Weltanschauliche und historisch-politische Grundüberzeugungen Adenauers und Ulbrichts
Politik auf festen weltanschaulichen Grundlagen und Wertevorstellungen
Adenauers wie Ulbrichts Überzeugungen ruhten auf festen weltanschaulichen Fundamenten, die für sie die großen Orientierungsrahmen abgaben. Es handelte sich um Anschauungen, die im eigenen sozialen Milieu vorherrschten und die sie vorwiegend als Autodidakten für sich ausgeformt und politisch handhabbar gemacht hatten. Poppinga bescheinigt Adenauer eine »Durchschnittsbildung der gehobenen Bürgerschicht seiner Zeit«, angereichert durch die selbst miterlebte Geschichte.92 Im Kloster Maria Laach, wo er sich 1934 verborgen hielt, las Adenauer Geschichtswerke, befasste er sich mit römischer Geschichte und kunsthistorischen Monografien. Zu seinem Lesestoff gehörten die päpstlichen Enzykliken, vor allem Rerum Novarum und Quadragesimo Anno, die ihn – so sein Biograf Paul Weymar – inspirierten, im Geiste christlicher Nächstenliebe den Klassenkampf zu überwinden und eine Entproletarisierung des Proletariats zu bewirken.93
Ulbricht hatte sein Volksschulwissen im Jugendbildungsverein und durch Parteischulungen wie durch eigene Leseerlebnisse erweitert.94 Er hat sich darauf berufen, dass er nach angestrengter Tagesarbeit noch Schriften von Marx und Engels studierte.95 Auf dem VII. Parlament der Freien Deutschen Jugend berichtete er den Delegierten: »Als wir junge Gewerkschafter waren, Vertrauensleute im Betrieb, da haben wir gelesen: das ›Kommunistische Manifest‹, Marx’ ›Lohnarbeit und Kapital‹ und Marx’ ›Lohn, Preis und Profit‹. Das war das ABC für das Grundwissen, das wir als junge Gewerkschaftsfunktionäre brauchten. Später haben wir noch einige andere Werke gelesen.«96
Was die Inhalte betrifft, so konnten die Grundüberzeugungen und Wertevorstellungen beider Staatsmänner gegensätzlicher kaum sein. Und diese wurden von beiden ohne erkennbare Selbstzweifel unbeirrt verfochten. Sie bildeten den geistigen Nährboden politischer Entscheidungen und das Arsenal, aus dem die Argumente zu deren Begründung und Propagierung geschöpft wurden. Noch bevor vom »Kampf der Kulturen« die Rede war, hatte Adenauer einen »Kampf der Weltanschauungen, der sich über die ganze Welt erstreckt« im Blick97 – eine Sichtweise, der Ulbricht nicht widersprochen hätte.
War Adenauer eher eine Abneigung gegen theoretisches Denken eigen – er war jedenfalls kein systematisierender Theoretiker –, so zeichnet er sich doch durch Klarheit und Folgerichtigkeit seiner Überlegungen und der ihnen entspringenden Konzeptionen aus, durch den nüchternen Rationalismus des geschulten Juristen.98 Er warnte vor der Gefahr, über höhere, abstrakte Ziele die praktische Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren.99 Er setzte vor allem auf den hohen Wert von Erfahrungen als »die Saatkörner, aus denen Klugheit erwächst«.100 Und diese Erfahrung lehrte ihn, verwirrende Ereignisse auf einfache Nenner bringen, »Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach sind«.101
Grundüberzeugungen räumte Adenauer einen hohen Stellenwert ein. So erklärte er, was sich auch manche Linke zu Herzen nehmen könnten: »Und wenn wir die geistigen Grundsätze unserer Partei zurücktreten lassen, dann gerät alles ins Rutschen, das geht an die Wurzel der CDU, das geht an das Fundament.«102 Das Grundverständnis, mit dem Adenauer seinen Kampf der Weltanschauungen führen wollte und auch tatsächlich führte, war seine Auffassung von der Rolle des »christlichen Abendlandes« und dessen Wurzeln in der Antike. Dies zeugte jedoch auch von einer gewissen Enge. So sah dies jedenfalls Walter Lippmann: »Sein Horizont ist ohne seine persönliche Schuld irgendwie eng geblieben. Er ist kraft eigener Einsicht ein guter Europäer. Aber sein Europa endet an den Grenzen des alten Römischen Reiches, unter Ausschluss eines großen Teils seines eigenen Landes.«103
Adenauer propagierte ein christlich-abendländisches Menschenbild, in dessen Zentrum das freie Individuum stand. Dass die Wurzeln unserer Kultur nicht im Abendland, sondern im Morgenland – im Vorderen Orient – liegen, Jahrtausende vor Entstehung des Christentums, blieb in solcherart Abendlandideologie ausgeblendet. Wie auch verschwiegen wurde, dass es moslemische Araber waren, denen wir die Überlieferung der von einer ignoranten katholischen Kirche verfemten kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Antike in erster Linie verdanken. Entscheidend sei für Adenauer gewesen, resümiert Annelies Poppinga, dass Wert und Würde des Menschen von Gott gegeben ist.104 Er habe sich gegen eine Gleichrangigkeit von Freiheit und Gleichheit gewandt. Gleichheit akzeptierte er nur als Gleichheit der Chancen, Gleichheit vor dem Gesetz; oberster Wert war Freiheit.105 Siegfried Thomas hat Adenauers ideelle Leitlinien als Grundüberzeugungen charakterisiert, »die sich aus seiner sozialen Stellung als Repräsentant der deutschen Großbourgeoisie rheinisch-westfälischer Prägung, seiner katholischen Weltanschauung und entsprechenden Schlussfolgerungen aus der nationalen und internationalen Situation ergaben«106.
Von einer dogmatischen Warte her erklärte Adenauer den Materialismus zur Wurzel aller Übel. Er verstieg sich hier zu den seltsamsten Konstruktionen. Schon auf dem Katholikentag von 1922 verkündete er: »Materialismus, Unsittlichkeit, Autoritätslosigkeit, das sind die Krankheiten, die unser Volk in größtem Ausmaße befallen haben.«107 Bereits im Gefolge der Reichseinigung und der Industrialisierung sei »das verheerende Umsichgreifen des Materialismus« erfolgt.108
Als Kölner Oberbürgermeister erklärte er 1919 bei Eröffnung der Universität, Deutschland sei »an der Unterschätzung des geistigen Elements, an der Überschätzung der Macht des Materiellen« zugrunde gegangen. In der zitierten Rede auf dem Katholikentag wiederholte er: »Die Saat, die der Materialismus gestreut hat, ist furchtbar aufgegangen. Ihre letzte und scheußlichste Frucht ist der Krieg. Die untrennbar mit der materialistischen Weltauffassung verbundene Herrschsucht der Völker hat ihn herbeigeführt.«109
Indem Adenauer sein vulgäres Verständnis von Materialismus auch dem Marxismus unterstellte, zurrte er ein Feindbild fest, in das er selbst die reformistische Sozialdemokratie einbezog.110 Denn der Marxismus als »Diesseitsreligion« sei »Gegenpol des Christentums«111, er befördere den Materialismus, den Klassenkampf, er sei Feind der Freiheit.112 Wirklich ernsthaft hat er sich mit der marxistischen Theorie nie befasst. Anastas Mikojan bekannte er in einem Gespräch, er habe »auch einmal in ›Das Kapital‹ hineingesehen […] es aber ganz einfach nicht begriffen.«113
Dass demzufolge die UdSSR für Adenauer »wichtigster Repräsentant des Materialismus, Inkarnation der Staatsomnipotenz«114 war, versteht sich von selbst. Der Verfasser der autorisierten Adenauer-Biografie Paul Weymar115 hat diese Position wie folgt zusammengefasst: »Bei der großen Auseinandersetzung, in der wir heute stehen, handelt es sich um den Gegensatz zwischen verschiedenen Weltanschauungen: Der Demokratie, die letzten Endes auf der christlichen Auffassung von der Freiheit der Person beruht, und einem Weltbild, in dem das Kollektiv über die Freiheit der Person gestellt wird. Diese Anschauung, ob sie nun Nationalsozialismus oder Kommunismus heißt, wurzelt immer im Materialismus und führt folgerichtig und unausweichlich zum totalen Staat.«116 Selbst innerhalb von Demokratien bestehe die Gefahr der Vermassung im Zuge moderner Kommunikationstechnik. Gegengewichte könnten nur geschaffen werden, indem das soziale Leben mit christlichem Geist durchdrungen wird, Befreiung von der Angst vor Hunger und Elend, familiengerechtes Heim, Freizeit, christliche Erziehung der Jugend.117
Als Ausdruck tiefer Frömmigkeit und Glaubenstreue sollten wir Adenauers politisch motivierte Weltanschauung nicht verstehen. Er wurde zwar zum frommen Christen erzogen, er besuchte regelmäßig die Messe und hatte eine Vorliebe für sakrale Kunst. Doch fühlte er sich mehr dem Evangelium als der katholischen Dogmatik verpflichtet118, »wesentlich geprägt durch den Schweizer Philosophen und Moraltheologen Carl Hilty«119. Wenn er sich frühzeitig für eine politische Union von Katholiken und Protestanten erklärte120, ging es ihm um die Stärkung des bürgerlich-konservativen Lagers, nicht um Ökumene im christlichen Sinne. Adenauers Vertrauter, der Bankier Robert Pferdmenges, lobte seine »religiöse Weitherzigkeit«.121 Die Formulierung »Gott ist der Herr der Geschichte und der Völker, Christus die Kraft und das Gesetz unseres Lebens« gehörte nach Ansicht Adenauers nicht in das Parteiprogramm der CDU.122 Seine Weihnachtsansprache als Bundeskanzler im Jahre 1951 war alles andere als eine spirituelle Botschaft.123 Für Empfehlungen und Ratschläge kirchlicher Würdenträger war er nicht so offen, wie diese es erwarteten.124 Als klerikale Kreise eine Neubelebung der Zentrumspartei unterstützten,...