Kapitel 1
Frau Kerner und die Spreewaldgurken
Wenn Sie aufwachen – und es ist gestern
Die jungen Männer arbeiten hart, damit die Zimmereinrichtung rechtzeitig fertig wird. Erst schleppen sie die Möbel hinein: das Bett, den Schrank, den Nachttisch, den Sekretär, die Lampen mit den altmodischen Schirmen, einen grauen Polsterhocker. Sie drapieren gerahmte Landschaftsbilder an der Wand, beziehen das Bett, hängen verblichene gelbe Gardinen auf.
Die Mutter kommt aus dem Krankenhaus zurück. Sie hatte einen Herzinfarkt erlitten und monatelang im Koma gelegen. Jetzt soll sie sich zu Hause erholen. Jegliche Aufregung muss vermieden werden, damit sie keinen Rückfall erleidet. Familie und Freunde begrüßen sie, als sie endlich daheim zu vollem Bewusstsein erwacht. Zwei Kinder singen ein traditionelles Lied.
»Es hat sich ja gar nichts verändert hier«, stellt die im Bett liegende Mutter halb dankbar, halb ungläubig fest.
»Was soll sich auch schon verändert haben?«, fragt der Sohn achselzuckend zurück.
Dem Zuschauer entgehen weder die verhaltene Erleichterung des Sohnes noch sein schelmisches Lächeln. Glück gehabt – die Mutter hat nichts gemerkt!
Als ich Good Bye, Lenin! zum ersten Mal sah, habe ich andauernd lachen müssen. Obwohl der Film eine tragische Geschichte erzählt, sind die meisten Szenen schreiend komisch. So wie die, als Alex Kerner, der Sohn der kranken Frau Kerner, im Müll nach alten Gläsern wühlt, um sie mit DDR-Etiketten zu bekleben und mit eingelegtem Gemüse zu füllen, das er im KaDeWe gekauft hat. Schließlich liegt die Wende schon fast ein Dreivierteljahr zurück. Aber was soll er machen, wenn seine nichtsahnende Mutter unbedingt nach Spreewaldgurken verlangt?
Unvergesslich auch die Szene, als Alex die versteckten Ersparnisse der Mutter, die endlich wieder aufgetaucht sind, vom Dach in den Wind streut – die Frist zum Umtauschen von Ostmark ist längst verstrichen. Abgesehen von diversen finanziellen Engpässen muss der Sohn immer größeren Aufwand treiben, um die Illusion einer weiterbestehenden DDR auf 79 Quadratmetern aufrechtzuerhalten. So dreht er zusammen mit einem Freund eigene Ausgaben der »Aktuellen Kamera«, die er per Videoband einspielt – während aus der Nachbarwohnung die »Tagesschau«-Fanfare herüber tönt. Völlig baff vermutet Frau Kerner, der Nachbar schaue illegal »Westfernsehen«.
All diese Irrungen und Wirrungen dienen nur einem einzigen Zweck: Frau Kerner soll ja nicht merken, dass sich die Welt vor ihrem Fenster nicht nur weitergedreht, sondern von vorne bis hinten umgekrempelt hat.
Um einen Film wie Good Bye, Lenin! zu machen, brauchen die Drehbuchschreiber, der Regisseur und nicht zuletzt die Schauspieler eine gehörige Portion Phantasie. Jemandem eine Scheinwelt vorzugaukeln, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört, darauf muss man erst mal kommen.
Skurril? Klarer Fall!
Unrealistisch? Zugegeben.
Abwegig? Ich fürchte, wenn Sie das glauben, dann tappen Sie in eine böse Falle. Die Scheinwelt der Frau Kerner aus Good Bye, Lenin! hat mit Ihnen, mit mir und mit uns allen mehr zu tun, als wir auf den ersten Blick glauben könnten.
»Ah, mein Schwager kann so toll kochen, das schmeckt wie im Nobelrestaurant!«
»Meine Cousine spielt umwerfend Geige. Sie hat sogar schon ein Streichquartett gegründet, und die vier gehen nächste Woche auf Konzerttournee durch Süddeutschland!«
»Ein Bekannter von mir ist der beste Stürmer seiner Fußballmannschaft – der könnte glatt in der Bundesliga spielen!«
»Meine Schwester ist ein wandelndes Lexikon, bei Wer wird Millionär? würde die ohne Joker 125.000 Euro abräumen!« Bestimmt haben auch Sie sich schon einmal bei einem ähnlichen Gedanken ertappt.
Nein?
Wie wär’s damit:
»Ach, ich würde ja so gerne mal eigene Rosen züchten!«
»Auf der großen Bühne vor 1000 Opernbesuchern Puccinis Arie O mio babbino caro singen – das wäre episch!«
»Ich müsste endlich mal lernen, wie man schreinert! Mein antiker Schrank wartet seit Jahren im Keller darauf, restauriert zu werden. Wer soll es machen, wenn nicht ich? Wo ich doch eh so gern mit Holz umgehe …«
»Wär’ ich doch nur sportlicher – mein Tennisschläger verstaubt in der Ecke, dabei wollte ich schon so lange mal bei einem Turnier mitspielen!«
Sie schütteln immer noch den Kopf? Dann dürften Sie aber wenigstens zugeben, dass Sie irgendwann schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, was wohl wäre, wenn Sie plötzlich Zeit hätten, etwas ganz anderes zu tun als das, was Sie zu tun gewohnt sind.
»Wäre ich kein gut bezahlter Vertriebsmensch, würde ich alles hinschmeißen und als Ranger im Nationalpark Bayerischer Wald arbeiten!«
»Wenn ich jetzt nicht die Steuererklärung machen müsste, dann würde ich mein Teleskop aufstellen und nach unentdeckten transneptunischen Objekten suchen!«
»Wenn ich anstelle eines 40-Stunden-Jobs eine reiche Erbtante hätte, dann würde ich meine Wohnung auflösen, mir ein Boot zulegen und allein um die ganze Welt segeln!«
»Sobald ich im Ruhestand bin, werde ich die freie Zeit nutzen, um meine Memoiren zu schreiben. Wird bestimmt ein internationaler Bestseller!«
Falls Sie sich auch nur ein einziges Mal von Gedanken wie solchen heimgesucht fühlten: Dann haben Sie ganz viel mit Frau Kerner gemein. Dann sind Sie letztlich irgendwann auch auf der Stelle stehengeblieben.
Das muss nicht Ihren Beruf betreffen. Sie können sehr wohl als Selbstständiger oder auch als Angestellter eines Unternehmens eine steile Karriere hingelegt haben. Und doch gibt es in Ihrem Leben anscheinend Dinge, die auf der Strecke geblieben sind. Vielleicht kratzt Sie das im Alltag nicht mal sonderlich. Trotzdem sind da diese Wunschträume, an die Sie hin und wieder denken und die Sie bisher ums Verrecken nicht in die Tat umsetzen konnten oder wollten. Die Gedanken, die Sie sich darüber machen, sind im Grunde verschleierte Botschaften Ihres Gewissens. Meistens gibt es zwei dieser Botschaften. Lassen Sie mich dolmetschen.
Erstens: »Die Leute um mich herum sind viel weiter als ich. Sie verbinden berufliche und private Interessen und sind glücklich damit. Ich dagegen ackere und ackere, um Geld in die Kasse zu spülen, und meine Hobbys bleiben dabei auf der Strecke. Andere Menschen leben ihren Traum doch auch! Wieso kann ich das nicht?«
Und zweitens: »Im Gegensatz zu den Leuten um mich herum bleibe ich total unter meinen Möglichkeiten. Ich schaffe es einfach nicht, mein Potenzial voll auszuschöpfen, meine Begabungen zu fördern, meinen Leidenschaften nachzugehen. Und egal, wie ich es anstelle, ich kriege es nicht hin, mir den Traum einer glücklichen Beziehung zu erfüllen. Meine Kollegen sind verheiratet, haben Kinder, und ich … gerate immer wieder an den Falschen. Oder meine ureigenen Talente verkümmern, weil ich alle Zeit und Kraft zum Geldverdienen brauche.«
Anders gesagt: Sie sind zum Stillstand gekommen. Sie entwickeln sich nicht weiter. Wie Frau Kerner. Die Welt hat sich weitergedreht. Sie ist die Einzige, die jeden Tag aufwacht, ohne dass es jemals morgen wird. Es bleibt für immer gestern. Schlimm genug, dass sie es nicht mal merkt.
Und täglich grüßt dein Lebenstraum
»Lebensträume« sind Wünsche, die immer wieder in Ihrem Kopf auftauchen. Die Sie eine Zeit lang intensiv beschäftigen. Verdrängen Sie sie, ploppen sie sogar Jahre später wieder auf.
Die meisten Menschen werden in Momenten der Ruhe und Muße von ihren Träumen überfallen – wenn sie etwas Abstand zum Alltag gewonnen haben, etwa bei einem Wochenendausflug, beim Joggen, im Urlaub, in einer ungewohnten, fremden Umgebung. Andere wiederum werden plötzlich »geflasht« von einem Bild oder Gedanken, während sie etwas sehen oder tun, was sie an den Traum erinnert.
Was könnten Lebensträume sein? Hier ein paar konkrete, reale Beispiele:
- einmal im Leben Wale, den Turm von Pisa, die Freiheitsstatue, Koalas in der Wildnis sehen
- nach Kairo auswandern
- einmal zurück an meinen Geburtsort reisen
- einen Oldtimer restaurieren
- Xylophon spielen können
- in einer Band singen
- einmal dem Nachbarn, den ich seit Jahren dulde, so richtig die Meinung geigen
- den kompletten Jakobsweg alleine gehen
- einen Monat lang Schweigemeditation schaffen
- ein Haus selbst designen und bauen
- ein Roadtrip durch alle Staaten der USA
- Zaubern können
- Genauso viel Ferien haben wie meine Kinder
- mit meinem Partner eine sechswöchige Cabrio-Tour durch Deutschland machen
- mit Kunst Geld verdienen
- ein Modelabel aufmachen
- noch mal studieren
- als Comedian auftreten
- einen Motor auseinandernehmen, verstehen und wieder zum Laufen bringen
- zwei Jahre in einem Krisenland im Team der Ärzte ohne Grenzen arbeiten
- ein Buch veröffentlichen
- einen tollen Garten anlegen
Sie sehen, Lebensträume können klein oder groß sein, materiell oder immateriell, langjährige Projekte oder von kurzer Dauer. Das Interessante daran: Sie sind höchst individuell. Was den einen berührt und erfüllt, ist für den anderen komplett...