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E-Book

Über Grenzen

Vom Untergrund in die Favela

AutorLutz Taufer
VerlagAssoziation A
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783862416233
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Von der RAF zum Weltfriedensdienst: Das Leben Lutz Taufers gleicht einer Suchbewegung, in der das gesamte Terrain der westdeutschen radikalen Linken vermessen wird: Rebellion gegen die verkrusteten Verhältnisse der Adenauerära in der badischen Provinz, 1968 in Freiburg, Basisgruppe Politische Psychologie in Mannheim, Sozialistisches Patientenkollektiv in Heidelberg, Mitglied des Kommandos Holger Meins der RAF, 20 Jahre Haft, ein Dutzend Hungerstreiks bis an den Rand des Todes, nach der Freilassung ein Jahrzehnt Basisarbeit in den Favelas von Rio de Janeiro, heute im Vorstand des Weltfriedensdienstes. Ein herausragendes Dokument der Zeitgeschichte.

Lutz Taufer wurde 1944 in Karlsruhe geboren. Er politisierte sich in der 68er-Bewegung und schloss sich 1970 dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg an. 1975 beteiligte er sich als Mitglied des Kommandos Holger Meins der RAF an der Geiselnahme und Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm. Er wurde 1977 zu zweimal lebenslänglich verurteilt und verbrachte zwanzig Jahre im Gefängnis. Nach seiner Haftentlassung arbeitete er bei einer brasilianischen NGO in den Favelas von Rio de Janeiro. Lutz Taufer ist heute Vorstandsmitglied des Weltfriedensdienstes.

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Leseprobe

(2) WENDEZEIT


GROSSE KOALITION


1966 wurde die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD gebildet. Ein Machtblock war an die Regierung gekommen, der 90 Prozent aller Abgeordneten hinter sich hatte. Eine parlamentarische Opposition existierte de facto nicht mehr. Und dazu gab es einen Bundeskanzler Kiesinger. Kurt Georg Kiesinger war 1933, wenige Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, der NSDAP beigetreten. Er war kein Mitläufer aus Opportunismus oder Existenzängsten, sondern ein überzeugter Nationalsozialist, der im Reichsaußenministerium zum stellvertretenden Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung aufstieg. Am 7. November 1968 ohrfeigte Beate Klarsfeld den Nazi-Kanzler auf einem CDU-Parteitag. »Ich musste etwas dagegen tun, dass so kurze Zeit nach dem Krieg die Bundesrepublik von einem Nazi regiert wird«, sagte sie zu ihrer symbolträchtigen Aktion, die um die Welt ging.

Kiesinger war nicht der einzige Ex-Nazi im Kabinett. Für Willy Brandt, den Vizekanzler und Außenminister, sollte es ein Kabinett der Versöhnung sein – und zur Durchsetzung der Notstandsgesetze. Für mich war es ein Kabinett der Verhöhnung. Ich sehe noch die Fernsehbilder vor mir, wie Kiesinger unmissverständlich klarmachte, gegen wen er diese Notstandsgesetze einzusetzen gedachte, wenn er bei öffentlichen Auftritten von der APO gestört wurde. Es war die alte antidemokratische Mentalität. Bernward Vesper, Freund von Gudrun Ensslin, hatte in einem Brief an Günter Grass diesen geradezu beschworen, Willy Brandt von der Zustimmung zu den Notstandsgesetzen abzubringen. Vergeblich. Für Grass waren die aufmüpfigen Student*innen »Faschisten im Marxpelz«.

Ein anderer Erinnerungsfetzen, der in meinem Gedächtnis haften geblieben ist, ist ein Foto: Kiesinger begegnet dem spanischen Diktator Franco. Ehrfurchtsvoll vollzieht Kiesinger in seinem Frack einen tiefen Bückling vor diesem blutigen Gewaltherrscher, der zum Tode Verurteilte noch 1974 mit der Garotte, der Würgeschraube, hinrichten ließ. Franco-Spanien war bei weitem nicht die einzige Diktatur, mit der die damaligen Bundesregierungen freundschaftliche Beziehungen pflegten. Auch der Salazar-Diktatur in Portugal war Bonn gewogen. Sie wurde mit deutschen Waffen ausgerüstet, mit denen Salazar seine Kolonialkriege in Afrika und Asien führte.

Versöhnung mit Figuren, die für diese Endmoräne aus Faschismus, Verlogenheit und Verklärung standen und sich nun anschickten, die Notstandsgesetze durchzusetzen? Ich wanderte aus. Nein, nicht in ein anderes Land. Aber ich konnte mich nicht in einem Staat zu Hause und frei fühlen, der wieder von einem Nazi regiert wurde. Wenn mich jemand gefragt hätte, was ich genau wollte, hätte ich darauf schon ein paar Antworten geben können, aber diffuse, unausgereifte. Aber womit ich mich unter gar keinen Umständen arrangieren, versöhnen konnte, das wusste ich sehr genau.

Es war die Geburtsstunde der Außerparlamentarischen Opposition, der APO. Zu diesem Zeitpunkt, 1966, war ich noch nicht dabei. Ich sah mich inzwischen zwar in Distanz zu dem, was regierungs-, partei- und bündnispolitisch veranstaltet wurde, es kam mir aber noch nicht in den Sinn, öffentlich sichtbar etwas dagegen zu unternehmen. Ich hatte noch nicht erlebt, wie befreiend es sein konnte, Widerstand zu leisten.

BENNO OHNESORG


Am 3. Juni 1967 entdeckte ich auf dem Weg zur Mensa einen aus einem Notizbuch gerissenen Zettel, der an den Stamm eines Alleebaums gepinnt war. »Student in Berlin von Polizei erschossen.« Was war geschehen?

Studenten hatten gegen den iranischen Schah Reza Pahlevi demonstriert, einen weiteren blutigen Diktator. Im Jahr 1953 war der demokratisch gewählte Regierungschef Irans, Mohammad Mossadegh, mit einem Putsch, durchgeführt von der CIA und dem britischen MI6, gestürzt worden, weil er die iranische Erdölindustrie verstaatlichen und dem Zugriff einer britischen Oil Company entziehen wollte. Wie anders wäre die Entwicklung in der nahöstlichen Region verlaufen, wenn sich der Westen aus der Region herausgehalten hätte und der regional einflussreiche Iran mit einer demokratisch gewählten Regierung einen unabhängigen Weg hätte gehen können! Und nun weilten der Schah und seine in der Regenbogenpresse bejubelte Gemahlin Farah Diba auf Staatsbesuch in Deutschland. In einem »Offenen Brief an Farah Diba«, den Ulrike Meinhof verfasst hatte und der am Tag vor dem Besuch in ganz Berlin als Flugblatt verteilt wurde, wurden die Verbrechen des Schah-Regimes dargestellt. Am 2. Juni 1967 besuchte das Kaiserpaar, zusammen mit dem Bundespräsidenten und dem Regierenden Bürgermeister, in der Deutschen Oper eine Aufführung von Mozarts Zauberflöte. Studenten protestierten, der Diktator hatte vor dem Schöneberger Rathaus seine Prügelgarde abgeladen, die unter den Augen der Berliner Polizei mit langen Latten auf die Demonstranten eindrosch. Der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss den Studenten Benno Ohnesorg. Vor Gericht wurde er freigesprochen. Dass er in seiner Funktion als Stasi-Agent gehandelt hatte, als der er vor ein paar Jahren entlarvt wurde, konnte nicht bewiesen werden.

Benno Ohnesorg war Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin gewesen. Ein Freund erzählte mir kürzlich, wie engagiert er den eher zurückhaltenden Ohnesorg erlebt hatte. Eine Ausstellung zum Vietnamkrieg war vom FU-Rektor verboten worden. Daraufhin erhielt die Ausstellung Asyl in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde. Benno Ohnesorg war einer derjenigen, die sich für die Ausstellung einsetzten.

Der Tod von Benno Ohnesorg war ein Wendepunkt in meinem Leben, ein weiterer Wendepunkt sollte sieben Jahre später der Tod von Holger Meins sein.

In der Mensa sammelte ich alle Flugblätter ein, derer ich habhaft werden konnte. Bis dahin hatte ich sie, wenn sie mir in die Hand gedrückt worden waren, zerrissen und weggeworfen. Polizeikugeln auf Demonstranten – das warf plötzlich ein grelles Licht auf mein eigenes Leben. Ich hatte das Gefühl, als hätte auch mich die Kugel aus einer Polizeipistole gestreift. Hatte ich nicht genau hingeschaut? Bei aller Distanz zum Vorgefundenen etwas falsch eingeschätzt? Mir selbst etwas vorgemacht? Schüsse auf Demonstranten – so etwas kannte ich bisher nur aus den finstersten Polizeistaaten dieser Welt, irgendwelchen Diktaturen in Südamerika oder dem südafrikanischen Apartheidstaat. Nachmittags ging ich zu meinem ersten Teach-in und verstand eigentlich nur Bahnhof. Warum redeten die SDS-Genoss*innen so geschwollen?

Vor ein paar Monaten traf ich auf einem Seminar mit dem Titel »Neue Heimat Deutschland« einen jungen Iraner. Er war im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen, hatte hier Psychologie studiert und moderierte jetzt sehr kompetent einen Workshop zum Thema »Dialogmoderation zwischen den Kulturen«. Da ich weiß, dass seine deutschen Altersgenoss*innen kaum etwas über die 1950er und 1960er Jahre wissen, fragte ich ganz vorsichtig: »Habt ihr den Namen Mossadegh schon mal gehört?« Er schaute mich verdutzt an. »Ja, selbstverständlich! Das iranische Volk hat das nicht vergessen.« Vermutlich wäre uns manches erspart geblieben, die Mullahs, der Islamische Staat und die Taliban, wenn der westliche Imperialismus sich aus der Region herausgehalten hätte.

Die 68er-Bewegung richtete sich nicht nur gegen den Vietnamkrieg, sondern gegen Diktaturen weltweit und ihre Unterstützung durch die bundesrepublikanische und US-Regierung. Sie war solidarisch mit den Befreiungsbewegungen im globalen Süden. Ihre Solidarität und ihr Selbstverständnis waren internationalistisch. Das ist heute weitgehend verloren gegangen.

Die Solidarität mit der iranischen Bevölkerung, mit der CISNU, der oppositionellen Konföderation Iranischer Studenten, später den Widerstandsorganisationen Volksfedajin und Volksmudschahedin, war kein abstrakt-analytisch abgeleiteter Imperativ für uns. Die iranischen Kommilitonen saßen neben uns auf den Hörsaalbänken, oft waren sie vor dem Schah-Regime geflohen oder mussten wegen oppositioneller Aktivitäten Verfolgung oder Auslieferung fürchten. Ein Freund, Ekkehard, hatte damals eine iranische Studentin, Nahid, geheiratet, um sie vor der Auslieferung zu schützen. Beide lernte ich Jahre später im Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) kennen. Mehr als einmal war ihre Angst vor der Auslieferung an die iranischen Folterschergen, denen die westdeutschen Behörden zuarbeiteten, Thema in unseren Gruppensitzungen.

MEINE ERSTE STRASSENSCHLACHT


Typischer 68er war ich dennoch nicht. Ich habe mich viel zu spät an der Revolte beteiligt. Bei den Kongressen, Debatten, militanten Aktionen in den Zentren der Bewegung, etwa in Berlin oder Frankfurt, war ich nicht dabei, weder beim Vietnamkongress noch bei Kampagnen wie »Zerschlagt die Nato« und anderem mehr, Aktivitäten, die oft mehr von Wunschdenken und Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse als von Realitätssinn geprägt waren. Immerhin, als in den Bewegungszentren viele die...

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