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Trauern heißt lieben

Unsere Beziehung über den Tod hinaus leben

AutorAnselm Grün
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451801549
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Trost und Nähe, Zuwendung und Verständnis sind gerade in den verwirrenden und anstrengenden Zeiten nach dem Verlust eines wichtigen Menschen lebenswichtig. Gefühle der Wut, des Gekränktseins und der Schuld können sich in den Schmerz des Verlustes mischen. Anselm Grün ermutigt dazu, der Trauer einen Raum im Herzen zu geben. Denn die Botschaft des Verstorbenen zu verstehen, ihm nahe zu sein in dem, was ihm wichtig war, kann ein Weg zurück ins Leben und zu neuer Nähe sein. Mit Hilfe von zahlreichen Ritualen weist Anselm Grün Trauernden den Weg zurück zur Liebe.

Anselm Grün OSB, Dr. theol., geboren 1945, trat mit 19 Jahren in den Benediktinerorden ein. Seither lebt und arbeitet er in der großen Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Anselm Grün wirkt als geistlicher Begleiter und erteilt Kurse in Meditation, Fasten, Kontemplation und tiefenpsychologischer Auslegung von Träumen. Er ist der weltweit populärste christliche Autor unserer Tage. Seine Bücher zur Spiritualität und Lebenskunst, zu den Themen Glück, innere Balance und positives Lebensgefühlerreichen seit Jahrzehnten eine breite Leserschaft. Pater Anselms Texte machen auf wunderbar einfühlsame Weisespirituelle Themen, Meditation, Kontemplation und Fastenverständlich. Das Positive in den einfachen Dingen wahrzunehmen und spürbar zu machen, das ist benediktinische Lebensweisheit. Anselm Grüns Botschaft: Der Mensch ist geboren glücklich zu sein. Es gibt Quellen der Kraft, die in jedem stecken.

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Leseprobe

2. Die verschiedenen Phasen der Trauer


Es gibt keine Norm für die Trauer. Jeder trauert anders. Trotz der je persönlichen Trauer, die ihren eigenen Rhythmus hat, haben Psychologen versucht, die Trauer in verschiedene Phasen einzuteilen. Der englische Kinderpsychologe J. Bowlby unterscheidet die »drei Stadien des Protestes, der Desorganisation und der Reorganisation«. (Spiegel 57) Andere sprechen von den drei Phasen, die gekennzeichnet sind von »Schock, Leiden und Wiederherstellung«. Der amerikanische Pastoraltheologe W. Oates geht von sechs Phasen aus: »Schock, Betäubung, Kampf zwischen Phantasie und Realität, Durchbruch der Trauer, selektive Rückerinnerung, verbunden mit bohrendem Schmerz, und schließlich Annahme des Verlustes und Bestätigung des Lebenswillens«. (Spiegel 58) Der evangelische Pastoraltheologe Yorick Spiegel möchte nur vier Phasen gelten lassen: 1. Die Phase des Schocks, 2. die Phase der Kontrolle, 3. die Phase der Regression und 4. die Phase der Adaptation, der neuen »Anpassung an das gesellschaftlich Geforderte«. (Ebd. 58) Natürlich sind alle Versuche, die Trauer in Phasen einzuteilen, zu relativieren. Denn die Trauer richtet sich nicht immer nach den Phasen, die irgendjemand aufgestellt hat. Der Versuch, die Trauer in Phasen einzuteilen, möchte nur etwas Ordnung in die oft chaotische Trauer hineinbringen. Sie möchte den Trauernden Orientierung geben auf ihrem Weg. Aber es ist nicht so, dass man diese Phasen einfach und automatisch nacheinander durchläuft. Oft genug hat man eine Phase schon durchschritten – und fällt durch ein bestimmtes Ereignis wieder in eine frühere Phase zurück.

Ich möchte mich im Folgenden an die vier Phasen halten, die die Schweizer Psychologin Verena Kast in ihrem Buch »Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses« unterschieden hat: 1. Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens. 2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen. 3. Die Phase des Suchens und Sich-Trennens. 4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs. Allerdings möchte ich die zwei letzten Phasen anders benennen. Ich möchte weniger die psychologische als die spirituelle Ebene betrachten. So nenne ich die letzten beiden Phasen: 3. Die Botschaft des Verstorbenen verstehen. 4. Eine neue Beziehung zum Verstorbenen und zu mir aufbauen. Dabei möchte ich auch biblische Texte – vor allem die Auferstehungsgeschichten – heranziehen, um diese Phasen der Trauer zu verdeutlichen.

Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens


Die erste Phase als Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens hat der Evangelist Lukas in seiner wunderbaren Erzählung von den Emmausjüngern beschrieben. Zwei Jünger können den Schmerz nicht aushalten, den ihnen der gewaltsame Tod Jesu am Kreuz bereitet hat. Der Tod Jesu hat alle ihre Hoffnungen zerstört. Sobald der Sabbat vorbei ist, machen sie sich auf den Weg nach Emmaus. Sie fliehen vor dem Schmerz. Sie wollen mit dem Tod Jesu nichts mehr zu tun haben, wollen ihn nicht wahrhaben. Daher fliehen sie in ihre Heimat, an einen Ort, an dem sie das Geschehen um Jesus vergessen können. Das Nicht-wahrhaben-Wollen ist oft genug eine Flucht vor dem Schmerz, den man nicht aushalten kann.

In der Situation der Trauernden zeigt sich dies im Verdrängen der Trauer: Wir wollen nicht wahrhaben, dass der geliebte Mensch gestorben ist. Wir denken: Es kann nicht sein. Es ist nur ein Traum. Oder aber wir verdrängen die Trauer, indem wir uns in Aktivität flüchten und uns etwa um die Organisation der Beerdigung kümmern. Wir funktionieren nur noch, indem wir die Freunde und Bekannten zur Beerdigungsfeier einladen und die Feier äußerlich gestalten. Wir schneiden unsere Gefühle ab, aus Angst, sie könnten uns überwältigen. Doch die Gefühle lassen sich nicht abschneiden. Irgendwann werden sie in uns wieder auftauchen. Manche unterdrücken die Gefühle, indem sie Psychopharmaka nehmen. Sie haben den Anspruch an sich, dass die Trauer nach vier Wochen vorbei sein müsse. Wenn nicht, dann helfen sie eben künstlich nach. Doch durch eine solche Verdrängung werden Menschen unfähig, zu ihrem inneren Selbst zu gelangen. Sie bleiben an der Oberfläche, gehen nicht durch den Schmerz hindurch, sondern an ihm vorbei. Dieser Weg führt nicht zum Leben, sondern zur Erstarrung. Wenn wir Trauer verdrängen, wandelt sie sich in Depression. Depression ist oft Ausdruck verweigerter Trauer. Und sie kann nur geheilt werden, wenn wir die Trauer zulassen. Die verdrängte Trauer führt häufig zu Erkrankungen. Trauer will angeschaut und anderen mitgeteilt werden. Ein amerikanischer Psychologe meint, »dass Hinterbliebene, die ihren Schmerz nach einem Todesfall allein mit sich ausmachen, häufiger an Erkrankungen leiden, dass jene aber, die sich in ihrem Schmerz einem anderen anvertrauen, keinerlei erhöhte Krankheitsanfälligkeit zeigen.« (Linn 9)

Es gibt verschiedene Wege, der Trauer auszuweichen. Auch äußere Rituale können dazu gehören. In dem bekannten taiwanesischen Film »Sieben Tage nach dem Tod meines Vaters« wird die Geschichte einer Frau erzählt, die auf den Tod ihres Vaters durch die Einhaltung der äußeren Rituale reagiert. Als sie nach einem Jahr von einer längeren Reise in ihren Heimatort zurückkehrt, kauft sie ihrer Gewohnheit folgend Zigaretten für den Vater. In diesem Augenblick wird ihr bewusst, dass ihr Vater ja tot ist, und sie bricht zusammen, weil sie erkennt: Sie hat gar nicht wirklich um den Tod des Vaters getrauert. Die äußeren Rituale waren vielmehr ihr Weg, dem schmerzlichen Abschiednehmen vom Vater aus dem Weg zu gehen. Sie hat nach außen hin alles genau eingehalten, was die taiwanesische Tradition verlangt. Aber sie hat nicht wirklich getrauert.

Flucht vor der Trauer kann man auch in christlichen Kreisen beobachten. Ein Weg ist die Verdrängung der Trauer durch eine überzogene Auferstehungstheologie. Neulich erzählte mir der Pfarrer einer evangelischen Freikirche, sein Freund sei gestorben und er habe sehr um ihn getrauert. Doch beim Beerdigungsgottesdienst meinten seine Mitbrüder, als Christen dürften sie nicht trauern, sie müssten vielmehr Gott loben und preisen, weil der verstorbene Bruder doch mit Christus auferstanden sei. So sangen sie im Gottesdienst lauter Lobpreislieder. Der vom Schmerz des Verlustes tief berührte Pfarrer konnte nicht mitsingen. Er musste nur weinen. Er hatte das Gefühl, dass man hier die Trauer einfach überspringe, ihr aus dem Weg gehe. Er spürte, wie man sich durch die Berufung auf die Auferstehung davor schützte, sich dem Schmerz des Abschieds zu stellen. Und er spürte aber auch, dass das nicht dem Geist Jesu entspricht, der um den Tod seines Freundes Lazarus geweint hat. Für die Juden, die dabeistanden, war das ein Zeichen seiner großen Liebe. Sie sagten: »Seht, wie lieb er ihn hatte!« (Joh 11,36)

Verena Kast schreibt, dass diese Phase oft als Empfindungslosigkeit erfahren wird. Die entspringt freilich »nicht einer Gefühlslosigkeit, sondern einem Gefühlsschock«. (Kast 62) Man ist so überwältigt von dem starken Gefühl der Trauer, dass man damit nicht umgehen kann und in eine innere Erstarrung flüchtet. Oft drückt sich die Verdrängung in übergroßer Geschäftigkeit aus. Doch irgendwann holt einen die Trauer ein. Verena Kast erzählt von einer Geschäftsfrau, die den Tod ihres Mannes heldenhaft gemeistert hat, indem sie das Geschäft ihres Mannes mit großem Eifer weitergeführt hat. Doch nach einigen Jahren traten psychosomatische Beschwerden auf. Diese zwangen sie dann, sich der Trauer um ihren Mann zu stellen, allerdings vier Jahre nach seinem Tod. (Vgl. Kast 83f.) Eltern, die ein Kind verloren hatten, erzählten mir, dass ihre Trauer nach einem halben Jahr stärker war als am Anfang. Die Traumatisierung am Anfang war wie ein Schutzraum, in dem sie den Schmerz gar nicht ganz wahrgenommen hatten. Sie waren innerlich erstarrt.

Ein amerikanischer Autor hat beobachtet, dass das Vorbild von Jacqueline Kennedy bei der Beerdigung ihres Mannes J. F. Kennedy vielen trauernden Frauen geschadet hat: »Eine Generation trauernder amerikanischer Frauen glaubte, Frau Kennedy imitieren zu müssen, die offiziell ruhig und kontrolliert beim Begräbnis ihres Mannes blieb.« (Linn 13) Doch dieses Idealbild, statt zu trauern, mit zusammengebissenen Zähnen, tapfer und aufrecht die Beerdigung durchzustehen, führt nur zur Depression oder zu anderen psychischen oder physischen Erkrankungen. Nur die gelebte Trauer kann die Trauer wandeln.

In der Begleitung von trauernden Menschen sind mir noch zwei andere Weisen begegnet, die Trauer nicht wahrhaben zu wollen. Die eine Weise besteht in Schuldgefühlen. Die andere in der Anklage derer, die am Tod des geliebten Menschen vermeintlich schuld sind.

Eine Frau kam mit ihrem Ehemann zu mir. Die Mutter der Frau war vor einem Jahr gestorben. Diese Frau hatte ihrer Mutter versprochen, sie zu pflegen und beim Sterben dabei zu sein. Doch genau in der einen Stunde, in der sie etwas in der Stadt einkaufen musste, war die Mutter gestorben. Die Frau machte sich nun ständig Vorwürfe: Warum habe ich nicht gemerkt, dass es mit der Mutter zu Ende ging? Im Gespräch mit mir kreiste sie immer um dieses Nicht-gespürt-Haben. Ihr Mann war hilflos. All seine Beschwichtigungen, sie solle doch die Mutter loslassen, hatten während des vergangenen Jahres nichts geholfen. Die Frau kreiste immer um ihre Schuldgefühle, dass sie beim Sterben der Mutter nicht dabei war. Dabei ging sie aber offenkundig gerade dadurch ihrer Trauer aus dem Weg. Ich sagte ihr also drei Dinge: »Zunächst: Ihre Mutter ist im Frieden mit Gott und mit Ihnen. Sie macht Ihnen ganz bestimmt keine Vorwürfe. Sie möchte vielmehr, dass Sie sich dem Leben zuwenden. Fragen Sie Ihre Mutter, was sie Ihnen sagen möchte. Dann: Viele Väter und Mütter warten mit dem Sterben, bis der Sohn oder die Tochter...

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