Mythos 1: »Verletzlichkeit ist Schwäche«
Die Gleichsetzung von Verletzlichkeit und Schwäche ist der am weitesten verbreitete Mythos über Verletzlichkeit und auch der gefährlichste. Wir können ein Leben lang das Gefühl der Angreifbarkeit verdrängen und glauben, uns davor schützen zu müssen, dass wir als übermäßig emotional abgestempelt werden. Wir reagieren mit Verachtung, wenn andere weniger imstande oder bereit sind, Gefühle zu verbergen, passen uns an und machen einfach weiter. Wir haben dann einen Punkt erreicht, an dem wir unsere Angst und unser Unbehagen durch Verurteilungen und Kritik kompensieren, statt den Mut und das Wagnis hinter der Verletzlichkeit zu respektieren und zu würdigen.
Verletzlichkeit ist weder gut noch schlecht: Sie ist keineswegs das, was wir als »dunkle Emotion« bezeichnen, auch wird sie nicht immer eine lichte, positive Erfahrung sein. Verletzlichkeit ist der Kern aller Emotionen und Gefühle. Zu fühlen heißt, verletzlich zu sein. Zu glauben, Verletzlichkeit sei Schwäche, heißt, Gefühle für etwas Defizitäres zu halten. Indem wir uns gegen unsere Emotionalität aus der Angst heraus abschotten, dass wir einen zu hohen Preis für sie zahlen könnten, entfernen wir uns von dem, was dem Leben Sinn verleiht.
Unsere Vorbehalte gegenüber der Verletzlichkeit rühren oft daher, dass wir sie mit dunklen Regungen wie Angst, Scham, Kummer, Traurigkeit und Enttäuschung assoziieren – Emotionen, über die wir nicht sprechen wollen, selbst wenn sie zutiefst die Art und Weise steuern, wie wir leben, lieben, arbeiten und in Führungsfunktionen handeln. Was weithin nicht gesehen wird und ich im Laufe meiner Forschungsarbeit herausfinden durfte, ist, dass Verletzlichkeit auch die Wiege jener Emotionen und Erfahrungen ist, nach denen wir förmlich schmachten. Verletzlichkeit ist die Geburtsstätte von Liebe, Zugehörigkeit, Freude, Mut, Empathie und Kreativität. Sie ist die Quelle der Hoffnung, des Mitgefühls, des Verantwortungsbewusstseins und der Authentizität. Wenn wir uns größere Klarheit über den Sinn und Zweck unseres Daseins verschaffen wollen oder uns ein tieferes und bedeutsameres spirituelles Leben wünschen, führt der Weg unvermeidlich über das Terrain der »Verletzlichkeit«.
Ich weiß, es fällt schwer, dies zu glauben, besonders wenn man ein Leben lang gedacht hat, Verletzlichkeit und Schwäche seien synonym. Ich definiere Verletzlichkeit als Ungewissheit, Risikobereitschaft und emotionale Exposition. Lassen Sie uns mit dieser Definition im Hinterkopf mal ein paar Überlegungen zum Thema »Liebe« anstellen: Jeden Tag aufzuwachen und einen Menschen zu lieben, der unsere Liebe erwidert oder vielleicht auch nicht, dessen Sicherheit wir nicht garantieren können, der in unserem Leben bleiben oder urplötzlich daraus verschwinden könnte, der vielleicht treu ist bis in den Tod oder uns morgen hintergeht – das ist, Verletzlichkeit zuzulassen. Liebe ist eine ungewisse Angelegenheit. Sie ist in der Tat riskant. Und wenn wir jemanden lieben, sind wir emotional exponiert. Zweifellos erzeugt das Angst, und ja, wir werden möglicherweise verletzt, aber können Sie sich ein Leben vorstellen, ohne zu lieben oder geliebt zu werden?
Wenn wir unsere Kunst, unsere Texte, unsere Fotos oder Ideen präsentieren, ohne vorher sicher sein zu können, ob sie gewürdigt oder gar akzeptiert werden, lassen wir auch Verletzlichkeit zu. Uns den glücklichen Augenblicken unseres Lebens hinzugeben ist ebenfalls eine intensive Form der Verletzlichkeit – selbst wenn uns klar ist, dass diese schönen Momente flüchtig sind, und man uns rät, nicht allzu glücklich zu sein, um nicht das Unglück auf den Plan zu rufen …
Die große Gefahr liegt wie gesagt darin, dass wir das Fühlen für eine Schwäche zu halten beginnen. Mit Ausnahme des Ärgers – der ja als sekundäre Emotion gilt, die lediglich als sozial akzeptierte Maske für viele unserer schwierigeren zugrunde liegenden Regungen dient – verlieren wir unsere Bereitschaft, Emotionen und damit Verletzlichkeit zuzulassen.
Dass wir Verletzlichkeit als Schwäche fehlinterpretieren und ablehnen, wird uns klar, sobald wir erkennen, dass wir Fühlen mit Versagen und Emotionen mit Schuldverhältnissen verwechselt haben. Wenn wir den essenziellen emotionalen Teil unseres Lebens wieder zulassen und erneut Leidenschaft und ein Gefühl von Sinnhaftigkeit initiieren wollen, müssen wir lernen, zu unserer Verletzlichkeit zu stehen und uns auf sie einzulassen – mitsamt der Emotionen, die damit einhergehen. Für einige Menschen mag das Neuland sein, für andere ist es die Rückbesinnung auf bereits Gelerntes. Auf jeden Fall habe ich durch die Forschungsarbeit gelernt, dass der beste Ausgangspunkt für ein Leben aus vollem Herzen zunächst einmal die Definition, die Anerkennung und das Verständnis von Verletzlichkeit ist.
Was uns eine individuelle Definition von Verletzlichkeit nahebringen kann, sind die vielen sehr unterschiedlichen Beispiele von Menschen, die gebeten wurden, den Satzanfang »Verletzlichkeit zuzulassen ist …« zu vervollständigen. Hier eine Auswahl der Antworten:
− eine unpopuläre Meinung zu äußern;
− für mich selbst einzustehen;
− um Hilfe zu bitten;
− nein zu sagen;
− mich selbstständig zu machen;
− meiner 37-jährigen Frau mit Brustkrebs im vierten Stadium beim Verfassen ihres Testaments zu helfen;
− meine Frau/meinen Mann zum Sex zu verführen;
− mir anzuhören, wie gern mein Sohn Orchesterleiter werden möchte, und ihn zu unterstützen in dem Wissen, dass vermutlich nichts daraus wird;
− einen Freund anzurufen, dessen Kind gerade gestorben ist;
− meine Mutter im Hospiz anzumelden;
− das erste Date nach meiner Scheidung zu vereinbaren;
− als Erster zu sagen: »Ich liebe dich«, ohne zu wissen, ob die Liebe erwidert wird;
− einen eigenen Text oder ein eigenes Kunstwerk zu veröffentlichen;
− befördert zu werden und nicht zu wissen, ob ich Erfolg haben werde;
− gekündigt zu werden;
− sich zu verlieben;
− etwas Neues auszuprobieren;
− meinen neuen Freund nach Hause mitzunehmen;
− nach drei Fehlgeburten wieder schwanger zu werden;
− auf das Ergebnis der Biopsie zu warten;
− auf meinen Sohn zuzugehen, der eine schwierige Scheidung durchmacht;
− in der Öffentlichkeit Sport zu treiben, besonders wenn ich mich ungeschickt anstelle und nicht in Form bin;
− zuzugeben, dass ich Angst habe;
− mich nach einer Serie von Misserfolgen wieder aufzuraffen;
− als Firmeninhaber meinem Geschäftsführer zu eröffnen, dass wir nächsten Monat die Gehälter nicht mehr zahlen können;
− Angestellte zu kündigen;
− mein Produkt der Kundschaft zu präsentieren und keine Reaktion zu erhalten;
− für mich und meine Freunde einzustehen, wenn jemand anders uns kritisiert oder tratscht;
− Verantwortung zu übernehmen;
− um Verzeihung zu bitten;
− Vertrauen zu haben.
Klingt das nach Schwäche? Ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn man jemandem zur Seite steht, der in tiefen Nöten steckt? Ist Verantwortung zu übernehmen Schwäche? Oder sich nach einem Misserfolg wieder aufzuraffen? Nein! Verletzlichkeit klingt nach Wahrheit und scheint eindeutig mit Mut zu tun zu haben. Wahrheit und Mut sind nicht immer bequem, aber es handelt sich dabei keineswegs um Schwäche.
Sicher, wir sind vollkommen exponiert, wenn wir uns verletzlich machen. Ohne Zweifel quälen wir uns mit Ungewissheiten herum. Und keine Frage, wir nehmen ein ernsthaftes emotionales Risiko auf uns, wenn wir uns erlauben, angreifbar zu sein. Aber es gibt keine Definition, wonach Risiken einzugehen, der Ungewissheit ins Auge zu blicken und uns emotional zu exponieren identisch mit Schwäche wäre.
Bei der Frage »Wie fühlt man sich im Zustand der Verletzlichkeit?« waren die Antworten im selben Sinne aufschlussreich (hier wieder eine Auswahl):
− Sie bedeutet, die Maske abzunehmen und zu hoffen, dass mein wirkliches Ich nicht allzu enttäuschend ist.
− Verletzlichkeit ist die Schnittstelle von Mut und Angst.
− Man ist auf der Hälfte des Drahtseils angekommen, und vorwärts- oder rückwärtszugehen ist gleichermaßen beängstigend.
− Ich habe schwitzende Hände und Herzrasen.
− Es ist beängstigend und aufregend; erschreckend und hoffnungsvoll.
− Es ist, als ob man eine Zwangsjacke auszieht.
− Man wagt sich auf einen Ast, einen sehr, sehr hohen Ast.
− Man macht den Schritt auf das zu, was man am meisten fürchtet.
− Ich bin ganz bei der Sache.
− Sie fühlt sich unangenehm und beängstigend an, aber sie macht mich menschlich und lebendig.
− Es ist das Gefühl, einen Frosch im Hals und einen Knoten im Magen zu haben.
− Wie der...