Kürzlich las ich in der Zeitung, »psychosomatische Erkrankung« sei in Deutschland mittlerweile die am häufigsten gestellte ärztliche Diagnose. »Schön«, sagt da der aufgeklärte Zeitgenosse, »nun beginnt also die Medizin endlich zu berücksichtigen, welch großen Anteil psychische Faktoren am Entstehen körperlicher Krankheiten haben.« »Gar nicht schön«, meinen hingegen diejenigen, denen die Diagnose gestellt wurde. Denn genau wie ich damals empfindet jeder von ihnen seine Beschwerden als ganz real körperlich. Es schmerzt der Rücken und nicht die Seele, das spürt man ganz genau. Wenn man sich vor Bauchschmerzen windet, fühlt man sich verhöhnt, wenn einem mitgeteilt wird, das sei alles psychisch. Und ein anderer, dem so schwindlig ist, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann, soll sich das alles nur einbilden? Das kann nicht sein, es muss eine körperliche Ursache für die Beschwerden geben. Genauso empfindet es die Frau mit dem Harnverhalt und der Mann mit dem übermäßigen Harndrang, die mit dem Kloß im Hals und der mit dem Herzstechen, die mit dem Kopfschmerz und der mit der Atemstörung. Es muss eine körperliche Krankheit dahinterstecken – und zwar wahrscheinlich eine ganz schlimme, denn sonst hätten sie niemals solche massiven Beschwerden. Diese Krankheit hat der jetzige Arzt nur noch nicht gefunden, also geht man zum nächsten. So beginnt ein »doctor hopping«, eine meist jahrelange Arzt- und Klinikodyssee.
Außenansichten
Aus der Fachliteratur war mir das Problem seit langem bekannt: Kranke mit unklaren Beschwerden werden oft jahrelang medizinisch fehlbehandelt, bis endlich die Diagnose »psychosomatisch« gestellt wird. Gerade Patienten mit schwereren Störungen akzeptieren diese Diagnose jedoch nicht und ziehen stattdessen weiter von Arzt zu Arzt. Patienten ohne organischen Befund gelten daher als solche mit »hoher Inanspruchnahme des Gesundheitswesens«. Laut einer deutschen Studie von Hessel und Mitarbeitern aus dem Jahre 2004 gehen Patienten wegen sogenannter somatoformer Beschwerden (Erkrankungen ohne organischen Befund) im Verlauf von zwei Jahren durchschnittlich 18-mal zum Arzt und sind durchschnittlich 20 Tage krankgeschrieben. Die medizinischen Kosten, die durch diese Patienten ausgelöst werden, überstiegen (in einer amerikanischen Studie) die durchschnittlichen medizinischen Pro-Kopf-Ausgaben um das Vierzehnfache (Smith 1994). Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Arbeitsausfälle und weitere Folgen der Erkrankung sind hier noch nicht berücksichtigt. Ausgerechnet diejenigen, die offiziell »gar nichts haben«, beschäftigen also die Medizin am häufigsten und belasten das Budget am meisten. Das Problem ist nicht nur schlimm, es ist auch teuer.
Aus Sicht der Ärzte stellt es sich so dar: Um ja nichts Medizinisches zu übersehen, untersuchen sie die Patienten besonders gründlich, starten alle ihnen bekannten Behandlungsversuche und überweisen sie zu Spezialisten. Wenn dies alles erfolglos bleibt, können sie beim besten Willen keinen körperlichen Befund mehr erheben, mit dem sich das Krankheitsbild erklären ließe. Daher teilen sie den Patienten mit: »Sie haben nichts. Sie sind medizinisch gesund. Es ist nur psychosomatisch«, und erwarten, dass sich die Patienten über diese Nachricht freuen. Aber weit gefehlt! Die Patienten reagieren eher empört: »Ich bin doch nicht verrückt!«, entgegnen die meisten. Die Ärzte sind enttäuscht. Aus ihrer Sicht haben sie alles erfasst und getan. Sie sind nicht schuld am Therapieversagen der Patienten. Die maximalen Beschwerden der Patienten passen wirklich nicht zu ihren minimalen Befunden. Die oft bunt durcheinandergewürfelten und häufig wechselnden Symptome lassen sich beim besten Willen keinem regulären Leiden zuordnen. Die Krankheit existiert also offensichtlich nur im Kopf der Patienten. Kommen die Patienten weiter zu ihnen, nehmen sie sie allmählich nicht mehr ganz ernst. Manchmal meinen sie sogar, sie würden sie absichtlich an der Nase herumführen, würden simulieren, sich hineinsteigern, seien arbeitsscheu oder hätten ein Rentenbegehren. In Anbetracht ihres Zeitmangels und der Kontingentierung ihrer Leistungen werden ihnen die häufigen Besuche dieser Patienten eher lästig.
Da die Diagnose »psychosomatisch« in Medizinerkreisen inzwischen ziemlich beliebt ist, wird sie mittlerweile oft auch schon am Anfang der medizinischen Karriere gestellt, wenn die Routineuntersuchungen keinen Befund erbrachten. Weil aber »die Psyche« überhaupt nicht untersucht wurde, ist es eher eine Verlegenheitsdiagnose, die sich übersetzen lässt mit »Ich weiß auch nicht, was Ihnen fehlt«. Studien belegen, dass sich bei sehr vielen Patienten in Arztpraxen und Kliniken kein regulärer medizinischer Befund erheben lässt. Sie werden meist mit ermunternden Worten, Beruhigungs- oder Naturheilmitteln behandelt. Damit geben sich aber nur die Patienten mit leichteren Beschwerden zufrieden (und auch die nicht auf Dauer).
Werden sie zum Spezialisten für die Seele geschickt, gehen die wenigsten hin, wie eine 2007 veröffentlichte Untersuchung von Sammet und Mitarbeitern an der Universitätsklinik Göttingen belegt. Von 126 stationären (also vermutlich schwerer leidenden) Patienten und Patientinnen, denen an der Psychotherapeutischen Abteilung die Diagnose »psychosomatisch« gestellt und eine Psychotherapie empfohlen worden war, schickten nach zwei bzw. drei Jahren nur etwa 50% einen Fragebogen beantwortet zurück. Von diesen wiederum waren nur etwa 40% der Psychotherapieempfehlung gefolgt. Oft sind es noch weniger.
Diese Reaktion auf die Diagnose »psychosomatisch« ist so typisch, dass sie im offiziellen Diagnoseschlüssel ICD 10 bereits zum diagnostischen Kriterium der »somatoformen« Erkrankungen ernannt wurde, wie die psychosomatischen Erkrankungen ohne medizinischen Befund heute offiziell heißen. Dort lesen wir: »Das Charakteristikum der somatoformen Störungen ist das wiederholte Darbieten körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind.« Schon aus der Diktion wird deutlich, dass man das Verhalten der Patienten letztlich für ungehörig und anmaßend hält. In der Unterrubrik »Somatisierungsstörung« erscheint unter »Diagnostische Leitlinien« gleich als zweiter Punkt das Kriterium »hartnäckige Weigerung, den Rat oder die Versicherung mehrerer Ärzte anzunehmen, dass für die Symptome keine körperliche Erklärung zu finden ist«. In anderen Worten: Wenn die Betroffenen auf der Körperlichkeit ihres Leidens bestehen, gilt das als ein Beweis dafür, dass sie eine psychische Störung haben. Die Patienten, die sich dagegen wehren, gelten als klagsam, anspruchsvoll und unbelehrbar. Natürlich könnte man auch zu der Schlussfolgerung kommen: An den Theorien der Fachleute kann etwas nicht stimmen, da sie von den Betroffenen so wenig bestätigt werden. Leider müssen auch die meist einfühlsameren, praktisch tätigen Psychotherapeuten ihre Kassenanträge nach den Kriterien des ICD 10 ausrichten, wodurch sie selbst immer mehr in dieses Denken gezwungen werden.
Psychologisch orientierte Autoren schreiben immer wieder, dass die Patienten »organisch fixiert« seien und nur über das Körperliche sprächen. Das sei ein psychischer Abwehrvorgang, der den Zugang zu ihnen erschwere. So schreibt Schors 2003: Ein bevorzugtes Verhalten der Patienten ist das Reden über den Schmerz. Sie sind entweder nur schwer oder gar nicht dazu zu bewegen, sich auf andere Inhalte einzulassen … Die Gegenübertragungsreaktionen (die emotionalen Reaktionen, H. P.) des Psychotherapeuten darauf können Ungeduld und Langeweile sein, ein Gefühl von Leerlauf und Erschöpfung oder Sinnlosigkeit, denn sein Interesse richtet sich ja auf Beziehungen und Konflikte, nicht auf die Monotonie des Symptoms.«
Daher sind »Psychosomatiker« mit schwereren Leiden, insbesondere chronische Schmerzpatienten, bei Psychotherapeuten nicht sehr beliebt. Sie gelten als hochgradig gestört und schlecht behandelbar. Es gibt sogar den Ausdruck »Koryphäenkillersyndrom«, was heißen soll, dass die Krankheit der Patienten darin bestehe, die größten Koryphäen aufzusuchen, um sie dann scheitern zu lassen. Entsprechend mager fallen die Erfolgsstatistiken für Psychotherapie in solchen Fällen aus. In der oben erwähnten Untersuchung von Sammet litten 90% der Patienten zwei bis drei Jahre nach der Diagnosestellung immer noch an ihren Beschwerden. Von denen, die zu einem Psychotherapeuten gegangen waren, hatten die meisten bei der Nachuntersuchung nicht weniger Beschwerden als diejenigen, die der Empfehlung nicht gefolgt waren. Sie konnten nur etwas besser damit umgehen. Bei denjenigen, die zum Psychiater gegangen waren, waren die Beschwerden sogar schlimmer geworden. Leider wurde nicht festgehalten, wie viele Patienten die Behandlung bald wieder abbrachen und schon deshalb nicht davon profitieren konnten. Es dürfte die Mehrheit sein. In vielen Fällen scheitert der therapeutische Dialog und endet mit Schuldzuweisung und Verbitterung.
Von daher bleiben die Aussagen der Fachleute über diese Art von Patienten relativ theoretisch. Es kennt sie kaum jemand näher. In meiner rein psychoanalytischen Praxis waren sie nicht erschienen.
Das Konzept der Psychosomatik erfreut sich...