Diözesanbischof emeritus Egon Kapellari
Das prophetische Wort heute
I. „Herr, öffne meine Lippen!“
Beim Thema „Das prophetische Wort heute“ liegt ein besonderer Akzent auf dem Wort „heute“. Aber kann man über das Prophetische heute einigermaßen angemessen reden, ohne einen mehr als oberflächlichen Blick in seine Geschichte in Judentum und Christentum von deren Anfängen an und bis heute zu werfen? Ich glaube, man kann das nicht.
Noch als Bischof in Kärnten habe ich ein Bild des Künstlers Hans Bischoffshausen erworben, dessen Werk Frau Professor Agnes Husslein, die Direktorin des Wiener Belvedere, vor einiger Zeit im Bereich des Unteren Belvedere eine Ausstellung gewidmet hat. Frau Husslein ist eine Enkelin des großen aus Kärnten stammenden Malers Herbert Boeckl. Das genannte Bild hat Bischoffshausen mit dem Titel „Der Prophet“ versehen. Es ist ein weißes Blatt ohne irgendwelche anderen Farben und in seiner Mitte ist es von der Rückseite her so ausgebuchtet, dass sich zwei leicht geöffnete Lippen eines Menschen ergeben, akzentuiert durch aufgetragenes Deckweiß. Diese sich öffnenden Lippen auf dem genannten Bild von Bischoffshausen zeigen, dass der Künstler gewusst hat, was das Wort „Prophet“ oder „prophetisch“ in altgriechischer Sprache bedeutet. Es bedeutet: Sprechen für jemanden. Der Prophet, der Mann mit den sich öffnenden Lippen, spricht also für jemand anderen. Der biblische Prophet spricht für den Gott der Bibel. Er spricht im Auftrag Gottes und bevollmächtigt durch Gott. Er spricht als Herold Gottes und als Anwalt der Menschen. Vor einigen Jahrzehnten hat die Dichterin Marie Luise Kaschnitz diese Bedeutung von prophetischem Reden auf die Beziehung zu ihrem sehr geliebten verstorbenen Mann Guido Kaschnitz übertragen. In einem ihrer Gedichte, „Einer von zweien“1, redet sie daher die Lesenden an mit den Worten:
Ihr sollt in mir sehen
Einen von zweien
Und hinter meinen Worten
Unruhig horchen
Auf die andere Stimme.
Für Marie Luise Kaschnitz war dieser andere, dem diese Stimme gehört, ihr verstorbener Mann. Für den biblischen Propheten aber ist der andere der Gott der Bibel wie auch ein Mensch, ein Volk in Not, zu dessen Anwalt sich der Prophet von Gott berufen weiß, indem er tröstet, ermutigt, aber auch zornige, schroffe Rufe zur Umkehr hören lässt.
Sprechen für eine andere Macht, das galt auch für die delphische Sibylle, die Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle ins Bild gesetzt hat. Von ihr hat der Philosoph Heraklit in der Frühzeit griechischen philosophischen Denkens gesagt: „Die Stimme der Sibylle ist rau, aber sie tönt durch tausend Jahre, weil der Gott sie treibt.“ Gemeint ist hier Apollo, der Gott des Orakels von Delphi. Frühchristliche Apologeten sahen in der Sibylle und in den großen griechischen Philosophen der Vorzeit Spuren – „Logoi spermatikoi“ – des Heiligen Geistes am Werk. In diesem Beitrag konzentriere ich mich beim Sprechen über Prophetisches auf die Bibel im Alten und im Neuen Testament. Ich erinnere aber auch daran, dass der Islam als nachbiblische Weltreligion auf diesem biblischen Fundament aufbaut und in der Gestalt des Propheten Mohammed dieses Fundament teilweise bestätigt und zugleich massiv verändert hat und jedenfalls überbieten will. Und ich beziehe mich darüber hinaus auf die Inanspruchnahme der Kategorie des „Prophetischen“ durch die Kunst in Wort und Bild. Und schließlich verweise ich auf den oftmaligen und manchmal geradezu inflationären Gebrauch des Wortes „prophetisch“ im innerkirchlichen Disput über Kirche und Kirchenreform in den letzten Jahrzehnten, vor allem seit dem II. Vatikanischen Konzil.
II. Das prophetische Wort in der Bibel und in großer Dichtung
Es folgt nun ein ausführliches Kapitel über das prophetische Wort in der Bibel. In diesen Text sind mehrmals Zitate aus neuerer Dichtung eingeschoben, die auch auf das Thema „Prophetie“ bezogen sind. Ein Beispiel dafür gleich vorweg:
1. Wer ist ein Prophet?
Die große Dichterin Nelly Sachs, im Jahr 1967 Nobelpreisträgerin für Literatur, deren Werk in großem Leiden aus jüdischem geistigen Erbe erwachsen ist, hat über das Prophetische in einem ihrer Gedichte, „Wenn die Propheten einbrächen“2, Folgendes gesagt:
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
[…]
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit,
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Wer aber ist so ein Prophet? Die Wörter „Prophet“ und „prophetisch“ sind vieldeutig, also ohne scharfen Rand. Von den biblischen Prophetenbüchern sind heute vor allem die nach den Propheten Jesaia und Jeremias benannten Schriften vielen Menschen wenigstens vage bekannt. Dazu kommt noch am ehesten jenes nach Ezechiel. Im Horizont der Bibel ist das Prophetische eine von den großen Gaben Gottes – eine Gabe an das Volk Israel wie auch an das Volk des neuen Bundes. Wenn Propheten fehlen, dann ist dies Anlass zu einer profunden Klage. So etwa im Psalm 74, wo ein ungenannter Beter klagend sagt: „Zeichen für uns sehen wir nicht/es ist kein Prophet mehr da/niemand von uns weiß, wie lange noch“ (Psalm 74,9). Die jüdische Bibel spricht auch ausführlich über die Pathologie des Prophetischen, gemeint sind damit die Lügenpropheten, die falschen Propheten. Das sind selbsternannte Boten, die Gefahren verdrängen oder schönreden und den Hörenden die Entscheidung zur Bekehrung, zur Umkehr ersparen wollen. Im Neuen Testament zitiert Jesus im Bericht über seinen Konflikt mit seiner Heimatgemeinde Nazareth in der dortigen Synagoge eine überlieferte Erfahrung mit den Worten: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat und in seiner Familie“ (Mt 13,57). Jesus erscheint also im gesamten Korpus des Neuen Testaments auch als ein Prophet, aber er ist zugleich mehr als ein Prophet. In seinem ersten Korintherbrief spricht der Apostel Paulus im zwölften Kapitel schließlich litaneiartig über die Gaben des Heiligen Geistes, darunter auch das prophetische Reden. Da heißt es unter anderem:
Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist.
Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen.
Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln,
dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem andern – immer in dem einen Geist – die Gabe, Krankheiten zu heilen,
einem andern Wunderkräfte, einem andern prophetisches Reden, einem andern die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenrede, einem andern schließlich die Gabe, sie zu deuten.
Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will. (1 Kor 12,4-11)
Diese Geistesgaben sind auf die ganze Gemeinde ausgegossen und werden dort prinzipiell, wenn auch entsprechend Gottes freier Wahl, ebenso Männern und Frauen, Jungen und Alten, Trägern des Amtes wie auch Getauften ohne ein solches Amt zuteil.
Das Wort „prophetisch“ bedeutet heute und auch schon in der Vergangenheit meist so etwas wie eine Voraussage. Der Prophet von der Art des biblischen Schriftpropheten ist aber kein Wahrsager im vordergründigen Sinn des Wortes, kein Vorausfotograf der Zukunft. Er ist vielmehr Wahr-Sager im tieferen, hintergründigen Sinn. Er schaut in geliehener Kraft in das Herz der Menschen und der Dinge, und so redet er. Prophetie versetzt daher immer wieder in eine Krisis und drängt zu einer Entscheidung, fordert von sogenannten „Jein-Sagern“ ein bewusstes Ja oder Nein. Sören Kierkegaard, einer der „Propheten“ des 19. Jahrhunderts, wurde in diesem Sinne von der Königin von Dänemark gründlich missverstanden, als diese ihm zu seinem Buch „Entweder/Oder“ mit den Worten gratulierte: „Großartig hat er das gemacht mit seinem ‚Entweder und Oder‘.“ Propheten sind oft zornig und ungeduldig. Sie sind aber auch fähig zu Sanftmut und Geduld. Sie drohen nicht nur, sondern trösten auch. „Tröstet, ja tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen …“, sagt Jesaia. Und er vergleicht Gott mit einer Mutter, die ihre Kinder tröstet.
Propheten sind Wegweiser, Schrittmacher auf dem Weg ins Ungewisse, in die Zukunft. Wie der Täufer Johannes auf dem Karfreitagsbild des Isenheimer Altars mit expressiv verlängertem Zeigefinger auf den gekreuzigten Christus...