So unterschiedlich wie Kinder und Jugendliche sind, so verschieden sind auch ihre Vorstellungen vom Tod. Nicht nur das Alter der Kinder spielt hier eine entscheidende Rolle, sondern ein ganzes Gefüge von inneren und äußeren Bedingungsfaktoren (wie Religion, soziales Umfeld oder Kultur), die selbst bei gleichem biologischen Alter ein ganz unterschiedliches Verständnis von Tod und Sterben bedingen. Kinder und Jugendliche gleichen Alters zeigen mitunter große Unterschiede in ihrer Entwicklung und ihrem Verhalten und somit auch im Umgang mit Verlusterlebnissen, Tod und Trauer.[24]
Faktoren für die Art der Trauer
Es gibt verschiedene Faktoren, die für die Art der Trauer bei Kindern relevant sind. Diese sind abhängig von mehreren Aspekten:
1. Lebensalter/Entwicklungsstufe des Kindes/Geschlecht
2. Todesverständnis
3. Trauerreaktionen
4. Verfügung innerer Verarbeitungsmöglichkeiten
5. Individuelle Faktoren des Kindes
6. Rolle der verlorenen Person im Leben des Kindes
7. Gab es bereits Verlustsituationen?[25]
Weitere Faktoren sind das Umfeld, in dem das Kind lebt, die Umstände des Todes der Bindungsperson, sowie das Maß, in welchem dem Kind Hilfe zu Teil wird. Relevant ist auch, welche Art von Trost, Erklärung und Hilfe das Kind bekommt. Hinzu kommen individuelle Risikofaktoren, die die Art der Trauer beeinflussen. Diese sind:
1. frühere traumatische Lebenserfahrungen
2. altersbedingtes Fehlen des sprachlichen Ausdrucks für innerpsychische Prozesse
3. psychosoziale Belastungen im sozialen Umfeld
4. Akute Belastungssituationen der Eltern, wie wenig Geld, arbeitslos etc., was zur Folge haben kann, dass dem Kind zu wenig oder gar keine Zuwendung zuteilwird.
Liegt einer dieser Faktoren vor, kann es zu einer pathologischen Trauerreaktion kommen. Das Kind zieht sich möglicherweise in sich selbst zurück, geht Gesprächen aus dem Weg, ist oft tieftraurig bis depressiv. Es kann z.B. zu Essstörungen oder dissozialem Verhalten kommen.
Todesverständnis bei Kindern und Jugendlichen
Große Fortschritte wurden auf den Gebieten der Pädiatrie, der Psychologie des Kindesalters und der Pädagogik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzielt. Dabei gab es jedoch kaum Untersuchungen zum Problem Tod und seine Auswirkungen auf Kinder. Möglicherweise war und ist die gedankliche Verbindung von Kindern und Tod unangenehm oder scheint unangemessen, sind Kinder doch die Hoffnungsträger für Leben und Zukunft. Auch Fehleinschätzungen über kindliches Verhalten könnten der Grund dafür sein. Eine Fehleinschätzung ist zum Beispiel der Mythos, dass Kinder keinerlei Verständnis vom Tod haben, in dieser Hinsicht nicht neugierig sind und daher weder Besorgnis noch Trauer empfinden. Ein anderer Mythos besagt, die Kinder seien zu zart, um die grausame Tatsache und Wirklichkeit des Todes bewältigen zu können. In der heutigen Zeit sind solcherlei Meinungen weitestgehend verschwunden.[26] Wie Kinder Trauer und Tod erleben und verstehen, ist in großem Maße, neben vielen anderen Faktoren von ihrem Entwicklungsstand und ihren kognitiven Fähigkeiten die Welt zu begreifen abhängig. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen gibt es entscheidende Faktoren für das Begreifen vom Tod- Sein. Diese sind:
- Nonfunktionalität – zwischen belebten und unbelebten Dingen in der Umwelt unterscheiden
- Irreversibilität – zwischen gestern, heute und morgen unterscheiden und die Unumkehrbarkeit des Todes begreifen können
- Universalität – die Einsicht, dass alles Lebende vergänglich ist
- Kausalität – Verständnis dafür, dass die Ursache des Todes biologischer Natur ist
Es gibt inzwischen zahlreiche Untersuchungen, welche eine Fülle von Daten erbrachten und zu wertvollen Erkenntnissen führten. Trotzdem bleiben noch viele Fragen offen.[27]
Todesverständnis anhand verschiedener entwicklungspsychologischer Modelle
In diesem Kapitel sollen die Bindungstheorie von J. Bowlby sowie das Entwicklungsmodell von J. Piaget vorgestellt werden um u. a. zu verdeutlichen, dass es, wie Bowlby zeigt, einen Zusammenhang zwischen Bindungstyp und Trauerreaktionen gibt. Bei Piaget ist es das ständige Streben nach Ausgleich, der Mensch will sein Gleichgewicht, im Sinne von Ausgeglichensein, erlangen und ist immer auf der Suche nach Identität. Piaget betrachtet den Menschen als ein offenes System. Darunter versteht er einen Organismus, der sich wandelt, auf Einflüsse der Umwelt reagiert, sich anpasst und die Umwelt selbst beeinflusst. Somit gliedert der Mensch seine Welt.[28]
In diesem offenen System ist vieles möglich. Dennoch sind dem Menschen Grenzen gesetzt, z. B. die biologische Grenze. Zur Offenheit des Systems gehören Denkstrukturen und Gefühle, die für andere Menschen nicht ohne weiteres erkennbar sind.
Bindungstheorie nach J. Bowlby und M. Ainsworth
J. Bowlby wurde bereits im vorigen Kapitel vorgestellt. Mary D. Salter Ainsworth[29] forschte gemeinsam mit ihm an der Bindungstheorie.
Sie definierte drei Klassen von Bindungsstilen (Ainsworth) und Trauerbewältigung:
1. sicher gebunden --- normale Trauer
2. ambivalent-unsicher--- chronische Trauer
3. vermeidend --- keine Trauer, viel somatische (körperliche) Reaktionen
Die Vertreter der Bindungstheorie nehmen an, dass die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen einem Kleinkind und dessen primärer Bezugsperson in der Kindheit die Grundlage für die Fähigkeit ist, stabile und intime soziale Beziehungen im Erwachsenenalter aufrecht zu erhalten. Soziale Entwicklung nimmt ihren Anfang damit, dass sich zwischen dem Kind und seiner Mutter (oder einer anderen Bindungsperson) eine starke emotionale Beziehung entfaltet.
Bindung wird dabei als Neigung des Menschen verstanden, enge, von intensiven Gefühlen getragene Beziehungen zu anderen zu entwickeln. Dieses gefühlsgetragene Band bleibt über Raum und Zeit hinweg erhalten und ist sehr spezifisch, denn keine der Personen kann ausgetauscht werden. Es wird neben Nahrungsaufnahme und Sexualität als primäres angeborenes menschliches Grundbedürfnis gesehen, sichert es dem Säugling doch Nähe, Zuwendung und Schutz einer vertrauten Person. Das heißt, fühlt er sich müde, krank, ängstlich, unsicher oder allein, so werden die von Geburt an vorhandenen kommunikativen Fähigkeiten wie Schreien, Lächeln, Weinen, Anklammern aktiviert, welche die Nähe zur Bezugsperson wieder herstellen soll.[30] Damit ein Kind diese Bindung überhaupt entwickeln kann, müssen sein Verhaltensrepertoire und seine sensorischen Fähigkeiten genügend ausgebildet sein. Im Verlaufe der ersten Lebensmonate wird dieses Bindungsverhalten immer spezifischer auf wenige Bezugspersonen ausgerichtet. In der Regel ist die Mutter die wichtigste Bindungsperson, aber auch Väter, Geschwister, Großeltern, die eine enge Beziehung zum Kind aufbauen, kommen in Frage.
Andere Bedürfnisse des Kleinkindes wie das komplementäre Bedürfnis nach Exploration und autonomem Verhalten stehen in einer Wechselbeziehung zu seinem Bindungsverhalten. So lange die vertraute Bindungsperson als verfügbar und prinzipiell bereit wahrgenommen wird, um auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen, überwiegen Exploration und Zuwendung zur Umwelt. Sobald eine Gefahr auftaucht, sei es in der äußeren Umwelt oder eigener Kummer, Unsicherheit, Krankheit oder sich eine Einschränkung in der Verfügbarkeit und Reaktionsbereitschaft der Bindungsperson andeutet, überwiegt das Aufsuchen von Nähe und Kontakt. In zahlreichen Untersuchungen wurde belegt, dass der Mangel an engen Beziehungen sich auf die körperliche Entwicklung auswirkt. Kinder, die in Familien leben, in denen sie mit emotionaler Distanz der Eltern konfrontiert sind und wenig Fürsorge erhalten, leiden oft an Untergewicht, überdies verzögert sich der Aufbau ihrer Knochen. Fühlen sie sich hingegen zufrieden und können sich der Zuneigung ihrer Mutter sicher sein, so bewegen sie sich von ihr weg und erkunden ihre Umgebung. Bindung beginnt bereits mit der Geburt, wenn das Neugeborene seine angeborenen physiologischen Rhythmen in eine eigene Ordnung bringen und mit der Umwelt koordinieren muss. Atemgeschwindigkeit, Pulsfrequenz, Körpertemperatur, Blutzucker und Cortisolspiegel müssen mit dem Schlaf-Wach-Rhythmus in Einklang gebracht werden. Die Mutter trägt dabei durch ihre Pflegehandlungen zur Überformung bei, indem sich Mutter und Kind affektiv aufeinander einstimmen. Für die Bindung ist wichtig, ob und inwieweit die Mutter im zeitlich für das Kind richtigen Rhythmus das Angemessene tut. Je näher sie den sich bildenden Eigenrhythmen des Säuglings kommt, desto eher kann das Kind ein Gefühl, Ursache zu sein, entwickeln und seine Effektanz wahrnehmen. Ein Säugling verfügt von Anfang an über kommunikative Fähigkeiten, um sich seiner Umwelt mitzuteilen. Hierbei könnten alle Verhaltensweisen, Zustände und Äußerungen des Säuglings Informationsträger für die Mutter sein, damit sie ihr Kind besser kennen lernt. Auf Individualität und Temperamentsunterschiede muss sie sich dabei einstellen. Es geht bei der Feinfühligkeit nicht nur um funktionale oder materielle Versorgung und die bloße Anwesenheit, sondern auch um das Gefühl des Verstanden Werdens, der Ermutigung und emotionalen Zuwendung. Dabei sind folgende Merkmale...