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Viel Rücken. Wenig Rat.

Wie ich der Ursache meiner Schmerzen auf die Spur kam. Ein Kreuz-Krimi

AutorFrederik Jötten
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644499812
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Frederik Jötten war in den vergangenen acht Jahren bei 13 Orthopäden, fünf Radiologen und drei Physiotherapeuten. Er besitzt einen Koffer schöner Bilder von seiner intakten Wirbelsäule und einen Ordner mit falschen und nichtssagenden Befunden. Er hat bei spritzwütigen Haudegen ebenso auf der Behandlungsliege gelegen wie bei sanften Handauflegern, Chiropraktikern und Osteopathen. Er ist ein geschlagener Ermittler, der nicht aufgibt, seinen schwersten Fall zu lösen: den seines Rückenleidens. Mit zahlreichen Tipps, wie man sich schlechte Behandlung erspart.

Frederik Jötten ist Biologe und Journalist. Seine Rückenschmerzen hat er durch Jahre lange Ermittlungen besiegt. Er ist immer auf der Suche nach der gesündesten Art zu leben, hält die Luft an, wenn jemand niest und deckt sich am Strand mit Bettlaken zu - um Hautkrebs abzuwenden. Er sieht sich als Vorbild der rationalen Krankheitsprävention, andere halten ihn für sozial auffällig. Ernsthaft schreibt er unter anderem für Die Zeit, NZZ am Sonntag und GEOkompakt. Außerdem ist er Autor der Gesundheitskolumne «Wir machen uns mal frei» auf Spiegel Online.

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Leseprobe

2. Einer von vielen


Ich begann zu recherchieren. Zuerst wollte ich mehr erfahren über das gesamte Spektrum an Rückenerkrankungen. Ich sah in der Tageszeitung, dass zwei Wochen später ein Vortrag zu Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Rückenschmerzen stattfinden sollte. Referieren sollte der Chefarzt einer Wirbelsäulenklinik, Einlass nur nach telefonischer Anmeldung. Ich rief am gleichen Tag an, an dem die Anzeige erschienen war – die Veranstaltung war schon ausgebucht. Erst als ich ein bisschen jammerte, ließ sich die Dame am Telefon überreden, mich doch noch auf die Liste der Auserwählten zu setzen.

An einem Mittwochabend betrat ich ein Luxushotel. Der große Veranstaltungssaal war voll, ungefähr 400 Leute drängten sich in dem Raum. Glänzende Glaskugeln hingen von der Decke. Durch die Fenster sah man verspiegelte Hochhäuser im Abendlicht. Ich fand noch einen Platz in einer der hinteren Sitzreihen. Links vor mir saß eine Frau mit Kopftuch, etwa 40, daneben eine ältere, elegant gekleidete Dame mit Hut, circa 70, daneben ein Mann Mitte 40, weißes Hemd, gebräuntes Gesicht, dunkler Typ, nach hinten gegelte Haare. Er wirkte wie ein Angehöriger eines reichen italienischen Clans, allerdings wie einer, dem das Yacht- und Ferrarifahren gerade nicht mehr so viel Spaß machte. Er saß so übertrieben gerade und steif da, als habe er einen Stock als Wirbelsäule. Seine Gesichtszüge ließen unterdrückten Schmerz vermuten, in der Hand hielt er einen Block, jederzeit bereit, den Schmerz für einen Moment auszuhalten, um eine Notiz zu machen, die das Leiden vielleicht würde leichter machen können.

An die Leinwand war schon der Titel der Veranstaltung projiziert: «Wenn die Wirbelsäule aus der Balance gerät». Wenige Minuten später kam ein kleiner Mann im Anzug auf die Bühne und begrüßte uns Heilsuchende mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln – der kahlköpfige Chefarzt des Wirbelsäulenzentrums. «Schön, dass Sie heute Abend hier sind, oder auch nicht schön», sagte er. «Wenn Sie nicht hier wären, ginge es Ihnen besser!» Ja, da hatte er recht. Das Publikum lachte. Es ist nicht so, als ob wir Rückenkranken keinen Humor hätten, nur so können wir das Elend schließlich ertragen. «80 Prozent der Menschen haben in ihrem Leben mal Rückenschmerzen, 40 Prozent haben sie genau jetzt», sagte der Chefarzt. «Wer hat Schmerzen in der Halswirbelsäule?» Einige Hände gingen nach oben. «In der Brustwirbelsäule?» Nur zwei Zuhörer meldeten sich. «In der Lendenwirbelsäule?» Bejahendes Grummeln ging durch den ganzen Saal. «Die meisten Menschen haben dort Probleme, auf den Lendenwirbeln lastet der meiste Druck.»

Ich wusste es schon vorher, aber hier sah ich es deutlich: Ich war nicht allein. Im Gegenteil, ich war einer von sehr vielen. Wir Rückenschmerz-Patienten könnten Wahlen entscheiden oder eine Revolution machen – wenn wir mal fit wären. Aber wir sind gefangen in unserem Schmerz. Er lässt nicht viel Hirnkapazität frei für große Gedanken. Unsere volle Aufmerksamkeit gilt der Schmerzlinderung und deshalb auch dem Referenten auf dem Podium, dessen Power-Point-Präsentation uns Erlösung bringen könnte, vielleicht.

«80 Prozent der akuten Schmerzen heilen ohne Therapie», sagte der Chefarzt. Das wirkte offen und ehrlich, nicht, als ob er Patienten ködern wollte. Aber man kann das auch anders sehen: Rückenspezialisten müssen nicht die geringste Angst haben, dass ihnen die Patienten ausgehen. Und ja, wir, die wir hier saßen, anstatt beim Fußballspiel, im Theater oder in der Kneipe, wir waren wohl die 20 Prozent, bei denen die Schmerzen nicht von allein verschwunden waren.

«Ein großes Problem ist, wenn Rückenschmerzen chronisch werden», sagte der Chefarzt. Ein Stöhnen ging durch den Raum. «Wenn Schmerzen länger als sechs Monate andauern, prägt sich das ins Schmerzgedächtnis ein, dann kann es wehtun, sogar, wenn die organische Ursache nicht mehr vorhanden ist.» Das bedeutete, es gab nicht mehr viel Hoffnung für mich, ich hatte die Schmerzen schon sieben Monate.

Eine Frau meldete sich: «Ich bekomme ständig einen Hexenschuss. Was kann ich tun?» Sie war noch keine 20 Jahre alt – es konnte wirklich jeden treffen. «Ich müsste eine Diagnose haben, um dazu sicher etwas sagen zu können», meinte der Chefarzt. Tja, die Diagnose, sie ist oft das Problem – wie wenig Vertrauen muss man zu seinem Arzt haben, um bei einer öffentlichen Veranstaltung nach Hilfe für ein medizinisches Problem zu fragen? Antwort: so verzweifelt wie wir alle in diesem Raum. «Die Patienten mit unspezifischen Diagnosen haben es ganz schwer», sagte der Referent. «Sie rennen von Arzt zu Arzt, und keiner nimmt sie ernst.» Dem war nichts hinzuzufügen. So einer war auch ich.

Ein Bild auf der Leinwand zeigte Dutzende Therapie-Methoden, unter anderem Elektro-Therapie und Akupunktur. Der Arzt sagte: «Es gibt sehr viele Möglichkeiten – man bekommt das vom Arzt, was gerade bei ihm im Angebot ist.» Ich sah, dass die gesamte erste Reihe geschlossen nickte – das kannten wir alle. Ich sah aber auch, dass alle anderen fest und bewegungslos auf ihrem Stuhl saßen. Im Gegensatz zu mir. Ich rutschte auf der Sitzfläche hin und her, fand keine Position, in der ich schmerzfrei war. Ich steckte mein Hemd fest in die Hose, zur Sicherheit, um zu verhindern, dass mein unterer Rücken kalt und anfällig würde, obwohl es warm war und von Zugluft nichts zu spüren. Dann versuchte ich extrem gerade zu sitzen – erfolglos, weiterhin Schmerzen. War ich denn sogar hier unter den Leidensgenossen am schlimmsten dran? Ging es denn wirklich jedem besser als mir? Gemein, aber ich war erleichtert, als die Frau neben mir sich auf die Stuhllehne stützte und sich mit einem leisen Stöhnen ein wenig aufrichtete. Der Chefarzt sagte: «Es gibt sehr viele Therapieansätze – als Patient wüsste ich auch nicht, was ich machen soll.»

Dann zeigte er eine Abbildung, auf der Strichmännchen in verschiedenen Positionen zu sehen waren, daneben die Zahl der Kilogramm, die jeweils auf den Lendenwirbeln lasten. Im aufrechten Sitzen sind es 90, im Stehen 100, beim Heben mit geradem Rücken 340, mit schiefem Rücken 500 – der geringste Betrag ist neben einem liegenden Männchen mit hochgelegten Beinen zu sehen – 20 Kilo. «Stufenbett!», rief ein kundiger Herr in der Reihe vor mir.

Überhaupt zeigte sich jetzt, dass es unter den Patienten weitaus größere Experten gab als mich. Der Chefarzt projizierte Röntgenbilder auf die Leinwand. Der Mann vor mir, Halbglatze, ergrauter Bart, zuckte zusammen, als er das sah. «Uhh, ahh, das ist ja furchtbar!», stöhnte er, noch bevor der Chefarzt mit dem Laserpointer den Bandscheibenvorfall gezeigt hatte. Wenn man es wusste, konnte man eine Vorwölbung der Bandscheibe sehen, die auf den Nervenkanal drückte.

«Ich kann Sie aber beruhigen, in den USA hat man 98 Personen in einen Kernspintomographen gesteckt, die keine Rückenschmerzen hatten», sagte der Arzt. «52 Prozent der Untersuchten hatten eine vorgewölbte Bandscheibe – und 27 Prozent sogar einen Vorfall!» Das Rätsel der Rückenschmerzen: Die einen haben wie ich Schmerzen und keinen Befund, die anderen einen Bandscheibenvorfall und merken davon nichts.

Der Chefarzt war Neurochirurg und kam jetzt auf sein Gebiet zu sprechen. «Wenn ich den Hals von vorne öffne, bin ich in zwei Minuten an der Bandscheibe zwischen den Halswirbeln», sagte er. Schauerlich. «Wenn das Rückenmark gequetscht ist, kann man die Muskulatur streicheln, spritzen, massieren, das hilft dann nichts, da muss Black & Decker ran.» Der Chefarzt meinte damit die Operation. Natürlich war dieser Vortrag eine Werbeveranstaltung für seine Klinik. Allerdings konnte man ihm nicht vorwerfen, dass er hemmungslos Reklame machte. «Bei weniger als 1 Prozent der Rückenpatienten muss operiert werden – es wird viel zu oft operiert heute», sagte er. «95 Prozent der Patienten hilft die konservative Therapie, also Schmerzmittel und Physiotherapie. Jeder redet davon, aber keiner macht sie, weil sie dem Arzt kein Geld bringt.»

Eine Frau, Ende 20, meldete sich: «Hat die Operation Risiken?» Der Chefarzt lächelte: «Jeder Eingriff hat das – er kann auch tödlich sein.» – «Das ist ja erfreulich», sagte die Frau. Der Chefarzt antwortete: «Wir haben kaum Komplikationen.» Eine Frau um die 40 mit Perlenohrringen, im Business-Kostüm, fragte: «Verschwinden die Schmerzen völlig nach einer Operation?» Der Chefarzt lächelte wieder. «Wir reparieren eine Stelle, aber meistens ist es ein Fehler im System», sagte er. «Wenn die Patienten den Rücken nicht stärken, kommt das Problem oft an anderer Stelle wieder – ich sage immer: einmal Klinik-Kunde immer Klinik-Kunde.» Wir lachten. «Die Operation ist die letzte Wahl, und sie kann keine Wunder bewirken.»

Ja, wir im Publikum hatten uns natürlich Wunder erhofft, waren aber doch froh um die Ehrlichkeit des Vortragenden. Ich fragte, was man in meinem Fall – keine Diagnose an der Wirbelsäule – machen könne. Er antwortete: «Man kann unter Röntgen- oder Kernspinkontrolle eine Spritze mit Cortison und Schmerzmittel in den Spalt des Iliosakralgelenks setzen.» Ich beschloss, dass ich erst alles andere ausprobieren wollte, bevor ich das machen...

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