Einführung
»Klar, mein Vater hat mich immer verprügelt, aber nur, damit ich gehorchte. Ich kapiere nicht, was das mit meiner kaputten Ehe zu tun haben soll.«
Gordon
Gordon, 38, ist ein erfolgreicher Orthopäde, der zu mir kam, als seine Frau ihn nach sechsjähriger Ehe zu verlassen drohte. Er versuchte verzweifelt, sie zurückzugewinnen, aber sie wollte es nicht einmal in Erwägung ziehen, wenn er nicht professionelle Hilfe suchte, um sein unkontrollierbares Temperament zu zügeln. Sie hatte Angst vor seinen unvermittelten Ausbrüchen und fühlte sich durch seine unausgesetzte Kritik ausgelaugt. Gordon wußte zwar, daß er oft aufbrauste und unaufhörlich meckerte, aber dennoch war er schockiert, als seine Frau ihn verließ.
Ich bat Gordon, mir von sich zu erzählen, und stellte ein paar gezielte Fragen. Als wir auf seine Eltern kamen, lächelte er und schilderte sie mir in den glühendsten Farben, besonders seinen Vater, einen bekannten Herzspezialisten:
»Ohne ihn wäre ich wohl nicht Arzt geworden. Er ist der Größte. Seine Patienten halten ihn für einen Heiligen.«
Als ich ihn aber nach seiner heutigen Beziehung zum Vater fragte, lachte er nervös und antwortete:
»Alles war großartig… bis ich ihm sagte, daß ich überlege, mich mit ganzheitlicher Medizin zu befassen. Man hätte meinen können, ich hätte gesagt, ich wolle Massenmörder werden. Das war vor drei Monaten, und jedesmal, wenn wir nun miteinander reden, wütet er, daß er mich nicht habe Medizin studieren lassen, damit ich zum Wunderheiler würde. Gestern war es wirklich schlimm. Er regte sich auf und meinte, ich sei die längste Zeit sein Sohn gewesen. Das hat wirklich weh getan. Ich weiß nicht – vielleicht ist ganzheitliche Medizin doch keine so gute Idee.«
Während Gordon seinen Vater beschrieb, der offensichtlich doch nicht so wunderbar war, wie er mir einreden wollte, bemerkte ich, daß er seine Hände sehr aufgeregt umeinanderschlang. Als ihm auffiel, was er tat, nahm er sich zusammen, indem er die Fingerspitzen aneinanderlegte wie ein Professor hinter dem Schreibtisch. Das schien eine Geste zu sein, die er seinem Vater abgeguckt hatte.
Ich fragte Gordon, ob sein Vater immer so tyrannisch gewesen sei.
»Nein, eigentlich nicht. Er brüllte uns zwar ziemlich oft an, und ab und zu bekam ich einen Klaps wie jedes andere Kind. Aber einen Tyrannen würde ich ihn nicht nennen.«
Mir fiel auf, wie er das Wort Klaps aussprach. Irgend etwas veränderte sich in seiner Stimme. Ich fragte ihn danach. Es stellte sich heraus, daß sein Vater ihn zwei – bis dreimal in der Woche mit einem Gürtel geschlagen hatte! Gordon brauchte nicht viel zu tun, um diese Prügel heraufzubeschwören: eine trotzige Antwort, eine nicht besonders gute Note oder ein Vergessen galt als ausgemachtes »Vergehen«. Den Vater scherte nicht, wohin er den Jungen schlug. Gordon erinnerte sich an Schläge auf Rücken, Beine, Arme, Hände und Hinterteil. Ich fragte ihn, wie stark die Schmerzen gewesen seien, die sein Vater ihm zugefügt hatte.
»Es hat nicht geblutet oder so, und hinterher war alles rasch wieder gut. Er mußte mich nur einfach zur Räson bringen.««Aber Sie hatten Angst vor ihm, oder?«
»Ich hatte Todesangst, aber hat man die nicht immer vor seinen Eltern?«
Gordon sah mich nicht an und fühlte sich offensichtlich äußerst unbehaglich. Ich rückte meinen Stuhl näher zu ihm und fuhr sanft fort:
»Ihre Frau ist Kinderärztin. Wenn sie in ihrer Praxis ein Kind mit den gleichen Flecken am Körper sähe, die Sie von den ›Klapsen‹ Ihres Vaters zurückbehalten haben, wäre sie da nicht dem Gesetz nach verpflichtet, dies den zuständigen Behörden zu melden?«
Gordon brauchte mir darauf keine Antwort zu geben. Seine Augen füllten sich bei dieser Erkenntnis mit Tränen. Er flüsterte:
»Ich habe einen schrecklichen Knoten im Magen.«
Gordons Verteidigungsmechanismen waren zusammengebrochen. Er litt zwar stark, doch zum ersten Mal hatte er die lange verschüttete Quelle seiner Unbeherrschtheit aufgedeckt. Seit seiner Kindheit hatte in ihm ein Vulkan des Zorns gegen seinen Vater getobt, und wann immer der Druck zu stark geworden war, brach er aus und wütete gegen jeden, der ihm gerade über den Weg lief, für gewöhnlich seine Frau. Mir wurde klar, was wir tun mußten: den geschlagenen kleinen Jungen in ihm heilen.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, dachte ich immer noch über Gordon nach. Ich sah vor mir, wie seine Augen sich bei der Erkenntnis, daß er mißhandelt worden war, mit Tränen füllten. Ich dachte an die Hunderte von erwachsenen Männern und Frauen, mit denen ich gearbeitet hatte und deren tagtägliches Leben von Mustern beeinflußt wurde, die in der Kindheit von emotional destruktiven Eltern gesetzt worden waren. Mir wurde klar, daß es Millionen von ihnen geben mußte und daß sie keine Ahnung hatten, warum etwas in ihrem Leben nicht stimmte. Doch man konnte ihnen helfen. Daraufhin beschloß ich, dieses Buch zu schreiben.
Warum in die Vergangenheit blicken?
Gordons Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Ich habe in achtzehn Jahren als Therapeutin Tausende von Patienten gesehen, in meiner Privatpraxis und in Krankenhausgruppen, und die Selbstachtung einer deutlichen Mehrheit war beeinträchtigt, weil ein Elternteil regelmäßig schlug, kritisierte oder darüber »scherzte«, wie dumm, häßlich oder ungewollt ihre Kinder seien. Oder sie wurden mit Schuldgefühlen überladen, sexuell mißhandelt, mit zuviel Verantwortung belastet oder zu sehr beschützt. Wie Gordon sehen nur wenige die Verbindung zwischen dem Verhalten ihrer Eltern und ihren Problemen. Es handelt sich um einen weitverbreiteten emotionalen »blinden Fleck«. Wir haben einfach Schwierigkeiten zu erkennen, daß die Beziehung zu den Eltern unser gesamtes Leben entscheidend beeinflußt.
Der Schwerpunkt vieler Therapeuten, der ursprünglich stark zur Analyse der frühen Lebensjahre neigte, hat sich vom »Damals« zum »Hier und Jetzt« bewegt. Die Betonung liegt heute auf der Überprüfung und Veränderung gegenwärtigen Verhaltens, jetziger Beziehungen und Schwierigkeiten. Das hängt wohl auch mit der Weigerung der Klienten zusammen, viel Zeit und Geld in traditionelle Therapien zu investieren, die oftmals nur einen geringen Erfolg haben.
Ich bin eine entschiedene Vertreterin der Kurzzeittherapie, die darauf abzielt, zerstörerische Verhaltensweisen zu ändern. Meine Erfahrung hat mich jedoch gelehrt, daß es nicht ausreicht, nur Symptome zu behandeln. Man muß sich auch um deren Ursachen kümmern. Eine Therapie ist höchst wirksam, wenn sie ein doppeltes Ziel verfolgt: das gegenwärtige selbstzerstörerische Verhalten zu ändern und sich von den Traumata der Vergangenheit abzulösen.
Gordon mußte bestimmte Techniken erlernen, um seine Wut zu zügeln, aber um sich dauerhaft zu ändern und auch unter Belastung keinen Rückfall zu erleben, mußte er zurückgehen und mit dem Leid seiner Kindheit fertig werden.
Unsere Eltern pflanzen sozusagen seelische und emotionale Samenkörner in uns, die mit uns wachsen. In manchen Familien sind es die Samen von Liebe, Respekt und Unabhängigkeit. In anderen sind es jedoch die Samen von Angst, Verpflichtung und Schuld.
Wenn Sie zu dieser zweiten Gruppe gehören, ist dieses Buch für Sie bestimmt. Beim Erwachsenwerden wachsen diese Samenkörner zu unsichtbarem Unkraut, das Ihr Leben so stark durchdringt, wie Sie es sich nie hätten träumen lassen. Seine Ausläufer haben vielleicht Ihre Beziehungen, Ihr Berufsleben oder Ihre Familie beeinträchtigt, gewiß aber haben sie Ihre Selbstachtung und Ihr Selbstvertrauen untergraben.
Dieses Buch möchte Ihnen helfen, das Unkraut zu erkennen und auszujäten.
Was ist eine »vergiftete Kindheit«?
Alle Eltern sind mitunter unzulänglich. Ich habe bei der Erziehung meiner eigenen Kinder schreckliche Fehler begangen, die ihnen (und mir) viel Leid zufügten. Kein Elternteil kann immerzu emotional zur Verfügung stehen. Es ist völlig normal, daß Eltern ihre Kinder ab und zu anschreien. Und die meisten Eltern geben ihren Kindern auch einmal einen Klaps, wenngleich selten. Machen diese Fehler sie schon zu grausamen oder ungeeigneten Eltern?
Natürlich nicht. Eltern sind auch nur Menschen und haben ihre eigenen Probleme. Und die meisten Kinder können einen gelegentlichen Wutausbruch bewältigen, solange sie genug ausgleichende Liebe und Verständnis bekommen.
Aber es gibt viele Eltern, deren negative Verhaltensweisen das Leben ihrer Kinder beherrschen, so daß Schäden entstehen.
Als ich nach einem Begriff suchte, der beschreibt, was diese Eltern auszeichnet, fiel mir wieder »giftig« ein. Sie vergiften die Kindheit, und wie eine giftige Chemikalie verbreitet sich der emotionale Schaden, den diese Eltern zufügen, im Kind und wird mit der Zeit zum Schmerz. Welches Wort wäre besser geeignet als »giftig«, um Eltern zu beschreiben, die ihren Kindern ständig Traumata, Mißhandlungen und Demütigungen zufügen und dies oft über die Kindheit hinaus?
In manchen Fällen braucht es gar keine Beständigkeit elterlicher Gewalt. Sexueller oder körperlicher Mißbrauch etwa können so traumatisch sein, daß ein einziger Vorfall ausreicht, um großen emotionalen Schaden anzurichten.
Leider halten viele elterliche Fürsorge immer noch für etwas, das man aus dem Hut hervorzaubern kann. Unsere Eltern haben sie vorwiegend von ihren Eltern gelernt, und viele der von der Zeit geheiligten Methoden wurden so von einer Generation an die nächste weitergereicht; dabei handelt es...