1. SORTIEREN
»Sechs ehrliche Diener habe ich.
Sie lehrten mich, was ich kann.
Sie heißen was und wie und wo.
Sie heißen warum und wer und wann.«
JOSEPH RUDYARD KIPLING
Wenn man sich mit Leuten über ihre Ziele und über Zielerreichung unterhält – was man als Coach ja oft tut –, dann fällt einem auf, dass Menschen oft eine Vorstellung davon haben, was sie erreichen wollen, aber selten genau wissen, wie sie es tatsächlich erreichen können.
Als Coach spreche ich mit Unternehmern und Freiberuflern, mit Managern, Sachbearbeitern und Abenteurern, mit Künstlern, Entwicklungshelfern und Privatiers. Darunter sind Frauen und Männer von Twenty-something bis 50 plus – und Menschen aus vielen Ländern dieser Welt. Wenn wir über ihre Ziele reden, fällt es fast allen leicht, sich das erreichte Ziel in seiner ganzen Schönheit vorzustellen. Zum Beispiel das fertige Buch, das sie noch schreiben wollen, die florierende Firma, die sie noch aufbauen wollen, der Mastertitel oder die Managerposition, die sie noch erreichen wollen, oder das Jahr in Neuseeland, das sie noch realisieren wollen.
Geht es jedoch an die Umsetzung, an den Weg zum Ziel und daran, die Gedanken zu strukturieren, die Entscheidungen zu treffen und die entsprechenden Dinge zu tun, wird es auf einmal komplex und die Vorstellung ist oft unklar.
Sommer 1988. Afrika. Algerien. Ich bin 19 Jahre alt und gemeinsam mit meinem Freund Raphael auf dem Weg in die Zentralsahara. Wind, Sand und bald keine Straße mehr. Über 400 Kilometer Strecke liegen vor uns bis zur nächsten Oasen-Stadt In Salah. Wir sind sortiert, wissen, was wir wollen. Unser Ziel: Durchkommen. Bei über 53 Grad Celsius im Schatten – den es hier nicht gibt – sind wir ganz schön gefordert.
Im Coachinggespräch vereinfachen wir dann erst einmal. Wir reduzieren die Komplexität, indem wir anfangen, zu sortieren. Das geht ganz gut mit einem simplen Trick:
Der 6-W-Fragen-Trick
Was will ich erreichen – was ist mein Ziel? Warum will ich das erreichen – welches Bedürfnis steht hinter meinem Ziel? Wann fange ich damit an? Wie will ich dabei vorgehen? Wo sehe ich Hindernisse auf dem Weg zum Ziel? Wer kann mir dabei helfen, mein Ziel zu erreichen?
Diese sechs einfachen W-Fragen können wir zu unseren ständigen Begleitern machen. Immer dann, wenn wir in eine schwierige Situation geraten, können wir sie als Vereinfachungshelfer nutzen, um Orientierung und mehr Klarheit auf dem Weg zu unserem Ziel zu bekommen.
Der 6-W-Fragen-Trick
1. Was will ich erreichen?
2. Warum will ich das erreichen?
3. Wann will ich damit anfangen?
4. Wie will ich es machen?
5. Wo sehe ich Hindernisse?
6. Wer kann mir dabei helfen?
Die stärkste Frage unter den sechs ist die Frage nach dem Warum. Warum wollen wir ein Ziel erreichen? Interessant ist, dass wir im Alltag wenig über das Warum reden, aber sehr viel über unsere Ziele. »Was ist dein Urlaubsziel?« »Was ist dein Karriereziel?« »Was ist dein Jahresziel?« »Was ist dein Gehaltsziel?« »Was, was, was …?«
Dabei sind die Ziele, die wir uns setzen, nichts anderes als die sichtbare Oberfläche unserer Bedürfnisse. Die Energie, uns für ein Ziel anzustrengen und etwas zu riskieren, entsteht immer und ausschließlich aus dem Wunsch heraus, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn wir uns beispielsweise eine Gehaltserhöhung zum Ziel setzen, kann dahinter das Bedürfnis nach mehr Sicherheit oder nach mehr Anerkennung oder nach Gerechtigkeit stehen. Setzen wir uns zum Ziel, einen Marathon zu laufen, steht dahinter vielleicht das Bedürfnis, uns selbst und eventuell auch anderen zu beweisen, dass wir willensstark genug sind, um zu trainieren und die 42,195-Kilometer-Strecke zu schaffen.
Am Anfang steht immer ein Bedürfnis, dann erst kommt das Ziel. Deshalb geht es eigentlich nie um die Ziele selbst, die wir glauben, erreichen zu wollen, oder um die Dinge, die wir glauben, haben zu wollen oder tun zu müssen. Es geht immer darum, ein Bedürfnisdefizit aufzulösen. Ansonsten würden wir uns keine Ziele setzen.
Auch unsere Vorfahren haben sich nicht einfach so das Ziel gesetzt, ein Mammut zu jagen. Am Anfang stand das Grundbedürfnis, etwas zwischen den Zähnen zu haben, das Überleben der Gruppe zu sichern. Die Energie für die Anstrengung und die Bereitschaft, das Risiko der Jagd einzugehen, entstanden aus dem Wunsch heraus, dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Die Frage, was wir wirklich wollen, ist untrennbar mit der Frage, warum wir das wollen, verbunden. Wenn wir unser Warum, unsere Bedürfnisse hinter dem Was kennen, finden wir unseren Weg und behalten unsere Ziele leichter im Auge. Im Coachinggespräch frage ich die Leute deshalb oft ausgiebig nach dem Warum und rufe so den eigentlichen Impuls, den ursprünglichen Auslöser und das Bedürfnis hinter dem Ziel wieder in Erinnerung.
Mein Auslöser dafür, reisen zu wollen, unterwegs sein zu wollen, war eine Reisereportage über Australien, die ich gesehen habe, als ich acht Jahre alt war. Heute, viele Jahre und viele Reisen später, weiß ich, dass der Impuls, das Bild »Abenteurer in Australien«, eines meiner tiefsten Bedürfnisse berührt hat. Damals in einer Dreizimmerwohnung vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher. Als kleiner Junge in einer kleinen Welt. Das Bedürfnis nach Freiheit. Der heftige Drang nach Unabhängigkeit und Wachstum.
Dieses Bedürfnis hat sich mein ganzes Leben lang seinen Weg gebahnt. Und glauben Sie mir, weder mit acht und auch noch nicht mit 18 Jahren wusste ich, wohin genau mich dieser Weg führen wird. Ich bin losgelaufen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als Jugendlicher bin ich unter anderem von Freiburg nach Paris und zurück gelaufen, habe am Wegesrand geschlafen, Brunnenwasser getrunken und mich von Baguette und Obst ernährt. Ich habe mir, wie so ziemlich alle in meiner Umgebung, alltägliche Ziele gesetzt: Schulabschluss, Ausbildung, Studium, Berufstätigkeit. Und ich habe mein Ding gemacht und immer, wenn ich gespürt habe, dass es mir eng ums Herz wurde, wusste ich, dass mein Weg nicht mehr lange in diese Richtung weiterverlaufen wird.
Meine Bedürfnisse nach Freiheit, Unabhängigkeit und Wachstum sind zu einem Wegweiser in meinem Leben geworden. Um diese Bedürfnisse zu befriedigen, bin ich bereit, Anstrengung und Risiko auf mich zu nehmen. Aktuell lebe, schreibe und coache ich in den Tropen Australiens.
Die menschlichen Grundbedürfnisse ähneln sich. Wir alle müssen essen, trinken und schlafen, und wir alle wünschen uns Sicherheit und Schutz. Wir haben den Wunsch, mit anderen Menschen verbunden zu sein, aber auch das Bedürfnis, zu wachsen, unabhängig und erfolgreich zu leben. Und wir wollen Einfluss nehmen auf unsere Lebensumstände.
Spannend ist, dass die Ziele, über die sich unsere Bedürfnisse ausdrücken, ganz unterschiedlich sein können – abhängig von unserer Bereitschaft, unseren Fähigkeiten und unseren Möglichkeiten, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Nicht jeder kann immer alles überall erreichen. Aber wenn wir unsere Bedürfnisse kennen, finden wir einen Weg, passende Ziele zu wählen, die für uns auch erreichbar sind.
Denken wir nur an Karl May, der lange Jahre seines Lebens aufgrund von Gaunereien im Gefängnis saß und sein Bedürfnis nach Freiheit nicht etwa auf Reisen, sondern in seiner Fantasie als Autor von Reiseerzählungen und Abenteuerromanen auslebte. Legendär sind seine Geschichten um den Indianer Winnetou. Karl May ist einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller mit einer weltweiten Auflage von über 200 Millionen.
Es lohnt sich, einmal innezuhalten und sich zu fragen, welche Bedürfnisse wir mit unseren Zielen befriedigen wollen und welche Ziele zu unseren Bedürfnissen passen. Denn unsere Ziele können wir uns aussuchen. Unsere Bedürfnisse nicht.
Vorhaben, die nicht zu unseren Bedürfnissen passen, sollten wir gleich sein lassen. Wir verfolgen zu oft Ziele, die uns eigentlich nichts bedeuten, um Leute zu beeindrucken, die wir eigentlich nicht mögen, und vergeuden damit Zeit und Energie, die wir nicht haben.
Wenn wir uns auf das konzentrieren, was wir von ganzem Herzen erreichen wollen, wenn wir nach den Sternen greifen, auch wenn wir vielleicht nur den Mond erreichen, dann wird vieles viel einfacher. Dann sind wir auf einmal ganz dicht dran an unseren Bedürfnissen, an unserer Energiequelle. Und dann haben wir den Mut und die Kraft und die Ausdauer, auch »Unmögliches« zu erreichen.
Probieren Sie es aus....