DIE KLEINE
DRINA
„Es war eine ziemlich melancholische Kindheit “
… VICTORIA …
Am 28. April 1819 erreichte ein in Amorbach in Franken aufgebrochener Konvoi von 20 staubbedeckten Kutschen und Wagen nach 30-tägiger Fahrt die Auffahrt des Kensington Palace in London. Die Reise war ein Rennen gegen die Zeit gewesen, denn es ging darum, dass der erste legitime Nachkomme eines Sohnes von George III auf englischem Boden zur Welt kam.
Die zukünftigen Eltern waren Edward, Herzog von Kent, viertältester der vier Söhne von George III, und seine Gattin Marie Louise Victoire, vor ihrer Heirat Prinzessin des deutschen Herzogtums Sachsen-Coburg-Saalfeld. Das Paar hatte bisher in eher bescheidenen Verhältnissen in Amorbach gelebt, denn der Herzog hatte nach seinem Ausscheiden aus der Armee nur Schulden angehäuft.
Der tragische Tod von Prinzessin Charlotte von Wales (Nichte des Herzogs und Schwägerin der Herzogin) hatte in ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimen lassen. Falls der Herzog seine älteren kinderlosen Brüder überlebte, würde er eines Tages König sein. Und das Kind, das seine Frau erwartete, würde bei der Geburt den fünften Rang in der Thronfolge einnehmen.
Im Jahr 1819 war der Herzog von Kent 50 Jahre alt. Wild entschlossen, zu heiraten und einen Erben zu zeugen, hatte er sich im Vorjahr von seiner langjährigen französischen Geliebten Madame St. Laurent losgesagt, sie mit einer großzügigen Pension bedacht, damit sie keine Schwierigkeiten machte, und war auf Brautschau gegangen. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Heirat mit Victoire von Sachsen-Coburg alles andere als ideal war, da sie im Rang unter ihm stand und eine Witwe mit zwei Kindern war. Doch war dem Herzog sehr daran gelegen, seinen Anspruch auf den Thron zu untermauern, indem er ein respektabler Familienvater wurde.
In The London Gazette wird die Geburt der kleinen Prinzessin verkündet.
Trotz der anstrengenden Reise gebar die Herzogin von Kent am 24. Mai um 4.15 Uhr ein hübsches, blondes und rundliches Mädchen. Das Baby sah dem Vater bemerkenswert ähnlich und hatte von ihm die großen blauen Augen der Hannoveraner geerbt. Die Geburt löste einen landesweiten Seufzer der Erleichterung aus, denn sie fiel mit einem der Wahnsinnsanfälle von George III zusammen, unter denen dieser während der Regentschaft seines unbeliebten Sohnes George, des späteren George IV, litt.
„Schön und dick“ – Victoria als Säugling.
Die Herzogin von Kent hatte sich geweigert, den Beistand eines männlichen Arztes in Anspruch zu nehmen, und sich bei der Geburt stattdessen von der deutschen Frauenärztin Charlotte von Siebold betreuen lassen, einer der ersten Frauen in Europa, die einen medizinischen Abschluss erreicht hatte. Von Siebold verkündete Victorias Geburt den Würdenträgern, die sich im Vorzimmer eingefunden hatten, um das Ereignis zu bezeugen. Unter ihnen war der Herzog von Wellington, der die Hebamme nach dem Geschlecht des Kindes fragte.
„Ein Mädchen“, antwortete die Ärztin und fügte hinzu: „Ein sehr hübsches Baby. Nicht groß, aber dick. Wenig Knochen, viel Speck.“
Nur drei Monate später half die der Familie sehr verbundene Charlotte von Siebold einem weiteren Baby auf die Welt, diesmal auf Schloss Rosenau bei Coburg: dem Sohn von Ernst von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Bruder der Herzogin von Kent und Cousin der kleinen Prinzessin. Von Anfang an hegte Auguste Herzogin von Sachsen-Coburg, Großmutter der beiden Säuglinge, den Plan, dass ihr lieber Enkelsohn Albert und ihre entzückende Enkeltochter eines Tages heiraten sollten. In ihrem Wohnsitz in Ebersdorf schrieb sie begeistert über den kleinen Albert: „Was für einen charmanten Begleiter würde er doch für die hübsche Cousine abgeben.“ Ein sehr langfristig angesetztes Eheanbahnungsprojekt nahm seinen Lauf.
Der junge Prinz Albert, Victorias Cousin und späterer Prinzgemahl.
PRINZESSIN
CHARLOTTE
„Sie hätte gerettet werden können, wäre sie nicht bereits derart geschwächt gewesen.“
… VICTORIA …
Die 1796 geborene Charlotte war das einzige Kind des Prinzregenten George und seiner Gattin Caroline von Braunschweig, und damit bis zu ihrem Tod einziges legitimes Enkelkind von König George III Die warmherzige junge Frau sollte durch eine Heirat mit Prinz Wilhelm von Oranien eine vorteilhafte dynastische Verbindung eingehen, suchte aber verzweifelt nach einer Alternative. Nachdem sie Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld kennengelernt hatte, bat sie ihren Vater, diese Ehe zu erlauben. Alexander I. von Russland unterstützte sie, indem er Prinz Wilhelm die Hand seiner eigenen Schwester Anna anbot, und Charlotte und Leopold durften 1816 heiraten. Das Paar schien glücklich zu sein und war beim Volk beliebt. Die 1817 verkündete Nachricht von der Schwangerschaft der Prinzessin löste großen Jubel aus.
Die von Natur aus gesunde Charlotte wurde durch die ihr in der Schwangerschaft verordneten Diäten und Aderlässe allzu stark geschwächt. Nachdem sie zwei Tage lang in Wehen gelegen hatte, gebar sie am 5. November 1817 ein totes Kind und verblutete kurz darauf. Als sie starb, rief das große Bestürzung hervor und galt als nationale Katastrophe, da der Tod zweier potenzieller Thronerben die Monarchie in die Krise stürzen könnte. Nun begann unter den noch lebenden Söhnen von George III eine besondere Art von Wettrennen: Jeder von ihnen versuchte, Thronerben zu zeugen. Adelheid, Gattin des Herzogs von Clarence (der zukünftige William IV), verlor zwischen 1819 und 1822 alle ihre vier Babys.
Nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, machte es sich Leopold zur Lebensaufgabe, seine Nichte Victoria auf das Amt vorzubereiten, das eigentlich Charlotte zugestanden hätte.
Prinzessin Charlotte, durch deren Tod Victoria in der Erbfolge nachrückte.
Der stolze Vater beschrieb die neugeborene Prinzessin mit den Worten „rundlich wie eine Wachtel“ und war unglaublich stolz auf sein kleines Mädchen, das er stets zu beschützen trachtete.
„Lassen Sie sie nicht fallen! Sie könnten eine Königin beschädigen!“, sagte er zum Bischof von Salisbury, als dieser kurz nach der Geburt zu Besuch kam und das Baby ungeschickt auf den Arm nahm. Der Herzog, der sich der Position seiner Tochter in der Erbfolge wohl bewusst war, verkündete, dass sie nach der großen Tudor-Monarchin Elizabeth genannt werden sollte. Dennoch nannte der Prinzregent George bei der Taufe den Namen Alexandrina, denn Pate des Kindes war Alexander I. von Russland, der im kürzlich überstandenen Krieg gegen Napoleon Verbündeter Großbritanniens gewesen war. Nach einer kurzen Pause fügte George den zweiten Vornamen Victoire hinzu. Die Prinzessin, die 1837 Königin werden sollte, wurde ihre frühe Kindheit hindurch von ihrer deutschen Mutter und Großmutter zärtlich „Maiblume“ genannt und ansonsten „Drina“ gerufen.
Auf das große Glück folgte ein tragisches Unglück: Im Januar 1820 erkältete sich der Vater bei einem Aufenthalt im Küstenort Sidmouth in Devon und starb in der Folge an Lungenentzündung. Seine letzten Worte waren ein Gebet: „Gott möge seine Frau und sein Kind schützen.“
Obgleich sie sich später kaum noch an ihren Vater erinnern konnte, sagte Victoria von sich: „Ich wurde dazu erzogen, mich selbst als Soldatenkind zu sehen.“ Sie entwickelte ein relativ verklärtes Bild der langen, insgesamt jedoch nicht besonders bemerkenswerten militärischen Karriere ihres Vaters und fühlte sich ihr Leben lang der Armee verbunden; und sie knüpfte immer wieder Beziehungen zu starken Vaterfiguren.
Sechs Tage nach dem Tod des Herzogs starb dessen Vater, König George III. In weniger als einer Woche war die kleine Drina dem Thron ein ganzes Stück nähergerückt.
Victorias Vater, der Herzog von Kent, vierter Sohn von George III.
Kensington Palace, in dem Victoria ihre Jugend verbrachte.
KENSINGTON PALACE
„Mein liebes altes Zuhause“
… VICTORIA …
Der ursprüngliche, 1661 am westlichen Rand des Hyde Park erbaute Kensington Palace war ein Herrenhaus aus roten Ziegeln im jakobinischen Stil und von einem Park mit Rosskastanien und Buchen umgeben. Das Königshaus erwarb das Anwesen 1689 für William III, weil dessen Asthma in der bisherigen feuchten Residenz Whitehall schlimmer geworden war. William ließ die Innenräume von Architekt Sir Christopher Wren neu gestalten. Königin Anne liebte den Kensington Palace so sehr, dass sie 1704 eine Orangerie errichten ließ; die schönen Gärten hatte der Landschaftsgärtner William Kent 1723 bis 1727 im Auftrag von George I angelegt.
In die eigentliche Erhaltung des Gebäudes wurde jedoch nur wenig investiert, und nach dem Tod Georges II diente es nicht länger als königliche Residenz.
Nachdem Buckingham House im Zentrum Londons fertig war, zog es George III vor, dort zu residieren, und Kensington Palace wurde zum Wohnsitz rangniederer Mitglieder des Königshauses. Dem Herzog von Kent wurden 1798 zwei Stockwerke des Gebäudes zugewiesen, und er richtete sie aufwändig mit neuen Polstermöbeln und Vorhängen ein. Die teuren Stoffe konnten jedoch wenig am düsteren Charakter der Räume ändern, und der Herzog musste ohnehin bald vor seinen Gläubigern ins Ausland fliehen.
Als Victoria geboren wurde, war der einzige Bewohner von Kensington Palace ihr exzentrischer Onkel, Augustus Herzog von Sussex....