Einleitung
Ich will ich sein
Menschen lieben
Weltspuren folgen
und wenn der Sprachgeist erlaubt
mit einigen Worten
meinen Tod überleben.
Rose Ausländer1
Letzte Worte
Mein Vater war ein Mensch, der wenig Worte machte. Er war am liebsten in seiner Schreinerwerkstatt, da kannte er sich aus. Zur Zeit seines 76. Geburtstages lebte ich gerade in Wien, kam aber nach Hause, um mit ihm zu feiern, obwohl kein großes Fest angesagt war. Als ich mich wieder von ihm verabschiedete, bedankte er sich überschwänglich dafür, dass ich seinetwegen die weite Reise auf mich genommen habe. Das nahm er nicht als selbstverständlich! Seine Freude und Anerkennung in Worte zu bringen, war für ihn außergewöhnlich. Es war eine kleine, sehr persönliche Rede, wie ich es noch nie von ihm erlebt hatte. So fuhr ich mit einem guten Gefühl wieder zurück.
Wenige Tage später starb er plötzlich an den Folgen eines schweren Schlaganfalls. Seine für mich sowieso außergewöhnlichen Abschiedsworte bekamen als »letzte Worte« ein großes Gewicht. Sie waren die Bestätigung, dass ich für ihn getan hatte, was ich konnte, und dass wir beide alles miteinander geklärt hatten. Und es kam mir so vor, als ob sich in diesen Worten sein Leben verdichtete: seine Stille, seine Bescheidenheit und seine Wertschätzung. Und dass er für einen Moment über sich hinausgewachsen war.
Dass ich mich seit fast 25 Jahren in der Hospizbewegung engagiere, habe ich ihm zu verdanken. Denn unser persönlicher Abschied war zwar wohltuend, aber wie er gestorben ist, das war sehr schmerzlich. Ich hätte ihm und meiner Familie ein anderes Sterben gewünscht, als es damals im Krankenhaus möglich war. So war sein Tod am 1. November 1989 der entscheidende Impuls für mein Hospizengagement.
Aus der Begleitung vieler Trauernder weiß ich, wie wesentlich letzte Worte sind, wie sehr sie sich an einem letzten Wort, das im Licht des Todes sein ganzes Gewicht bekommt, festhalten können. Letzte Worte sind so etwas wie ein bleibendes Vermächtnis. In ihnen verdichten sich wesentliche Erinnerungen.
Diese Verdichtung eines Lebens sehen wir oft auch im Gesicht eines Verstorbenen, das im Tod alle Verkrampfung des Sterbeprozesses ablegt und zu einer erstaunlichen, erhabenen Schönheit gelangt.
Es ist schmerzlich, wenn die letzten miteinander gewechselten Worte im Streit gesagt wurden. Solche letzten Worte belasten schwer. Es ist schmerzlich, wenn es kein solches Wort gibt, weil der Tod unerwartet hereingebrochen ist oder das Sterben sprachlos gemacht hat. Manches Wort lässt ratlos zurück. So das Wort einer Frau, die über Monate die Anzeichen einer schweren Krankheit ignoriert hatte und bei der Diagnose im Blick auf alle zerschlagenen Lebenspläne sagte: »So hatten wir es uns nicht vorgestellt.« Danach wollte sie weder über die Krankheit noch über den bevorstehenden Tod sprechen.
Letzte Worte können wie die Bestätigung des Lebens sein, das man geführt hat. Oder sie irritieren, wenn sie scheinbar gar nicht zum Leben des Verstorbenen passen oder eine bisher verborgene Seite an ihm zeigen.
Es ist möglich, dass verschiedene Menschen sich unterschiedliche »letzte Worte« eines Verstorbenen merken, weil es ein letztes Wort speziell für sie war oder ihre persönliche Beziehung darin zum Ausdruck kommt. Wenn Freunde, Angehörige nach dem Tod eines Menschen solche Worte austauschen, die ihnen geblieben sind, entdecken sie, dass jeder von ihnen eine Facette dieses Menschen bisher noch nicht gesehen hat. Dabei ist es nicht wichtig, ob das Wort genau so gesagt wurde, und auch nicht, dass es tatsächlich das letzte auf dem Sterbebett gesprochene Wort ist. Entscheidend ist nur, dass es als wesentliches letztes Wort geblieben ist. Authentisch sind letzte Worte, weil sie im Rückblick das im Tod erfüllte Leben auf den Punkt bringen. Und weil es für die Weiterlebenden bedeutsam ist, dass ihnen jemand ein bleibendes Wort hinterlassen hat.
Letzte Worte, die Trauernde als Schatz in sich bewahren können, sind wie »Trittsteine« der Trauer.2 Es ist ein großer Trost, wenn es noch möglich ist, einen Dank auszusprechen. Oder zu sagen: Das Leben mit dir war ein gutes Leben! Solche Worte geben Halt gegen den Sog, der Trauernde manchmal in einen Abgrund ziehen will. Gute Erinnerungen an den Abschied können zu solchen Trittsteinen werden: noch einmal den Toten berühren, ihn und das gemeinsame Leben im Abschied würdigen, ein tröstliches Ritual finden.
Letzte Worte in der Kulturgeschichte
Kulturgeschichtlich spielen letzte Worte, ultima verba, in Anekdoten, Biografien und in der Geschichtsschreibung eine große Rolle. Sie dienen dazu, »eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen einzigen Ausspruch zu bannen«3. Berühmt sind die letzten Worte, mit denen Kaiser Augustus als Hauptdarsteller von der Bühne des nach ihm benannten Zeitalters abtritt: »Klatschet Beifall, Freunde, die Komödie ist zu Ende!« Ein Gegenstück dazu sind die letzten Worte des Philosophen Sokrates, die ein Zeugnis sind für einen Menschen, der sich treu geblieben ist. Platon hat ihm ein literarisches Denkmal im »Phaidon« gesetzt. Wie jeder Kranke nach seiner Genesung dem Gott Asklepios einen Hahn weiht, so soll es Kriton nach dem Tod des Sokrates auch tun. Mit diesem Auftrag verabschiedet sich Sokrates: »O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht.« Damit war klar, dass für ihn der Tod eine Heilung bzw. eine Befreiung darstellte. Zuvor hatte er die Anwesenden ermahnt und ermutigt, als sie zu weinen begannen: »… ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker.« Die Nachwirkung dieser platonischen Szene in der Antike war sehr groß, sie wurde geradezu ein »Archetypus«4.
Es gibt so etwas wie die »Mystique des letzten Moments«5. Deshalb haben letzte Worte eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance. Vielleicht auch deshalb, weil von keinem Sterbenden anzunehmen ist, dass er lügt – so eine alte Maxime. Letzte Worte haben eine magische Kraft. Dass ihnen keine weiteren mehr folgen können, gibt ihnen ihr Gewicht.
In den mittelalterlichen »Artes moriendi«6 waren letzte Worte der Ausdruck dafür, ob jemand ein gottgefälliges Leben geführt hat. Dass der Mensch sich Gott zuwenden soll und dies auch noch im letzten Augenblick seines Lebens tun kann, war die Botschaft dieser Kunst des Sterbens. Wie seit dem 16. Jahrhundert der unmittelbare Augenblick des Todes seine Bedeutung eingebüßt hat und das Bewusstsein für eine Wachheit während des ganzen Lebens wächst, beschreibt das Standardwerk von Philippe Ariès.7 Seine Kulturgeschichte des Todes erscheint parallel mit dem Erstarken der modernen Hospizbewegung8 und gibt einen umfassenden Einblick in die abendländische Einstellung zum Tod seit dem neunten Jahrhundert.
Das Interesse am letzten Augenblick und an den letzten Worten ist auch literarisch ein beliebtes Thema, eindrücklich von Leo Tolstoi beschrieben in seiner Erzählung »Der Tod des Iwan Iljitsch« (im Kapitel »Fragment und Vollendung« werden wir näher darauf eingehen). Von dem Dichter Matthias Claudius wird berichtet, er habe bis zuletzt versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, wie sich die Seele vom Körper löst. »Mein ganzes Leben habe ich auf diesen Augenblick studiert«, sagte er, »aber noch begreife ich so wenig wie in den gesundesten Tagen, wie es damit gehen wird«. Bis zum Schluss habe er das Erlöschen seines Lebens verfolgt, seine letzten Worte habe er zu seiner Frau kurz vor seinem Tod gesagt: »Nun ist’s aus!« Und dann flüsterte er ihr zu: »Gute Nacht, gute Nacht.«9
Durch die Hospizbewegung ist in den letzten Jahrzehnten eine neue »Kunst des Sterbens« gewachsen – oft auch im Rückblick auf die mittelalterliche »Ars moriendi«.
Damit ist auch die Bereitschaft gestiegen, in der Begegnung mit Sterbenden und aus der Reflexion der Erfahrungen am Sterbebett etwas für das Leben zu lernen. »Kostbarster Unterricht / an den Sterbebetten«, heißt es in einem Gedicht Hilde Domins. Und: »Jeder der geht / belehrt uns ein wenig / über uns selber.«10 Christian Schüle, der angesichts eines neuen Umgangs mit dem Sterben im 21. Jahrhundert einen Kulturwandel diagnostiziert, macht diesen Gedanken, das Sterben zu lernen, zum Buchtitel: »Wie wir sterben lernen«. Und er meint, dass es nötig sei, sterben zu lernen, gerade auch in einer Gesellschaft, die tendenziell den Trost im Diesseits will, weil sie kein Jenseits mehr überzeugt! »Kulturgeschichtlich betrachtet ist in Deutschland in den vergangenen fünfzehn Jahren eine kleine Revolution geschehen: Der Mensch von heute lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Er denkt Sterben, Tod und Trauer neu.«11
Wenn Bronnie Ware in ihrem Bestseller »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen«12 beschreibt, dann haben die fünf Sätze, die als Wünsche formuliert werden, den Charakter von »letzten Worten«. Sie beschreiben etwas, das wir in Variationen kennen. Wir kennen das Unbehagen, wenn wir zu viel arbeiten, Freundschaften nicht ordentlich pflegen, unsere innersten Sehnsüchte verraten und uns zu leicht anpassen, Gefühle zurückhalten und uns zu wenig Freude gönnen. Wir kennen die...