Begleiten Sie mich auf einer kleinen Zeitreise in ein fiktives Wohnzimmer Mitte der 1980er-Jahre:
Vater kommt nach einem anstrengenden Arbeitstag im AEG-Werk zurück, zieht sich seine Salamander-Hausschuhe an und lässt sich in das frisch von Hertie gelieferte Sofa fallen.
Er schaltet den neuen Nordmende-Fernseher an und ärgert sich wie immer über das schlechte Programm. Da hilft auch der neue SABA-Videorekorder nichts, denn er hat keine neuen VHS-Videos organisiert. Dann schon lieber von der nagelneuen Grundig-Stereoanlage Musik hören. Queen, Bohemian Rhapsody.
Da klingelt das Telefunken-Telefon. »Was, schon Zeit für unsere Schafkopf-Runde?«, denkt er sich mit Blick auf seine zur Konfirmation geschenkte Kienzle-Armbanduhr. »Komme schon!«, ruft er in den Hörer.
Sie haben es gemerkt: Die klangvollen Namen in dieser Geschichte, die nicht nur die Ausstattung des Wohnzimmers meiner Eltern zierten, sondern das Alltagsleben einer ganzen Generation begleiteten, sind Schnee von gestern. Die erwähnten Unternehmen gingen allesamt insolvent. Zwar leben ihre Marken teilweise weiter, doch mit der Organisation, die sie ursprünglich repräsentierten, haben sie nicht mehr viel zu tun.
Was ist mit diesen prägenden Marken passiert? Und: Wie viele von den heute florierenden Unternehmen wird es in 20 oder 30 Jahren noch geben? Vor allem aber: Wie steht es um die Zukunftsperspektiven Ihres Unternehmens?
2.2. Scheitern aus doppeltem Grund
Warum werden Unternehmen nicht alt? Nun gut, viele Unternehmen scheitern, bevor sie überhaupt richtig loslegen können. Ihr Produkt ist nicht marktreif, die Finanzierung nicht gesichert, die Leistungserstellung zu teuer. Andere hören auf, eigenständig zu existieren, weil die Eigentümer keine Nachfolger finden oder Kasse machen wollen und daher das Unternehmen für Übernahmen und Fusionen freigeben.
Doch woran scheitern Unternehmen, die sich bereits etabliert haben und eigentlich unabhängig bleiben wollen? Wie kann es sein, dass solche Unternehmen nach Jahren des Erfolges plötzlich in wirtschaftliche Schieflage geraten, während andere sich über Jahrzehnte im Auf und Ab der Märkte an der Spitze bewähren?
Natürlich können Sie Gründe in internen Verfehlungen wie Betrug oder Größenwahn finden. Hierzu gehören zum Beispiel die Pleiten von Enron, FlowTex, der Neuen Heimat. Auch unvorhersehbare Veränderungen der Rahmenbedingungen wie zum Beispiel politische Krisen, Naturkatastrophen oder plötzliche konjunkturelle Einbrüche können stolze Unternehmen brechen und das Aus bedeuten. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass nur ein geringer Anteil der Insolvenzen auf externe Faktoren zurückzuführen ist, auf die man sich als Unternehmen nicht hätte einstellen können. Was ist dann der große Killer etablierter Unternehmen? Gemeinerweise ist es ein Doppelmörder. Er führt auf der einen Seite zum Verlust der konzeptionellen Stärke des Unternehmens und auf der anderen Seite zum Verlust seiner Umsetzungsstärke.
Mit dem Verlust der konzeptionellen Stärke bezeichne ich den Wegfall der Andersartigkeit in wichtigen Komponenten des Geschäftsmodells. Der Verlust der Umsetzungsstärke bedeutet, dass die Fähigkeit erodiert, ausgewählte, vom Kunden erwartete Leistungsmerkmale besser bereitzustellen als der Wettbewerb.
Was heißt das genau? Mit dem Verlust der konzeptionellen Stärke geht die Andersartigkeit in wichtigen Komponenten des Geschäftsmodells verloren, etwa die abnehmende Attraktivität des Produktportfolios, das Aussterben des klassischen Zielkundensegments, die Verwässerung der Marke, die Erodierung der Schnittstelle zum Kunden oder die veraltete Produktionslogik. Das Unternehmen verliert zunehmend an Attraktivität für seine Kunden, die sich sukzessive interessanteren Konkurrenten zuwenden.
Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, gibt es noch jenen zweiten fundamentalen Grund für das Scheitern etablierter Unternehmen: den Verlust der Umsetzungsstärke. Betroffene Unternehmen werden mit Blick auf vom Kunden erwartete Leistungsmerkmale nicht mehr als besser empfunden als alternative Anbieter – sie sind also nicht pünktlicher, zuverlässiger, schneller, freundlicher, partnerschaftlicher, serviceorientierter usw. als ihre Wettbewerber. Vielleicht deswegen, weil sich der Schlendrian im Unternehmen breitgemacht hat, die Motivation der Mitarbeiter verloren gegangen ist oder vergangene Erfolge die Organisation blind gemacht haben für nötige Prozessoptimierungen. Vielleicht ist man sogar noch genauso gut wie früher – nur reicht das als Vorteil einfach nicht mehr aus, weil der Wettbewerb sich schneller weiterentwickelt hat.
Sowohl der Verlust der konzeptionellen Stärke als auch der Verlust der Umsetzungsstärke kann Unternehmen vor fundamentale Herausforderungen stellen, wenn es ihnen nicht gelingt, die eine durch die jeweils andere Eigenschaft auszugleichen. Besonders unangenehm wird es, wenn beide Schwächen gleichzeitig auftreten. Schauen wir uns beide Problemzonen einmal genauer an.
2.3. Der Verlust der konzeptionellen Stärke
Die konzeptionelle Stärke umfasst im Grunde die Wesensmerkmale, durch die sich die...