1 Einleitung
1.1 Die Freude an der Arbeit – wohin ist sie verschwunden?
Seit vielen Jahren wird, mit nur sehr wenigen »Ausreißern« in einzelnen Jahren, ein kontinuierliches Wachstum der Wirtschaft (Veränderung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gegenüber dem Vorjahr) in Deutschland beobachtet.1,2 In jüngerer Zeit sehen wir uns parallel dazu mit einem anderen gesellschaftlichen Phänomen konfrontiert: In den Gesundheitsreports der großen Krankenkassen zeichnet sich ein seit ein paar Jahren anhaltender Trend ab: der Anstieg von Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen. Diese Krankheitskategorie belegt statistisch mittlerweile einen der beiden vorderen Plätze. Maßgebliche Treiber sind die beiden Diagnosen »Depressive Störungen« und »Reaktionen auf schwere Belastungen«.3 Sie zeigen, dass das Arbeiten in einer globalisierten und sehr schnell agierenden Welt viele überfordert, und sie haben unseren Blick als Autorinnen auf die Frage gelenkt, ob Management und Führung daran etwas ändern könnten.
Die reflexartigen Reaktionen des Menschen auf Stress – Flucht oder Starre – zeigen sich auch in der Arbeitswelt. Durch immer mehr Arbeit treten viele MitarbeiterInnen die »Flucht nach vorn« an, dabei steigt das Risiko der Erschöpfung bei Dauerstress. Andere reagieren mit dem Muster der Erstarrung, welches sich in einer demotivierten Haltung äußert, bei der die MitarbeiterInnen Dienst nach Vorschrift leisten und innerlich gekündigt haben.
Dabei wäre es ein wirksames Mittel, die Freude an der Arbeit, eine bessere Balance zwischen Frei- und Arbeitszeit und damit die Widerstandsfähigkeit von MitarbeiterInnen zu stärken. Doch ist das in unserem globalen Wirtschaftssystem überhaupt möglich?
Diese Frage haben wir – die Autorinnen – uns gestellt und sind bei unserer Spurensuche einem Phänomen auf den Grund gegangen, dass wir das Paradigma der Machbarkeit nennen. Dieses Paradigma ist aus unserer Sicht die tieferliegende Ursache für eine allumfassende Fehlentwicklung in der heutigen Wirtschafts- und Arbeitswelt. Indem wir dieses subtil wirkende Paradigma sichtbar machen, eröffnen wir eine neue Perspektive auf bestimmte, geradezu paradoxe Verhaltensweisen von einzelnen ManagerInnen und ganzen Konzernen. Wir können diese in einem anderen Licht betrachten, nicht um sie zu beschönigen, sondern vielmehr um grundsätzlich neue Lösungsansätze zu generieren.
Bevor wir auf die Wirkung von Paradigmen allgemein eingehen und die Herkunft dieses speziellen Machbarkeitsparadigmas historisch begründen und seine Erscheinungsformen mit Beispielen genauer beschreiben, möchten wir es bereits an dieser Stelle kurz beleuchten.
1.2 Das Machbarkeitsparadigma
Bei unseren Überlegungen sind wir davon ausgegangen, dass unsere westliche Gesellschaft unbewusst von der Überzeugung beherrscht wird, dass wir Menschen fast alles beeinflussen können und daher nichts einfach geschehen lassen (dürfen).
Methodisch führt diese Überzeugung dazu, dass wir analysieren, antizipieren, planen und kontrollieren, was uns große Fortschritte in Wissenschaft und Wirtschaft beschert hat. Allerdings führt sie auch dazu, dass wir diese Methoden selbst dort einsetzen, wo wir »schicksalhafte« Einflüsse des Gesamtsystems (unser Planet), in dem wir uns befinden oder auch des Lebens an sich akzeptieren müssten.
Dieses Leugnen der partiellen Ohnmacht des Menschen führt zu der enormen Anstrengung, immer mehr Details beherrschen zu wollen, wodurch wir schließlich den Blick auf das Wesentliche verlieren und uns in einem sich immer schneller drehenden Rad wiederfinden. Diese Entwicklung hat in jeder Hinsicht, sei sie auf persönlicher Ebene, auf Ebene von Unternehmen oder global, schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Ressourcen.
Zudem führt der ständige Tätigkeits- und Handlungszwang aus unserer Sicht nicht nur dazu, dass der Blick für das Wesentliche verloren geht, sondern auch dazu, dass die Unterscheidung zwischen »richtig« und »falsch« oder zwischen Handlungen, die einen positiven bzw. einen negativen Einfluss auf die Umgebung haben, immer schwerer fällt. Denn die Menschen nehmen sich schlichtweg nicht mehr die Zeit, die nötig ist, um ihr Tun zu bedenken und zu hinterfragen oder ihr Bauchgefühl hinzuzuziehen.
Dabei ist natürlich nicht zu übersehen, dass die Überzeugung, Einfluss nehmen zu können, zu großen Fortschritten und Segnungen für die Menschheit geführt hat. Da sich diese Überzeugung aber im Laufe der Geschichte verselbstständigt hat, kommt es zu Exzessen, die wir obendrein als Normalität zu empfinden scheinen.
Unser Anliegen ist es daher, das Machbarkeitsparadigma einer bewussten Betrachtung zugänglich zu machen, wodurch wir zu einer neuen Wahlfreiheit bezüglich seiner Anwendung und damit zu neuen Lösungen im Sinne eines ganzheitlichen Wirtschaftens kommen können.
1.3 Leben und Arbeiten – ein gemeinsames Ganzes
Die Arbeitswelt und die private Lebenswelt einer Person sind keine voneinander abgetrennten Einheiten. Vielmehr sind beide Teile eines Systems, die untrennbar miteinander verbunden sind und einander beeinflussen.
Rein zeitlich ist eine Trennung zwar möglich und sollte im Sinne einer guten Lebensbalance auch erfolgen, also in Zeit, in der man arbeitet und in Zeit, in der man sich tätig oder untätig erholt und sich anderen wichtigen Lebensbereichen widmet. Trotzdem können wir die beiden Einheiten nicht als voneinander getrennte Systeme betrachten, weil sie z. B. über Werte, innere Einstellungen und Mechanismen miteinander vernetzt sind.
Einen solchen verbindenden Mechanismus stellt unserer Meinung nach das Paradigma der Machbarkeit dar. Dieses scheint uns geradezu mechanisch zu steuern und dazu zu zwingen, ständig etwas beeinflussen, verändern, machen zu müssen – mit all den Auswirkungen, die dieses fortwährende Tun zur Folge hat.
Wie kommt es aber, fragten wir uns, dass in einer Zeit des Überflusses in unserer Gesellschaft ein krank und unglücklich machendes Phänomen so wenig – von uns allen – hinterfragt wird? Und das, obwohl es ein Phänomen ist, das im Rückblick zukünftigen Generationen vermutlich so gruselig und bedrückend erscheinen wird wie uns heute die Pest-Epidemien des Mittelalters.
Beschleunigung als Folge der Machbarkeit
Wir sind davon überzeugt, dass das oben benannte Paradigma Körper, Geist und Ressourcen in allen Lebensbereichen überlastet und als Folge daraus eine immerwährende Effizienzsteigerung entsteht – fast möchte man sagen: Effizienzsteigerung um ihrer selbst willen. Ihr Effekt ist logischerweise eine fortwährende Beschleunigung, denn einmal geschafft, erzeugt sie schnellere Prozesse, erfordert somit schnellere Reaktionszeiten. Eine Effizienzsteigerung zieht unweigerlich sofort die nächste nach sich.
Jede noch so kleine »effizienzfreie Zone« wird beleuchtet und bereinigt oder zumindest sofort gefüllt, wodurch ein Innehalten Angst oder zumindest Unbehagen auslöst, weil die Menschen nicht mehr lernen, wie sie ein erholsames Pausieren als sinnvoll erleben können.
1.4 Effizienzsteigerung – eine moderne Seuche?
Spätere Generationen werden diese Epoche vielleicht die Accelleration-Era nennen und darüber staunen, dass der Zusammenhang zwischen der Fixierung auf eine bestimmte Methode (Effizienzsteigerung) und der eindeutigen Zunahme von bestimmten Krankheiten zwar hier und da »benannt«, aber dennoch nicht »erkannt« wurde. Obwohl das leichter zu erkennen gewesen wäre als z.B. der bakterielle Auslöser der Pest.
Wie kommt es also, dass wir – man kann bis zu einem gewissen Grad sagen, dass wir alle – das Phänomen der andauernden Effizienzsteigerung mit all seinen Folgen unhinterfragt akzeptieren, als sei es unvermeidlich wie eine Staublunge für die Minenarbeiter in den Kohlebergwerken des 19. Jahrhunderts? Ein solches allgemeines Verhalten in Zeiten vielfältiger wissenschaftlicher Fortschritte und Erkenntnismöglichkeiten ist nur durch übergeordnet wirksame Paradigmen erklärbar.