UMWEGE
Das mit den Umwegen hat bei mir früh angefangen. Ich bin in Luzern geboren und bis zu meinem dreizehnten Altersjahr fünfmal umgezogen. Ich machte mit meinen Eltern eine Tour de Romandie mit Halt in Lausanne, Genf und Neuenburg, bevor wir uns im Kanton Zug niederliessen. Kann sein, dass das Reisen in der DNA meiner Familie festgeschrieben ist, auf Vaters Seite waren nämlich in der Vergangenheit einige Bewegungen zu verzeichnen. Mein Basler Grossvater ist wegen eines Jobangebots in den Orient gereist, die Familie meiner Grossmutter kam ursprünglich aus Deutschland und machte einen Zwischenstopp in Griechenland, bevor sie in die Türkei weiterzog. Meine Grosseltern lernten sich in Istanbul kennen und gründeten dort eine Familie.
Auch beruflich habe ich keinen direkten Weg eingeschlagen. Während des Gymnasiums wollte ich Lehrer werden. Ein paar meiner Verwandten hatten diesen Beruf gewählt, und ich hatte mich in der Primarschule ganz wohl gefühlt. Darum dachte ich, ich würde später gern mal selber vorn an der Wandtafel stehen. Vielleicht hatte mein erster Berufswunsch aber auch mit dem dünnen Angebot bei den damaligen Berufsberatern zu tun. Die Liste der Ausbildungen und Tätigkeiten war extrem übersichtlich. So etwas wie Moderator oder Journalist kam darin nicht vor.
Umwege sind lästig. Man verliert Zeit und Orientierung und ist verunsichert. Und wenn man endlich ankommt, ist die Party vorbei! Als Mann ist man ja von klein auf darauf konditioniert, ganz vorn mitzuspielen. Das Leben ist kompetitiv, jeder möchte oben auf dem Podest stehen, die schönste Frau kriegen, die edelsten Zigarren rauchen und das teuerste Auto fahren. Man wird es zwar mit jeder Garantie nicht schaffen, überall zu gewinnen. Aber das Streben danach treibt einen an. Darum meidet man Umwege wie der Teufel das Weihwasser.
Es gibt aber auch Menschen, denen Umwege egal sind. Sie lassen sich treiben. Sie driften, je nachdem, woher der Wind weht, einmal in diese, einmal in jene Richtung. Sie sind weder ehrgeizig noch zielstrebig. Sie leben nach dem Motto »Der Weg ist das Ziel«, und es ist ihnen einerlei, wenn das Ziel weg ist. Dafür gelangen sie an Orte, von denen sie vorher noch nie gehört haben. Ich habe mich während des Schreibens dieses Buches oft treiben lassen. Die ursprüngliche Idee eines Taxi-Reports hatte mir ein Schnippchen geschlagen, und ich musste zusehen, wie sie sich von mir entfernte. Ich musste das Projekt gründlich überdenken. Aber ich wollte mir den Luxus leisten, frei zu assoziieren. Ich wollte aus dem strukturierten, fernsehformatierten Leben ausbrechen. Nicht jede Idee im Team diskutieren müssen. Ich wollte selber bestimmen, welche Spur ich verfolgen wollte und welche nicht. Ich wollte meine eigenen Fehler machen können. Manchmal verirrte ich mich und musste auf meinen Spuren zurück zur letzten Abzweigung gehen. Umwege eben!
Ich bin kein Tagträumer, dem es gleichgültig ist, wohin die Reise geht. Wenn ich nicht gerade ein Buch schreibe, so wie jetzt, schaue ich voraus, nehme mir etwas vor und verfolge Strategien, damit es so kommt, wie ich es mir vorstelle. Ich bin überzeugt vom Sinn von Strukturen, Verträgen, Protokollen und Fahrplänen. Ich kann mich auch kindisch im Voraus freuen auf das, was ich hoffentlich bald erreicht haben werde. Und mich grün und blau ärgern, wenn ich scheitere. Schon klar, dass man aus Fehlern am meisten lernt. Aber auf die Schnauze fallen tut trotzdem weh.
Wir sind unser Berufsleben lang umgeben von Fragen, die sich um unsere Zukunft drehen. Ich war noch keine dreissig Jahre alt, als mich die Personalabteilung des Schweizer Radios fragte, ob ich mich dereinst mit zweiundsechzig oder mit fünfundsechzig Jahren pensionieren lassen wolle. Das war die falsche Frage im falschen Moment, denn ich hatte noch keine Sekunde darüber nachgedacht. Das Thema der Vorsorge war mir aber, ohne dass ich es gemerkt hätte, schon viel früher begegnet, nämlich als Kind, als ich mein erstes Sparschwein geschenkt bekam. Da wurde der Samen gesetzt für mein späteres Verhalten. Sparen wurde zur Gewohnheit, und Schulden waren ein No-Go. Seit ich denken kann, lege ich etwas für schlechtere Zeiten beiseite, so wie es unsere Ahnen schon taten: im Sommer Vorräte bunkern, damit man den Winter überlebt. Die Fabel von der Grille und der Ameise von La Fontaine erzählt, wie man scheitern kann, wenn man diese Regel nicht befolgt. Wir bunkern zwar längst keine Kartoffeln oder Äpfel mehr, dafür Geld – damit wir in schlechten Zeiten Kartoffeln oder Äpfel kaufen können. Auch eine Art Umweg.
Umwege sind bei der Wahl des Partners oder der Partnerin besonders unangenehm. Bei der Hochzeit ist man noch voller Zuversicht, dass man ewig zusammenbleibt, weil man die Einzige, die Richtige, den Besten und Stärksten gefunden hat. Ein paar Jahre später sieht die Realität anders aus, und die Bedürfnisse der Eheleute driften auseinander. Die einen ziehen die Konsequenzen und brechen aus, die anderen setzen auf Kontinuität und bleiben auf ihrem Gleis. Ich habe die erste Variante gewählt, werde aber in diesem Buch keine Details aus meinen persönlichen Beziehungskrisen preisgeben. Eine Enttäuschung vielleicht für jene, die hier eine intime Lebensbeichte von mir erwartet haben. Aber ich kann und will das nicht. Nichts ist weniger sexy, als öffentlich schmutzige Wäsche zu waschen.
Dieses Buch ist eine Reise durch mein Leben. Seit einigen Jahren bin ich fast pausenlos unterwegs, als Beobachter von Hilfsprojekten, als Fernsehmoderator, als Reiseleiter oder als Privatmensch und neugieriger Entdecker. Ich war an Orten auf dieser Welt, wo kaum je ein Tourist hinkommt. Für die Sendung »Happy Day« habe ich Menschen, die zur Adoption freigegeben worden waren, zu ihren leiblichen Eltern geführt, die am anderen Ende der Welt in ärmsten Verhältnissen lebten. Es waren die emotionalsten Begegnungen, die man sich vorstellen kann: erlösende Momente nach jahrelangem Fragen und Suchen. Ich habe freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation Comundo in ihrem Alltag begleitet. Ihre Arbeit fern der Heimat, in Gebieten, in denen Armut und Hoffnungslosigkeit herrschen, hat mich tief beeindruckt. Zudem war ich als professioneller Reisebegleiter mit Gruppen unterwegs, auf Schiffen (Kreuzfahrten: die edelste Art, Umwege zu machen!), in Zügen und in Bussen, in feuchtheissen und nasskalten Breitengraden, mit alten, jungen, erfahrenen, neugierigen, gesunden, aber auch mit körperlich oder geistig behinderten Gästen.
Eine sehr günstige und sichere Art des Reisens ist das Lesen. Die Literatur bietet die Möglichkeit, sich ohne Risiko an die Fersen von Menschen zu heften, die die wildesten Abenteuer erleben. Ob sie erfunden oder wahr sind, ist nicht so wichtig. Arto Paasilinnas Roman »Der wunderbare Massenselbstmord« – diese Odyssee einer Gruppe von lebensmüden Männern und Frauen unterwegs in einem Bus quer durch Europa auf der Suche nach einer geeigneten Klippe – begeistert mich ebenso wie die Dialoge der beiden Männer in Markus Werners »Am Hang«, die auf einer Restaurantterrasse im Tessin über Liebe und Treue debattieren. Das Tagebuch des Reporters Andreas Altmann, der auf seinen Reisen Bettlern Geschichten abkauft, fesselt mich ebenso wie die Autobiografie von Keith Richards, der sein wildes Rock-’n’-Roll-Leben vor dem Leser ausbreitet und dabei immer wieder durchblicken lässt, wie wichtig ihm die Geborgenheit seiner Familie ist.
Noch eine letzte Art des Verreisens sei erwähnt: die Musik. Ich bin von Kindesbeinen an ein Hörer und Geniesser. Meine Mutter spielte auf dem Klavier Bach, während ich zu ihren Füssen zuhörte und der Hund jaulte. Ich habe mein Leben lang in Chören gesungen und mich zu jeder Zeit intensiv mit Musik befasst, sowohl mit Klassik als auch mit Pop und Jazz. Das Radio war mir immer ein treuer Begleiter. Zunächst mit sehr beschränkten Empfangsmöglichkeiten, auf Mittel- oder Kurzwellen, mit viel Knacken und Rauschen und einem eintönigen Programmangebot. Auf Radio Beromünster gab es Volksmusik, die Deutschen spielten Schlager und eingedeutschte amerikanische Hits, die Franzosen Chansons. Die Musik aber, die wir als Junge gern gehört hätten – Pop und Rock aus England und den USA –, war bei uns in der Originalversion fast nirgends zu hören. Später war ich einige Jahre lang Radiomoderator und habe bei Sendern gearbeitet, die rund um die Uhr Popmusik spielten. Inzwischen ist auch das nicht mehr weltbewegend. Die Mehrzahl der Radios ist heute nach strengen Vorgaben formatiert, man spielt die grossen Hits rauf und runter, die Sender klingen alle zum Verwechseln ähnlich.
Aber es gibt Ausnahmen. Erlaubt sei mir hier eine kleine Schwärmerei für einen Sender, der mir das Herz öffnet, wann immer ich ihn einschalte: Fip von Radio France! Meine Begeisterung dafür ist grenzenlos. Ich entdecke hier im Stundenrhythmus neue, elektrisierende, inspirierende, animierende, neugierig machende Musik. Die Macher von Fip kennen keine Grenzen, sie oszillieren zwischen Pop und Ethno, Jazz und Punk, Klassik und Chansons, Latin und Rock hin und her. Man spürt, dass es Menschen mit Wissen, Erfahrung, Lust und einem feinen Gehör sind, die dieses Musikprogramm zusammenstellen. Werbung gibt es nicht, Jingles auch nicht, die Stimmen kommen von den »fipettes«, den Moderatorinnen, die ihre Kommentare zur Musik und gelegentliche Veranstaltungshinweise aus Paris ins Mikrofon hauchen. Eine Offenbarung für alle Musikliebhaber. Ich wünschte mir, die SRG würde Radio Swiss Pop, Radio Swiss Jazz und Radio Swiss Classic zu einem Programm verschmelzen und noch ein bisschen Geld investieren für kreative...