Vom Glück, nicht mehr 30 zu sein
Beate Nordstrand
Gemütlich sitze ich am Frühstückstisch und lese die Zeitung. Zwar brauche ich mit Mitte fünfzig eine Lesebrille, aber dafür habe ich Zeit, ein bisschen länger sitzen zu bleiben. Seit einigen Jahren hat sich unser Familienleben verändert. Drei unserer fünf Kinder haben das Haus aufgrund ihres Studienplatzes oder des Dienstes bei der Bundeswehr verlassen. Auch die beiden Jüngsten, die noch zu Hause wohnen, sind inzwischen schon recht selbstständig. Mein Arbeitspensum für Familie und Haushalt hat sich deshalb deutlich reduziert.
Ich gehe auf die sechzig zu und merke: Ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Ich nutze die Ruhe und überlege, ob ich allen Ernstes lieber noch einmal jünger sein wollen würde und komme zu dem Schluss: Nein, danke! Zwischen 25 und 35 erlebte ich die anstrengendste Zeit meines bisherigen Lebens. Heute versichere ich jeder jungen Mutter mit mehreren kleinen Kindern: „Nie mehr im Leben wird es so aufreibend sein wie jetzt!“ Ja, ich bin froh, nicht mehr dreißig zu sein!
Aber möchte ich noch einmal vierzig sein? Mit Anfang vierzig kehrte ich nach fast zwanzigjähriger Familienpause ins Berufsleben zurück, musste noch einmal viel lernen und mich in eine neue Firma einarbeiten. Ich erlebte die Doppelbelastung von der Führung eines Mehrpersonenhaushalts und meiner Berufstätigkeit und kam dabei mehr als einmal an meine Grenzen.
Gern würde ich mit meinem Wissen von heute manche Dinge anders und unkluge Entscheidungen rückgängig machen. Aber die Zeit lässt sich nun einmal nicht zurückdrehen. Daraus lerne ich, dass jedes einzelne Jahr, jeder Monat, jeder Tag entscheidend ist.
Heute, mit 56, weiß ich, dass Erfolge und Misserfolge dazugehören und dass ich mich einfach weiter Gottes Lebensgeschichte für mich anvertrauen möchte. Ich spüre, dass sich ein neues Zeitfenster auftut. Es fühlt sich an wie eine Zeitkapsel – die sich entweder sanft öffnet, vielleicht aber auch explodiert. Eine neue Phase von Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten beginnt.
Ich hole mir Stift und Papier, schreibe „Mein neues Leben“ auf die Mitte des Blattes und zähle dann all die positiven Veränderungen auf, die dieser neue Lebensabschnitt mit sich bringt: Ich habe viel mehr Zeit zur freien Verfügung. Endlich genug Freiräume, um Beziehungen und Freundschaften zu pflegen, da ich mein Arbeitspensum flexibel bestimmen kann.
Ich habe Zeit fürs Gebet. Oft bete ich auf meiner morgendlichen Nordic-Walking-Tour oder im Wohnzimmer. Ohne Großfamilie ist unser Zuhause nämlich fast immer sauber und ordentlich. Weder ein Staubsaugermarathon noch eine morgendliche Chaosbeseitigungsmaßnahme sind mehr nötig, bevor ich hier zur Ruhe kommen kann.
Ich habe Zeit, meinen Körper zu pflegen: durch Bewegung, gesundes Essen, Kosmetik und Ruhezeiten.
Ich habe Zeit, meinen Hobbys nachzugehen. Neulich habe ich über dem Bearbeiten meiner Webseite das Kochen vergessen und es gab keinen Aufstand seitens hungriger Familienmitglieder.
Ich habe mehr Selbstvertrauen. Nie war ich mir meiner Stärken so bewusst wie heute. Meine Selbstzweifel und mein mangelndes Selbstbewusstsein sind gewichen. Ich bin dankbar für die Begabungen, die Gott in mich hineingelegt hat. Warum sollte ich mich mit anderen vergleichen? Gott hat mir ein abwechslungsreiches Leben zugedacht und ich traue mir mehr zu als früher. Ich finde mich sogar schöner als mit 25 – und das sehen selbst meine Kinder so. Die Dauerwelle von damals und die riesige rote Brille waren nun wirklich eine Lachnummer.
Außerdem habe ich heute mehr Geld. Vorbei sind die Jahre, in denen wir „kleine Brötchen backen“ mussten und uns keine Sonderausgaben leisten konnten. Nie hätte ich gedacht, dass meine Berufstätigkeit eine so große emotionale Erleichterung für mich bedeuten würde. Fast zwanzig Jahre hatte ich in die Erziehung unserer Kinder und in karitative Dienste in der Gemeinde investiert. Heute genieße ich das gute Gefühl, selbst verdientes Geld auf dem Konto zu haben. Dadurch haben wir als Familie mehr Entscheidungsfreiräume und können auch andere Menschen finanziell unterstützen.
Ich traue Gott mehr zu. Wie oft habe ich erlebt, dass Gott seine schützende Hand über mich gehalten hat? Sogar dann, wenn ich falsche Entscheidungen getroffen habe oder ganz offensichtlich im Unrecht war. Gott zog seinen Schutz nicht zurück. Ich durfte neu ansetzen und bekam eine zweite Chance. Viele alte Menschen bereuen am Ende ihres Lebens, nicht mehr Risiken eingegangen zu sein. Ich lerne aus ihrem Bedauern und nehme mir vor, mutig zu sein und mit Gottes Hilfe einige meiner noch nicht ausgelebten Träume zu verwirklichen.
Meine Skizze mit der Aufzählung meiner Segnungen wird immer umfangreicher. Beim Nachdenken fallen mir viele weitere Gründe ein, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.
Statt in den nächsten zehn Jahren mit Alterserscheinungen, Schlafstörungen und Depressionen zu rechnen, gehe ich davon aus, dass der vor mir liegende Lebensabschnitt ungeahnte neue Möglichkeiten mit sich bringen wird.
Jede Idee, die Gott in mich hineinlegt, kommt mir vor wie eine weitere Schwangerschaft: Sie will heranreifen, ausgebrütet und schließlich ins wahre Leben hineingeboren werden. So erlebte ich beispielsweise die Arbeit an meiner neuen Internetseite für Frauenarbeit wie eine sechste Schwangerschaft. Etwas Wundervolles ist daraus entstanden! Diese Seite bescherte mir unzählige wertvolle Freundschaften und Kontakte zu Frauen in aller Welt. Als die Webseite zum ersten Mal online war, verschickte ich deshalb sogar Geburtsanzeigen! Schmunzelnd nahm ich später einige Glückwünsche von Menschen entgegen, die dachten, wir hätten tatsächlich ein weiteres Kind bekommen.
Meine Zeit der körperlichen Fruchtbarkeit ist zu Ende, aber nun darf ich meine Kreativität, meine Begabungen und meine Lebenserfahrung in die Aufgaben stecken, die Gott mir in mein leer gewordenes „Nest“ legt.
Welche Eier hat er Ihnen zum Ausbrüten anvertraut? Gibt es Lebensträume, die sich bis jetzt nicht erfüllt haben? Vielleicht wollten Sie schon immer ein eigenes Geschäft haben, einen anderen Beruf ausüben, eine Reise nach Israel machen, eine neue Sprache erlernen? Es gibt Träume, die seit Jahren in uns schlummern – und meistens liegt in ihnen ein Wink Gottes verborgen, mit dem er uns auf unsere Berufung aufmerksam machen möchte.
Nehmen Sie sich Zeit. Erforschen Sie Ihre veränderten Möglichkeiten. Denken Sie über die Pläne Gottes für die vor Ihnen liegende Lebensphase nach. Wo etwas aufhört, ist gleichzeitig auch Platz für etwas Neues. Das war schon immer so. Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, sich Gott neu zur Verfügung zu stellen?
„Die Zeit der Supermodels ist vorbei“, erklärte Claudia Schiffer in einem Lifestyle-Magazin. „Die Konkurrenz ist einfach zu groß.“ Ich halte dagegen: Wir brauchen neue Supermodels, super Vorbilder: Frauen, die mit ihrem Glauben und ihrer Lebenserfahrung anderen Frauen ein gutes Beispiel sein und sie ermutigen können. Das wird dringender benötigt als Stil-Ikonen und Laufstegschönheiten. Was ist mit Ihnen? Sie können heute ein Model für innere Schönheit werden! Die Konkurrenz müssen Sie nicht fürchten, denn unsere Gesellschaft braucht gute Vorbilder so dringend wie nie zuvor. Nennen Sie es Vorbild, geistliche Mutter, Glaubenszeugin oder wie auch immer – aber versuchen Sie etwas davon zu werden und andere durch Ihr Leben zu inspirieren und zu prägen.
Vielleicht erwidern Sie: „Aber ich fühle mich gar nicht wie ein Supermodel.“ Meine Freundin Birgit saß mir neulich gegenüber und klagte: „Ich fühle mich manchmal wie durch die Mangel gedreht – geistig, körperlich und seelisch. Abends bin ich oft so geplättet, dass ich kaum noch laufen kann.“ Auch ich bemerke Veränderungen bei mir. Das Gespräch mit Birgit tat mir gut. Ich habe gemerkt: Ich bin damit nicht allein. Wie eng ist bei uns Frauen doch das körperliche und seelische Wohlbefinden miteinander verknüpft! Doch davon wollen wir uns nicht unterkriegen lassen und erst recht nicht unsere Chancen verbauen lassen! Gemeinsam beschlossen wir, uns auf die vor uns liegende Zeit zu freuen und die Gelegenheit zu ergreifen, uns wieder einmal zu verändern – „zu verbessern“, wie Birgit mit einem Lächeln korrigierte. Denn auch wenn wir uns nicht immer gut fühlen, können wir trotzdem ein gutes Leben führen, das anderen zum Vorbild wird. Drei wesentliche Bausteine für ein gutes Leben im reifen Alter sind für mich Freundschaften, Sport und Gelassenheit.
Freundschaften: Ich will mein Beziehungsnetz stärken, denn Austausch und Mitgefühl tun immer gut. Vielleicht wird aus dem Treffen mit Birgit ein regelmäßiges Zusammenkommen? Mir fallen sofort ein paar Frauen ein, die sicher auch Interesse daran hätten.
Sport: Ich will meine müden Knochen immer wieder neu beleben. Während Birgit schon immer sportlich war, musste ich mich dafür bewusst entscheiden. Da wir zusammen an einem Nordic-Walking-Kurs teilgenommen haben, werden wir uns nun weiterhin zum Walken verabreden. Wie nett, denke ich insgeheim, denn mit Begleitung fällt es mir viel leichter. Bewegung macht nicht nur gute Laune, stärkt die Muskeln und erhöht den Kalorienverbrauch, sie regt auch den Knochenaufbau an, was gerade „in unserem Alter“ wichtig ist, weil es vor Osteoporose schützt.
Gelassenheit: Birgit hat die vier Kilo vom vergangenen Sommerurlaub noch immer nicht wegbekommen. Auch ich merke, dass ich erheblich mehr Disziplin brauche, um...