Einleitung
Über das Phänomen der Angst gibt es zahlreiche psychologische Bücher. Schon das ist ein Zeichen dafür, dass dieses Thema heute viele Menschen bewegt. Es ist das Thema, das immer wieder, und in jüngster Zeit verstärkt, auch in Gesprächen auftaucht, die ich führe. Als ich anfing, mich selbst intensiver mit der Angst und ihrer Verwandlung zu beschäftigen, fiel mir erst auf, wie häufig meine Gesprächspartner aus sich heraus davon und von ihren Versuchen erzählten, damit umzugehen. Das Thema begegnet mir immer wieder in den verschiedensten Situationen. Menschen sprechen von ihrer Angst vor der Zukunft, von drohender Arbeitslosigkeit und davon, dass sie dann die finanziellen Belastungen des Haushalts nicht mehr bewältigen können. Sie kommen aber auch unabhängig von der momentan schwierigen wirtschaftlichen Lage, der gegenüber sie sich ohnmächtig empfinden, immer wieder auf das Thema zu sprechen – ob von Krankheit die Rede ist oder vom Älterwerden, ob es um die Angst, verlassen zu werden geht oder um die Angst vor Verletzung und Ablehnung, um die Angst, im Leben zu scheitern und es nicht zu schaffen oder um die Angst vor dem Sterben. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die so wohlhabend ist wie nie zuvor in der Geschichte, die über früher undenkbare technische Möglichkeiten verfügt und in der es gegen alle möglichen Risiken Versicherungen gibt. Und doch spüren viele Menschen heute in ihrem Leben Unsicherheit, sie fühlen sich von angstauslösenden Faktoren geradezu umzingelt.
Angst ist natürlich nichts Neues, sondern etwas, was die Menschen seit jeher beschäftigt hat. Und doch scheint unsere Zeit und unsere Gesellschaft heute in besonderer Weise von diesem Lebensgefühl geprägt zu sein, so sehr, dass der Psychologe Wolfgang Schmidbauer sogar von der „Generation Angst“ gesprochen hat. Das hat sicher auch viele Gründe, die nicht nur aktuell bedingt sind. Nach dem Krieg haben viele die Ängste, die sie in Luftschutzbunkern erlebt hatten und die auf der Flucht ihre ständigen Begleiter waren, einfach verdrängt. Sie wollten von der Angst nichts mehr wissen, haben sie gleichsam abgelegt, um sich den Problemen des Überlebens zu widmen. Man könnte auch sagen: Sie sind vor ihrer Angst davongelaufen, indem sie in die Aktivität flüchteten. Doch heute werden viele verlassene Kriegskinder von den alten Ängsten eingeholt. Die Verdrängung hatte sie dazu geführt, einfach zu funktionieren und die eigenen Gefühle zu übergehen. Heute drängen diese Emotionen mit Macht an die Oberfläche. Mit der Angst steigt zugleich die Sehnsucht auf, das eigene Leben anzuschauen, darüber zu sprechen und sich damit auszusöhnen.
Der russische Romanautor Daniil Granin beschreibt sein eigenes Leben in einem autobiographischen Rückblick unter dem einprägsamen Stichwort „Jahrhundert der Angst“. Er meint damit die Erfahrung des Krieges und das Leben unter einem totalitären Staat. Auch bei Menschen, bei denen die Erfahrung des Totalitarismus nicht so tief greifend oder lang anhaltend war, können weit zurückliegende Erfahrungen eine starke Nachwirkung haben. Die Angst, die heute viele Menschen der älteren Generation bewegt, kann in der Tat mit den verdrängten Ängsten der Kriegsgeneration zusammen hängen. Sie beschränkt sich aber nicht auf eine Altersstufe und sie hat auch neue Wurzeln. Während der Weg nach dem Krieg immer nur bergauf ging, scheint er jetzt nach unten zu führen, in ein nebliges Tal. Dort unten ist es dunkel und kalt. Man fühlt sich nicht wohl in diesem Tal. Eine undurchsichtige Zukunft macht unsicher. Und vieles, was dort unten geschieht, erzeugt Angst. In der Arbeitswelt ist ein rauer Ton an der Tagesordnung. Eine Frau erzählte kürzlich von ihrem Büroalltag, der seit einiger Zeit geprägt ist von einem stets brüllenden Chef und Kolleginnen, die sich aus Furcht ducken. Das Beispiel zeigt, wie verflochten die Situation ist: Die aggressiven Angstmacher sind selbst voller Angst. Und so verbreiten sie um sich herum immer mehr Angst und verstärken die Unsicherheit in ihrer Umgebung. Es braucht schon ein starkes Selbstvertrauen, um sich von dieser angstbesetzten Atmosphäre nicht anstecken zu lassen. Doch nicht nur im kleinen Raum der individuell erfahrbaren Arbeitswelt ist das Klima infiziert. Auch die Zukunftsprognosen der Politiker und Wirtschaftsforscher erzeugen Angst. Die organisierte Kriminalität und die terroristischen Netzwerke lassen manche vor Angst kaum mehr schlafen: Die ganze Welt verwandelt sich für sie in ein angstbesetztes dunkles Szenario der Bedrohung.
Es handelt sich bei all dem nicht um etwas Irreales. Die Menschen haben reale Ängste. Eine der wichtigsten Ängste kreist um die eigene Zukunft, nicht nur um die wirtschaftliche, sondern auch um die gesundheitliche und um die familiäre Zukunft, um die Frage, ob die Beziehung in der Ehe hält, ob die Familie zusammenhält. Neben diesen realen Ängsten gibt es auch irrationale – etwa die Angst vor der Angst. Viele Menschen werden davon geplagt. Sie haben Angst, die Angst könne derart Besitz von ihnen ergreifen, dass sie davon gelähmt und am Leben gehindert werden. Immer mehr Menschen leiden heute unter Panikattacken. Die Angst hindert sie, nach draußen zu gehen. Sobald sie in einem engen Raum sind, ergreift sie Panik. Sie müssen augenblicklich heraus aus der Enge, um sich überhaupt aushalten zu können. Angst wird hier bedrohlich.
Das deutsche Wort „Angst“ kommt von Enge. Dort, wo es eng wird, bekomme ich Angst. Ich möchte am liebsten fliehen. Doch es geht nicht nur um die äußere Enge. In der Angst wird auch das Herz eng. Der Atem wird eingeengt und geht nur noch flach. Man bekommt keine Luft mehr und hat Angst, zu ersticken. So ein flacher Atem fördert nicht nur die Angst, sondern auch die Depression. Bei einem flachen Atem verlieren wir unsere Kraft. Wir können der Angst nichts mehr entgegen setzen. Panik ist gesteigerte Angst. Das Wort „Panik“ kommt vom griechischen Wald- und Hirtengott Pan. In der Gestalt eines Bockes tauchte er aus dem Nichts auf und jagte den Menschen einen gewaltigen Schrecken ein. Dabei war er oft nicht sichtbar. Daher steht „Panik“ für einen plötzlichen und undeutbaren Schrecken, der uns erfasst und gegen den wir uns nicht wehren können. Wenn Menschen von Pan in Schrecken versetzt werden, dann flüchten sie wie aufgescheuchte Tiere. Die Griechen nannten solche grundlose Furcht „panikos = von Pan herrührend“. Wir sprechen von panischer Angst und panischem Entsetzen. Sie ergreift uns, ohne dass wir etwas gesehen oder erlebt hätten, das Angst auslösen könnte. Sie steigt in uns auf und versetzt uns in Schrecken. Dann versuchen wir zu fliehen. Menschen, die an Phobien leiden, etwa an Platz- oder Raumangst, werden oft von dieser panischen Angst erfasst. Oft aber überfällt sie uns aus heiterem Himmel. Wir können uns oft nicht erklären, warum wir in Panik geraten. Wir erleben diese Angst wie ein plötzliches Erscheinen eines furchterregenden Schreckenstieres, das uns in die Flucht schlägt. Viele sprechen davon, sie würden an Panikattacken leiden. Sie erleben die Panik wie einen feindlichen Angriff, dem sie sich plötzlich ausgesetzt fühlen.
Daniil Granin bezieht sich in seinem Buch über das „Jahrhundert der Angst“ auf eine Definition der alten Griechen: „Schreck ist Angst, die erstarren lässt. Scham ist Angst vor dem Verlust der Ehre. Krankhafte Verzagtheit, Furcht ist Angst vor dem Handeln. Entsetzen ist Angst, die einem die Sprache verschlägt. Qual ist die Angst vor dem Unbestimmten.“ (Granin 6) Schon die Griechen der Antike kannten also die Angst in vielen Ausprägungen. So zeigt sich auch bei uns die Angst in vielen Facetten. Wenn man sie auf ihre Funktion hin befragt, dann könnte man von einem Doppelgesicht sprechen: Es gibt die Angst, die uns zittern lässt. Aber es gibt auch Ängste, die uns auf etwas Wichtiges in unserer Umwelt oder in unserer Seele hinweisen. Es gibt die Angst, die uns auf Gefahren verweist. Und es gibt die Angst, die uns mahnt, unser Maß nicht zu überschreiten.
Psychologen und Philosophen sind sich darüber einig, dass Angst nicht nur etwas Schlechtes ist. Angst ist für den Menschen notwendig. „Sie ist ein Alarmsystem, das uns vor Bedrohungen warnt,“ sagt der Psychologe Heinrich von Stietencron. Die Angst zeigt mir immer, dass ich mich bedroht fühle. Und sie regt mich an, mich gegen die Bedrohungen zu schützen. Angst kann Kräfte in mir mobilisieren, damit ich wachsamer und achtsamer auf Gefahren reagiere. Die Bedrohungen, auf die die Angst in uns reagiert, können von außen und von innen kommen. Die Angst bezieht sich dabei nie nur auf ein „Wovor“, sondern immer auch auf ein „Worum“. Worum habe ich Angst? Habe ich um Menschen Angst, die mir lieb sind? Oder habe ich um mich selbst Angst, um mein Leben, meine Gesundheit, mein Heil? In unserer Angst steckt also letztlich Hoffnung auf Leben. Letztlich ist Angst „Ausdruck von Begrenztheit und Vergänglichkeit, aber zugleich Ausdruck auch von Hoffnung und Verlangen“, sagt der Philosoph Ulrich Hommes. Er verweist auf Franz Kafka, dessen Werk wesentlich um die Angst kreist. Kafka hat in der Angst letztlich die Sehnsucht nach Leben und Liebe gesehen. In einem Brief an seine Verlobte schreibt er einmal: „Allerdings ist diese Angst vielleicht nicht nur Angst, sondern auch Sehnsucht nach etwas, was mehr ist als alles Angsterregende.“ Hier ist etwas ganz Wichtiges gesehen. Daher geht es in diesem Buch auch nicht darum, zu zeigen, wie wir alle Ängste überwinden zu können. Es geht vielmehr darum, dass wir lernen, mit der Angst zu leben. Sobald ich mich aussöhne mit meiner Angst, wandelt sie sich. Sie ist weiterhin da. Aber sie hat mich nicht mehr im Griff. Angst...