Eine Frau setzt Maßstäbe – Zur Entwicklung der TZI-Methode
Die Themenzentrierte Interaktion ist aufs engste mit dem Namen Ruth C. Cohn verbunden. Auf dem Hintergrund ihrer Biografie sind die philosophischen, psychologischen und pädagogischen Bezugspunkte der TZI unmittelbar zu verstehen. Daher geben wir im Folgenden einige Informationen zum persönlichen Hintergrund Ruth C. Cohns, die für die Entwicklung des TZI-Konzepts ausschlaggebend sind.
1912 in Berlin geboren, wuchs Ruth C. Cohn in einer jüdischen bürgerlichen Familie auf. Ursprünglich wollte sie Lyrikerin werden, doch mit Blick auf die realistischeren Berufsaussichten als Nationalökonomin bzw. Journalistin entschied sie sich zunächst einmal für ein Studium der Volkswirtschaft. Die Begegnung mit der Mutter ihres ersten Freundes – sie war Psychoanalytikerin – war für sie ein Schlüsselerlebnis. Noch am gleichen Abend teilte sie ihren neuen Berufswunsch zu Hause mit und belegte von da an entsprechende Veranstaltungen an der Berliner Universität.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebte Ruth C. Cohn 1933 die Anfänge der Judenverfolgung in Berlin mit. Einen Tag vor dem ersten Boykott jüdischer Geschäfte, am 31. März 1933, gelang ihr die Flucht in die Schweiz, wo sie in Zürich ihr Psychologiestudium fortsetzte.
Ihr eigentliches Interesse jedoch galt ihrer psychoanalytischen Ausbildung bei Medard Boss, dem späteren Mitbegründer der Daseinsanalyse. Diese Lehranalyse (sechsmal wöchentlich sechs Jahre lang) bildete die wesentliche Basis für ihre spätere persönliche und berufliche Entwicklung. Eine Spezialerlaubnis ermöglichte ihr darüber hinaus das universitäre Studium der vorklinischen und psychiatrischen Fächer, die für ihre Ausbildung in Psychoanalyse relevant waren. Bereits in dieser Zeit des wachsenden Naziterrors bedauerte sie, dass durch die psychoanalytische Praxis nur einer sehr begrenzten Zahl von zudem häufig privilegierten Menschen geholfen werden kann, und sie suchte nach Möglichkeiten, wie die Erkenntnisse »der Couch« mehr Menschen nützlich gemacht werden konnten. Sie selbst erlebte ihren Aufenthalt in der Schweiz als »schicksalhaftes Geschenk«, wohl wissend, dass es nicht von Dauer sein konnte. Um nicht ausgewiesen zu werden, dehnte Ruth C. Cohn ihren Status als Studentin aus – sie belegte zusätzlich die Fächer Literatur, Pädagogik, Philosophie und Theologie.
Von Anfang an jedoch, seit meinen Erfahrungen mit der Nazizeit, wollte ich einen Weg finden, gesellschaftstherapeutisch zu arbeiten, pädagogisch und politisch.
Ruth C. Cohn
1938 heiratete sie ihren langjährigen Lebenspartner Hans Helmut Cohn mit deutsch-jüdischer Abstammung. Die Eheschließung ermöglichte den Schwiegereltern 1939 einen Durchgangsaufenthalt in der Schweiz, wodurch sie der Deportation in ein Vernichtungslager entgingen. Ruth und Hans Cohn konnten ihren Aufenthaltsstatus in der Schweiz verlängern, da Hans Cohn mittlerweile als Arzt in einem Spital nahe der Grenze zu Deutschland arbeitete. Ärzte waren in der Schweiz rar. Drei Monate nach der Geburt ihrer Tochter Heidi erhielt Ruth C. Cohn am 15. Mai 1940 die Information, die Deutschen hätten die Schweizer Grenze überschritten. Noch während sie zu begreifen versuchte, was passieren würde, wenn sie als Familie mit jüdischer Abstammung den Nazis in die Hände fallen würden, kam die Frau des Spitalverwalters zu ihnen. Sie bot Ruth C. Cohn an, dass ihre 18-jährige Tochter die kleine Heidi als ihr eigenes unehelich geborenes Kind ausgeben könnte, um es so zu retten. Für Ruth C. Cohn war diese Nacht, in der das Grauen einerseits und die Verantwortlichkeit fremder Menschen für ein jüdisches Baby andererseits zusammentrafen, das Schlüsselerlebnis ihres Lebens. Noch mehr als fünfzig Jahre später berichtet sie über diesen Moment als den entscheidenden Beginn ihrer Suche nach den humanen Werten. Ein Jahr später konnte die Familie nach komplizierten Immigrationsvorbereitungen in die USA ausreisen.
Es war weiterhin Ruth C. Cohns Wunsch, psychoanalytisch zu arbeiten, daher bat sie um Aufnahme beim New Yorker Psychoanalytischen Institut. Als Nichtmedizinerin wurde sie abgewiesen, stattdessen riet man ihr, analytisch mit Kindern zu arbeiten. Sie bewarb sich daher um eine Lehrerinnenausbildungsstelle am Bankstreet-College für »Progressive Education«. Hier lernte sie eine psychoanalytisch fundierte antiautoritäre Pädagogik kennen, die starken Einfluss auf sie hinterließ.
Ab 1946 praktizierte Ruth C. Cohn in New York in eigener Praxis, zunächst mit Kindern, später auch mit Erwachsenen. Mittlerweile war sie zweifache Mutter und nach der Trennung von ihrem Mann alleinerziehend. Die Sorge um berufliche Anerkennung, ihre angeschlagene Gesundheit, finanzielle Engpässe und die neue familiäre Situation machten die Zeit zu einer ausgesprochen schweren Lebensphase.
In ihrer selbstständigen psychotherapeutischen Arbeit entfernte sich Ruth C. Cohn im Lauf der folgenden Jahre immer weiter von der klassischen Psychoanalyse. Bereits Ende der vierziger Jahre integrierte sie die Elsa-Gindler-Methode in ihre psychoanalytische Arbeit. Diese Methode des bewussten Körpererlebens hatte sie zwanzig Jahre zuvor bei der Elsa-Gindler-Schülerin Carola Speads kennengelernt. Der für uns heute selbstverständliche Hinweis, auf die Sprache des Körpers zu achten, bedeutete in jener Zeit eine tiefgreifende und radikale Veränderung in der psychotherapeutischen Arbeitsweise von Ruth C. Cohn.
Anfang der fünfziger Jahre ergaben sich durch den wachsenden Einfluss der Gruppentherapien in der therapeutischen Arbeit neue Schwerpunkte. Das Fixiertsein auf die defizitären Anteile des Menschen wich einer Sichtweise, in der das positive Potential und dessen Erweiterungsmöglichkeiten betont wurden.
Ruth C. Cohn, die zwischenzeitlich eine Ausbildung in Gruppentherapie absolviert hatte, bezog diese Ansätze in ihre therapeutische Arbeit ein und machte die Erfahrung, dass derart geleitete Gruppen in weitaus stärkerem Maße motiviert waren, miteinander zu lernen und zu arbeiten, als dies in herkömmlichen Lehr- und Lerngruppen zu beobachten war.
1955 initiierte Ruth C. Cohn einen Workshop zum Thema »Gegenübertragung« für angehende Analytikerinnen und Analytiker mit dem Ziel, die Übertragungen der Analysierenden auf ihre Patienten zu entdecken und zu bearbeiten. Um den Einstieg in dieses bislang tabuisierte Thema zu erleichtern, berichtete Ruth C. Cohn in ihrer Rolle als Supervisorin in freier Assoziation von einem eigenen Fall und gab damit ihre neutral-abstinente Rolle zugunsten einer partnerschaftlichen Rolle auf. Der später so genannte »Gegenübertragungsworkshop« wurde zum Ausgangspunkt für die Entwicklung der Themenzentrierten Interaktion.
1961 erhielt Ruth C. Cohn eine Einladung zur neu gegründeten American Academy for Psychotherapy (AAP). Vertreter der klassischen und neuen psychotherapeutischen Methoden (z. B. Fritz Perls, Carl Rogers, Alexander Lowen) trafen hier zusammen, um sich auszutauschen und miteinander zu arbeiten. Ruth C. Cohn lernte in diesem Kreis von experimentierfreudigen und progressiven Kollegen die verschiedensten neuen Therapierichtungen theoretisch und praktisch kennen. Viele Anregungen aus dieser Zeit fanden Eingang in ihre therapeutische Arbeit.
Auf dem Hintergrund der politischen Ohnmacht der Psychoanalyse gepaart mit ihrem Interesse am Aufbau einer humanen Gesellschaft entwickelte Ruth C. Cohn ihre politische Grundhaltung: »Ich glaube an Sozialismus, nicht aber an Gewalt und Diktatur des Proletariats. Ich dachte damals und denke heute, dass Revolutionen, die nur die ökonomischen und politischen Umstände und nicht die Menschen selbst in ihrer Haltung verändern, zwar die Umkehrung von oben/unten und unten/oben bewirken, nicht aber Armut und Ungerechtigkeit selbst. So verändern sich die Namen der Gewaltträger und der Unterdrückten, nicht aber die Phänomene der Gewalt und Hilflosigkeit.«
Mitte der sechziger Jahre kristallisierte sich für Ruth C. Cohn nach vielen Jahren praktischer Arbeit in den Bereichen Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie die Grundlage der Themenzentrierten Interaktion heraus. Ein Traum von Ruth C. Cohn spielte dabei eine entscheidende Rolle: »Eines Nachts, (…) träumte ich von einer gleichseitigen Pyramide. Im Aufwachen wurde mir sofort klar, dass ich die Grundlage meiner Arbeit ›erträumt‹ hatte. Die gleichseitige Traumpyramide bedeutete mir: Vier Punkte bestimmen meine Gruppenarbeit. Sie sind alle vier miteinander verbunden und gleich wichtig. Diese Punkte sind:
- die Person, die sich selbst, den anderen und dem Thema zugewendet ist (= Ich);
- die Gruppenmitglieder, die durch die Zuwendung zum Lernstoff und ihre Interaktion zur Gruppe werden (= Wir);
- der Lernstoff, die von der Gruppe behandelte Aufgabe (= Es);
- das Umfeld, das die Gruppe beeinflusst und von ihr beeinflusst wird – also die Umgebung im nächsten und weitesten Sinn (= Globe).
Ich überlegte, dass diese vier Punkte jede Gruppe symbolisieren; das heißt, dass es keine Gruppe gibt, die nicht durch diese vier Punkte definiert wird. Jedoch nirgends – weder in unseren Gruppen noch in der Literatur – fand ich diese Definition der Gruppe. Wichtig aber war mir vor allem die im Traum konzipierte Gleichseitigkeit der Pyramide, was bedeutet, dass die vier Punkte gleich wichtig sind. Und mit dieser Gleichgewichtigkeit von Ich – Wir – Es und Globe war die Gruppenführung mit TZI...