2 | Einfach hingehen Trauernde besuchen – Trost ist Beziehung auf Augenhöhe |
Der Bruder eines Schulfreundes ist tödlich verunglückt. Er war gerade einmal 19 Jahre alt. Ein Fremdverschulden lag aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor.
Die kleine Friedhofskapelle kann die Menge der Trauergemeinde bei Weitem nicht fassen. Natürlich sind es anders als bei den meisten Beerdigungen in der Mehrzahl Jugendliche, Teenager und junge Leute um die 20, die sich auf den Friedhofswegen drängen. Die Betroffenheit, die Trauer ist nicht zu ermessen. »Schlimm ist es«, sagt der Pfarrer, »wenn Kinder ihre Eltern zu Grabe tragen. Schlimmer aber ist es, wenn Eltern ihrem Kind ins Grab hinterherschauen müssen.«
Am Nachmittag nach der Beerdigung holen einige Freunde ihren Schulkameraden zu Hause zu einem Spazier gang ab. Noch nie in ihrem Leben haben sie so viel Mut gebraucht wie an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag, an dem sie vor der Haustür der trauernden Familie stehen und auf den Klingelknopf drücken. Und auch in ihrem weiteren Leben wird es nur ganz wenige Situationen geben, in denen sie so viel Mut brauchen.
Sie haben diesen Mut aufgebracht, weil ihre Familien sie dazu ermutigt haben: »Geht zu Matthias und unternehmt etwas mit ihm. Holt ihn ab, geht mit ihm nach draußen, sprecht miteinander. Vielleicht braucht er das jetzt«, haben ihre Geschwister zu ihnen gesagt.
»Sollen wir wirklich hingehen?« Das Zögern der Schulfreunde hatte einen Grund: Sie hatten Angst. Angst davor, dass ihnen an der Haustür nicht einfallen würde, was sie sagen sollten, und erst recht später nicht, wenn sie zu einem Spaziergang unterwegs wären. Angst davor, die richtigen Worte zu finden. Angst davor, dass ihr Ansinnen vielleicht von den trauernden Eltern nicht gutgeheißen würde, die jetzt mit ihrem Sohn zusammen sein wollten. Angst davor, dass ihr Freund ihr Angebot ablehnen und lieber allein sein würde.
»Sollen wir wirklich hingehen?« Der Trostbesuch ist ein alter Brauch. Er stammt aus einer Zeit, als üblicherweise zu Hause gestorben wurde. Solche Bräuche oder Verhaltensregeln zum Umgang mit Tod und Trauer entstanden als Orientierung und Hilfe für alle Hinterbliebenen und deren Umfeld.
Und es ist auch nicht so, dass dieser Brauch völlig verschwunden wäre. In kleineren, überschaubaren Einheiten des Zusammenlebens wird er noch sehr rege praktiziert, auf dem Land in Dörfern etwa oder auch in gewachsenen Stadtteilen. Hier ist es selbstverständlich, dass nicht nur die Verwandten das Trauerhaus besuchen, sondern auch all diejenigen, die den Verstorbenen kannten und mit seiner Familie in Kontakt standen – und sei es »nur« durch die Mitgliedschaft im Verein oder durch die Nachbarschaft auch zwei Straßen weiter.
Natürlich stellt sich gerade dann, wenn man sich eben nicht so gut gekannt hat oder den Hinterbliebenen nicht ganz so nahe steht, die Frage: Ist ihnen ein solcher Besuch tatsächlich recht? Wollen sie, dass ich hier bin?
Und natürlich kann es genauso sein: Es ist ihnen vielleicht jetzt gerade nicht recht. Vielleicht fehlt im Moment einfach die Zeit, vielleicht steht ein dringendes Gespräch mit anderen Angehörigen an, vielleicht müssen noch einige Dinge für das Begräbnis geregelt werden. Oder vielleicht will der Trauernde jetzt einfach allein sein.
»Weißt du«, sagt die Witwe zu dem aus der Stadt angereisten alten Freund ihres Mannes aus jungen Jahren, »es ist mir eigentlich zu viel, dass das ganze Dorf jetzt kommt undkondoliert.« Sie und ihre Tochter haben dann für den Rest des Tages auf das Klingeln an der Haustür einfach nicht mehr reagiert.
Das alles sind verständliche und gute Gründe, den Besuch dann einfach zu verschieben: »Ich denke, es ist besser, ich komme ein andermal.«
Auch wer noch so einfühlsam ist, kann in sein Gegenüber nicht hineinsehen, kann die Situation nicht vorhersehen, in der er als einer, der Trost spenden will, auf den Trauernden trifft. Deshalb wird er sein Einfühlungsvermögen genau darauf richten, die Situation, auf die er trifft, richtig einzuschätzen.
Und das heißt: Er wird offen sein für das, was der andere jetzt braucht. Er wird es akzeptieren, wenn der Trauernde sagt – vielleicht nicht mit Worten, vielleicht nicht mit einer klaren Aussage, aber vielleicht durch verlegene Höflichkeiten oder einfach durch Schweigen –, dass er lieber allein oder mit anderen zusammen sein will.
Wer einfühlsam zu trösten bereit ist, kann das Nein akzeptieren. Er wird einfach später noch einmal kommen, vielleicht, wenn es der Situation angemessen ist, nachdem er mit dem Trauernden einen passenden Zeitpunkt für diesen Besuch vereinbart hat.
Ein solcher Tröster akzeptiert dieses Nein, weil der Trauernde es nicht gegen ihn richtet, sondern für sich als Schutz errichtet. Er akzeptiert es, weil er diesen anderen als Person, weil er die Beziehung zu diesem anderen als Person ernst nimmt.
Das nämlich ist die Chance, die der Trostbesuch bietet: Er ermöglicht eine Begegnung auf Augenhöhe. Der Tröster weiß eben nicht besser, was für den Trauernden das Beste ist, was er jetzt am dringendsten braucht – seinen Besuch zum Beispiel und ein Gespräch, bei dem er »einmal seinen ganzen Schmerz herauslassen kann«. Vielleicht braucht der Trauernde das zu diesem Zeitpunkt gerade nicht. Vielleicht braucht er das Gespräch gerade jetzt, weiß es aber nicht oder will es sich nicht eingestehen. Vielleicht.
All diesen Vielleichts, all diesen Vermutungen, all diesen vermeintlich guten Ratschlägen steht aber eine Gewissheit gegenüber: Die Entscheidung liegt beim Trauernden, nicht beim Tröster. Es geht nicht darum, was – vermeintlich – gut für den Trauernden ist. Es geht darum, was er will. Denn es geht um ihn.
Das ist gemeint mit der Begegnung auf Augenhöhe. Diese Haltung ist so etwas wie die Grundhaltung des Trösters: die Beziehung zweier Menschen, die gleichberechtigt einander gegenüberstehen. Es ist eine Beziehung, in der nicht der eine weiß, was gut für den anderen ist. In der nicht der eine hilft, weil der andere auf seine Hilfsbedürftigkeit reduziert wird. In der nicht der eine Hilfe gibt und der andere nur Hilfe bekommt.
Nein, die tröstende Beziehung ist eine Beziehung (mindestens) zweier Menschen, die sich gegenseitig ernst nehmen, eine Beziehung ohne Oben und Unten, ohne Gefälle vom einen zum anderen.
Als Bettina zur vereinbarten Zeit bei Melanie ankommt, trifft sie ihre Freundin in einem sehr aufgelösten Zustand an. Kaum anders hatte sie es erwartet. Melanies Mann ist vor zwei Wochen an einem Herzinfarkt gestorben, völlig unerwartet. Er war erst 41 Jahre alt. Erst ganz langsam kann Melanie wirklich begreifen, was das in der ganzen Tragweite für sie bedeutet.
Bettina ist eine Freundin aus Kindertagen. Sie hatte Melanie noch vor der Beerdigung angerufen und ihr vorgeschlagen, dass sie sich treffen. Nun schaut sie beinahe täglich bei ihr vorbei.
Bei diesen Besuchen erlebt sie ihre Freundin wie außer sich. Sie setzt sich dann einfach zu ihr, wartet ab, wenn Melanie nichts sagt, hört zu, wenn sie erzählt, schweigt: Sie hält die Situation gemeinsam mit ihrer Freundin aus.
So hat sie Melanie noch nie erlebt, die heftig weint und oft sagt: »Ich schaffe das nicht mehr. Immer habe ich das Gefühl, dass Bernhard gleich wieder zur Tür hereinkommt. Wenn ich auf der Straße einen Mann sehe, der ungefähr so groß ist wie er und ihm nur ein kleines bisschen ähnlich sieht, denke ich: ›Da ist ja Bernhard.‹ Manchmal rede ich sogar mit ihm. Dann mache ich ihm Vorwürfe: ›Wie kannst du mir das antun? Warum hast du mich mit den Kleinen alleingelassen?‹ Dann fühle ich mich ganz schlecht. Wie kann ich nur so etwas denken?«
Wenn Melanie so redet, sitzt Bettina oft nur da und hört zu. Sie spürt: Ihre Freundin erwartet gar nicht unbedingt eine Antwort. Sie braucht erst einmal jemanden, der ihr zuhört.
Weil sich Bettina vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte schon sehr intensiv mit dem Thema Trauer auseinandergesetzt hat, kann sie dieses Chaos der Gefühle ein Stück weit nachempfinden. Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß sie, dass solche Gedanken und Gefühle lange Zeit bleiben und eigentlich nie völlig verschwinden. Mit der Zeit werden sie lediglich ein wenig schwächer.
Sie kennt dieses Gefühl: Man meint, verrückt zu werden. Sie hat aber gelernt, dass dieses Gefühl nichts Krankhaftes ist, sondern Ausdruck starker Trauer – und Trauer ist keine Krankheit. Es ist ihr wichtig, dass sie das ihrer Freundin vermittelt. Dafür braucht sie nicht unbedingt Worte. Sie sieht, dass es für Melanie eine Hilfe ist, wenn sie einfach kommt, da ist und die Trauer mit ihr trägt.
Bettinas Verhalten hilft ihrer Freundin, weil Melanie sich ernst genommen und akzeptiert fühlt – akzeptiert sogar mit ihrem Zorn auf ihren verstorbenen Mann und mit ihrer Wut über ihre verzweifelte Situation, obwohl sie beides ja selbst so schwer akzeptieren kann. So drückt Bettinas Verhalten eine Haltung aus, die viele Trauernde als tröstend beschreiben. Es ist dies die Haltung, die den Trauernden als kompetenten Menschen sieht, der in seiner schlimmen Situation lernt, mit dieser Situation umzugehen; die den Trauernden nicht eindimensional zu einem...