Wie gehen wir mit der Einzigartigkeit unseres Lebens und der Freiheit um, uns für oder gegen etwas zu entscheiden? Unfreiheit durch die Verbreitung von Drogen und süchtiger Abhängigkeit scheint vorwiegend ein Problem für die anderen zu sein, aber kaum für uns selbst. »Nachbars Uwe« ist betroffen, aber doch nicht wir, Sie und ich. Und wenn, dann doch eher wieder über Zweite und Dritte, weil wir als Eltern, Partnerinnen, Angehörige oder in den verschiedensten helfenden Berufen Tätige mit Drogen und Sucht konfrontiert werden.
Erstaunlich oft wähnen wir uns privat auf der vermeintlich sicheren Seite. Fälschlicherweise, wie sich herausstellt. Oft lassen wir uns überraschen und fallen dann aus allen Wolken. Wie schnell vermag uns das Thema durch den Suchtmittelgebrauch eines uns nahestehenden Menschen urplötzlich näher auf den Leib zu rücken, als uns lieb sein kann! Sich in keiner Weise, weder privat oder beruflich noch gesellschaftlich, allgemein vom Thema »Sucht« betroffen zu fühlen, ist eine trügerische Verkennung. Wir sind mittendrin: Wenn wir Augen haben, zu sehen, finden wir die vielen Varianten von Drogengebrauch, süchtig abhängigem oder suchtartigem Verhalten überall in unserem Alltag, oft sogar so alltäglich, dass wir sie gar nicht mehr selbstverständlich als eine Spielart der Sucht identifizieren.
Wer kennt sie nicht, die verschiedenen Situationen im beruflichen wie privaten, süchtig gefärbten Alltag, die uns Entscheidungen und bewusstes Verhalten abverlangen? Hier eine kleine Auswahl an Kostproben, die bereits für Kopfzerbrechen und individuelle Verdauungsschwierigkeiten sorgen können:
In der Fußgängerzone Ihrer Heimatstadt wird der Spruch an Sie herangetragen: »Eine kleine Spende für eine Übernachtung oder eine warme Mahlzeit?« Der junge Mann wirkt körperlich stark heruntergekommen. Wie verhalten Sie sich?
Sie gehen bei schönem Wetter durch eine Grünanlage Ihrer Stadt. Ganze Cliquen junger Leute haben sich dort niedergelassen, um abzuhängen und zu chillen. Bei den einen sehen sie kistenweise alkoholische Getränke, bei anderen riechen Sie im Vorübergehen einen merkwürdig süßlichen Rauch. Was geht in Ihnen vor?
Als Mutter eines 16-jährigen Sohnes schauen Sie zu Hause gelegentlichen noch in dessen Zimmer nach dem Rechten. Als Sie heute beinahe reflexartig nach einem Teller mit Pizzaresten auf seinem Schreibtisch greifen, fällt Ihnen ein kleines Tütchen ins Auge. Blitzartig realisieren Sie, dass das Tütchen eine Ihnen unvertraute grünliche Substanz enthält. Was fällt Ihnen als Erstes ein, und wie reagiert Ihr Mutterherz?
Ihnen fällt auf, dass Ihre 15-jährige Tochter immer in sich gekehrter wirkt und sommers wie winters nur noch lange Ärmel trägt. Was vermuten Sie, und wie würden Sie handeln?
Sie wissen als Mutter oder Vater schon seit Monaten, dass Ihr Sohn Haschisch und Marihuana oder Amphetamine konsumiert. Wie gelingt es Ihnen, dafür zu sorgen, dass der Drogengebrauch Ihres Sohnes nicht das einzig bestimmende Thema in Ihrer Familie wird? Wie gehen Sie jeweils als Mutter oder Vater sowie als Elternpaar mit dem Problem um? Wie sorgen Sie für sich selbst angesichts Ihrer Sorgen?
Ihr 12-jähriger Sohn spielt völlig selbstvergessen am Computer. Sie haben ihn schon wiederholt zum Essen gerufen und bekommen jedes Mal zu hören: »Gleich Mama, ich muss nur noch schnell zu Ende spielen.« Wie lautet Ihr Rezept, um Ihren Sohn zum Esstisch zu bewegen?
Ihre Tochter soll Ihnen abends das Smartphone abgeben. Es hat Klagen aus ihrer Schule wegen verstärkter Unaufmerksamkeit und Konzentrationsmängeln gegeben. Ihre Tochter weigert sich hartnäckig, Ihnen das Handy abzuliefern. Wie gehen Sie vor?
Ihr Partner raucht Zigaretten. Sie selbst rauchen nicht, und sein Geruch nach Rauch ist Ihnen unangenehm. Welche Reaktionen gestatten Sie sich?
Sie haben eine stressige Arbeit und trinken zum Abschalten des Öfteren abends ein paar Gläser Bier oder Wein. Ihre Kinder beobachten das aufmerksam. Sie sagen zwar nichts zu Ihnen, aber Sie spüren und verstehen deutlich ihre Blicke. Ändern Sie etwas an Ihren Gewohnheiten?
Auf Ihrem Weg zur Arbeit haben Sie es eilig. Sie fahren mit dem Auto, und vor Ihnen fährt ein Verkehrsteilnehmer, der trotz Verbots schon länger mit dem Handy telefoniert. Was möchten Sie am liebsten tun?
In Ihrer Familie drehen Sie sich mit einem depressiven Familienmitglied seit Längerem im Kreise. Sie kommen und kommen nicht weiter. Irgendwie scheint alles, was bislang an Behandlung versucht wurde, haarscharf am Kern der Sache vorbeizugehen. Atmosphärisch spüren Sie, dass irgendetwas im Verborgenen zu bleiben scheint. Welche Überlegungen kommen Ihnen in den Sinn?
Sie wollen als Sozialarbeiter gerade Ihr Büro verlassen, als das Telefon noch einmal klingelt. Ohne zu überlegen, nehmen Sie den Anruf unwillkürlich entgegen. Am anderen Ende ist eine auf Psychopharmaka eingestellte Klientin, die mit Selbstmord droht. Sie haben zwei Karten, um mit Ihrer Frau an diesem Abend ins Theater zu gehen. Es wäre die erste gemeinsame Unternehmung als Paar seit längerer Zeit, auf die Sie sich freuen. In spätestens zehn Minuten müssen Sie aus dem Büro sein, soll der ersehnte Abend nicht ins Wasser fallen. Wie gehen Sie auf Ihre mit Suizid drohende Klientin ein?
Sie fahren mit der U-Bahn zur Arbeit. Ihnen gegenüber lässt sich ein sichtlich angetrunkener Mann auf einen freien Sitzplatz fallen. Erst fängt er an, unverständlich zu grummeln, dann spricht er Sie direkt und distanzlos an. Wie verhalten Sie sich als Frau oder als Mann?
Sie fahren mit dem Zug auf eine große Familienfeier. Endlich mal kein Auto. Sie freuen sich darauf, im Zug den neuen Roman Ihres Lieblingsschriftstellers zu lesen. Kaum lehnen Sie sich entspannt zurück, dringen diverse Klingeltöne der Handys von Mitreisenden an Ihr Ohr, obwohl Sie vorsorglich einen Sitzplatz in der Ruhezone reserviert hatten. Wie würden Sie am liebsten reagieren?
Sie sind Lehrerin. Ein Schüler bereitet Ihnen Probleme. Im einen Moment verhält er sich weitgehend passiv und unmotiviert, im nächsten greift er Sie durch grenzüberschreitende verbale Attacken in Ihrer Persönlichkeit an. Wie erklären Sie sich sein Verhalten, und wie können Sie bei der Arbeit mit ihm vorankommen?
Du lebst als Kind bei deinen Eltern. Dein Vater und deine Mutter rauchen beide. Wie alle Kinder machst du dir Sorgen um ihre Gesundheit. Außerdem wirst du genötigt, passiv mitzurauchen. Wie sprichst du sie am geschicktesten darauf an? Glaubst du daran, etwas bei ihnen bewirken zu können?
Du bist selbst Drogenkonsument, weißt um deine Abhängigkeit und hast schon etliche Behandlungs- und Therapieversuche hinter dich gebracht, die dir allesamt wenig geholfen haben. Gibst du auf, oder suchst du weiter nach der für dich stimmigen Hilfe?
In ihrer Alltäglichkeit sind Drogengebrauch und süchtiges Verhalten gänzlich undramatisch. Folglich nehme ich als Autor dieses Buchs das Phänomen von dieser Seite ins Visier und erhöhe die Sucht nicht zu etwas »Besonderem«, aus dem Alltag Fallendes, selbst wenn ich von ihr als einem mächtigen Gegner spreche. Setzt sie sich als Lebensmodus durch, wird sie in der Tat zu einem eigenmächtigen Gegner von Leben und...