Vietnam
Essen ist Frieden
Bäuerinnen mit Kegelhüten, die in dampfende Felder Reis pflanzen; Geschäftsleute im Anzug; kahl geschorene Mönche; Beamte in militärgrünen Uniformen; Jugendliche in Jeans. Elegante Hotels im Kolonialstil und Hütten auf dem Wasser; Heere von Hondafahrern und Wasserbüffel, die langsam die Erde pflügen – das alles ist Vietnam. Der Küstenstaat am Südchinesischen Meer ist ein Land großer Kontraste, ein Land, das noch sehr alten Traditionen verbunden ist, sich dennoch mit Enthusiasmus in den Fortschritt wagt.
Das macht es heute zu einer der spannendsten Regionen Asiens.
Lange Zeit haben viele Vietnam nur mit Krieg in Verbindung gebracht. Kein Wunder: Allein in der jüngeren Geschichte war das südostasiatische Land 30 lange Jahre im Kriegszustand – gegen die Kolonialmacht Frankreich, später gegen die Amerikaner. Nach Kriegsende war das Land vom Rest der Welt praktisch isoliert. Bis vor wenigen Jahren, seit der kommunistische Staat einen Kurs der vor allem wirtschaftlichen »Erneuerung« fährt, bei dem er sich mehr und mehr dem Ausland öffnet. Jetzt erhebt sich Vietnam wie Phoenix aus der Asche. Was dabei hilft: Die Vietnamesen sind kein nachtragendes Volk. Fast alle wollen einen Neubeginn mit den Feinden von damals. Und über die Hälfte der Bevölkerung ist so jung, dass sie den Vietnamkrieg nur aus Geschichtsbüchern kennt. Erst seit einigen Jahren für den breiten Tourismus zugänglich, boomt Vietnam inzwischen im doppelten Sinn – als neues asiatisches Wirtschaftswunder und als faszinierendes Reiseland mit einmaligen Kulturschätzen, aufregenden Landschaften, liebenswerten Menschen und einer einzigartigen Küche.
Diese Schulmädchen kennen den Vietnamkrieg nur aus dem Geschichtsbuch.
Essen ist hohe Lebenskunst
Essen ist in Vietnam wesentlich mehr als die reine Nahrungsaufnahme. »Es ist eine hohe Lebenskunst«, so der vietnamesische Ethnologe Tien Huu. Essen sichert zugleich Überleben und Fortpflanzung. Man isst, um zu leben und bleibt dabei auch in Verbindung mit den verstorbenen Ahnen, die in der Religiosität der Vietnamesen eine große Rolle spielen. So erklären sich auch die vielen Speisenopfer bei der Ahnenverehrung auf dem Hausaltar. Die Bedeutung des Essens liegt in der vietnamesischen Geschichte begründet, die über Jahrtausende von Kriegen, Dürre und Überschwemmungen bestimmt war. Not macht bekanntlich erfinderisch, und so lernten die Vietnamesen aus wenigen Zutaten in kurzer Zeit das Bestmögliche zu zaubern. Glück – so ein Sprichwort – heißt für einen vietnamesischen Bauern, sich satt essen zu können.
Nicht nur das Essen selbst, sondern auch die Art und Weise, wie gegessen wird, hat in Vietnam einen symbolischen Sinn. Im Gegensatz zu westlichen Küchen kommen bei einem vietnamesischen Mahl alle Speisen gleichzeitig auf den Tisch. Alle, die an der Mahlzeit teilnehmen, bedienen sich aus denselben Schüsseln, tunken ihr Essen in denselben Dip. So wird aus dem Essen ein Akt der Gemeinschaft und gegenseitigen Sympathie – nur wer sich mag, isst aus derselben Schüssel. Besondere Bedeutung kommt dabei auch den Essstäbchen zu: Wer mit ihnen isst, muss langsam essen, sich Zeit nehmen, seine ganze Aufmerksamkeit der Mahlzeit schenken.
Wer mit Stäbchen isst, zerschneidet das Essen nicht grob, sondern zupft vorsichtig Fleisch- oder Gemüsestücke vom gemeinsamen Teller und schiebt die besten Stücke dem anderen zu. In Vietnam sagt man: »Wer mit Schale und Essstäbchen umzugehen versteht, versteht auch mit Worten umzugehen«.
Reis, Kräuter und Fischsauce
Die drei Grundpfeiler der vietnamesischen Küche sind Reis, die Fischsauce nuoc mam und frische Kräuter. Reis ist wie in allen asiatischen Ländern Grundnahrungsmittel. In Vietnam aber wird er oft weiterverarbeitet zu dicken Reisnudeln oder Reispapier. Mit Reispapier wickelt man Fleisch- oder Gemüsehappen ein zu den für Vietnam so typischen Reispapierrollen. Die wiederum gibt es roh als Glücksrollen (goi cuon), gedämpft als Mandarinrollen (banh cuon) oder frittiert als die klassischen Frühlingsröllchen (cha gio oder nem). Diese Röllchen sind sehr beliebt, oft werden zwei oder drei Sorten als Vorspeisen gereicht. Frische Kräuter unterscheiden die Küche Vietnams von den anderen Küchen Südostasiens. In Vietnam wächst eine einzigartige Vielfalt an uns unbekannten Kräutern. Den Dritten im Bunde, die Fischsauce nuoc mam, verwendet man eigentlich immer – zum Kochen, als Marinade, Dressing oder Dip, ähnlich wie Sojasauce in anderen Küchen Asiens.
Fremde Einflüsse
Seine geographische Lage hat Vietnam zur Drehscheibe verschiedener Kulturen gemacht. Und die vietnamesische Küche ist ein Musterbeispiel für die Fähigkeit der Vietnamesen, fremde Einflüsse aufzunehmen, ohne dabei ihre eigene Identität zu verlieren – sondern im Gegenteil die eigene Kultur damit zu bereichern. Natürlich haben tausend Jahre Fremdherrschaft durch die Chinesen auf die Kochkunst der Vietnamesen eingewirkt, doch ein eigener Stil blieb erhalten.
Und auch die Grande Cuisine Frankreichs verfeinerte die traditionelle Küche Vietnams – damals, als einheimische Köche Gouverneuren und reichen Gourmets auftischen mussten. Die Franzosen brachten beispielsweise den Dill in das ohnehin schon kräuterreiche Land. Anbau und Verwendung europäischer Gemüsesorten wie Artischocken und Spargel ist ihnen ebenso zu verdanken, nicht zu vergessen Baguette und Kaffee.
Vietnamesisches Essen unterscheidet sich aber nicht nur durch französische Elemente von der Küche der Nachbarländer: Es ist weniger scharf, viel differenzierter gewürzt. Das lässt sich auch auf indische Einflüsse zurückführen – durch die Khmer, die noch vor den Vietnamesen das Mekong-Delta besiedelt hatten, und vor allem durch die Cham, die mehr als 1400 Jahre über Teile Mittel- und Südvietnams herrschten, bis sie von den Vietnamesen unterworfen wurden. Beim Besuch einer privaten Universität in Saigon machte uns der Direktor, ein Japanologe, darauf aufmerksam, dass schon im Namen »Indochina« für Vietnam und die Nachbarländer Laos und Kambodscha deutlich wird, welche Kulturen auf Vietnam und seine Küche eingewirkt haben.
Im Norden: nicht nur pho bo
So wie das Land aus drei Regionen besteht – Norden, Mitte, Süden –, gibt es auch drei kulinarische Traditionen. Im Norden ist der chinesische Einfluss am stärksten. Pfannengerührte und geschmorte Gerichte, Reisbrei und Suppen sind in dieser kühleren und trockeneren Gegend besonders beliebt. Da hier nicht so viele Gewürze und Kräuter wachsen, sind die Speisen auch nur mit wenigen Zutaten gewürzt. Im Winter versammelt man sich gern um ein auf dem Tisch stehendes Holzkohleöfchen, um beim berühmten Feuertopf lau Fleisch- und Gemüsestücke in einer Brühe zu garen. Das bekannteste nordvietnamesische Gericht ist aber sicher die berühmte pho bo, Nudelsuppe mit Rindfleisch, die sich mittlerweile zum Nationalgericht gemausert hat.
Die Frau hat gut lachen: Ihre Garküche ist gut besucht. Heute gibt es in Vietnam wieder genug zu essen für alle.
Im Zentrum: kaiserliche Raffinesse
In Zentralvietnam, eigentlich die ärmste Region Vietnams, erreichte die offizielle Küche in der Gegend um die Kaiserstadt Hue einen hohen Grad an Raffinesse. Die Kunst des Essens wurde als wesentlicher Bestandteil der feinen Lebensart angesehen. Besondere Aufmerksamkeit widmete man dem Garnieren und der Präsentation der Speisen, die den kaiserlichen Gaumen erfreuen sollten. Bekannt sind die in wilde Betelblätter gewickelten Rindfleischröllchen bo la lot oder auch banh beo, gedämpfter Reismehlpudding mit gehackten Shrimps.
Im Süden: exotische Vielfalt
Die Küche des Südens ist differenzierter als die des Nordens. Die Speisen werden mit vielen Gewürzen gleichzeitig aromatisiert, sind salziger, süßer oder saurer als Gerichte aus dem Norden und Zentralvietnam. Auf den fruchtbaren Böden gedeihen exotische Früchte und Gemüse in bester Qualität. Bekanntes Gericht ist banh xeo, ein Reismehlpfannkuchen mit Fleisch oder Krabben, zu dem – das ist auch bei anderen Speisen oft der Fall – rohe Sojabohnensprossen gereicht werden. Tatsächlich werden Südvietnamesen von ihren Landsleuten manchmal leicht abfällig gia genannt, Sojabohnensprossenesser.
Umgekehrt haben Nordvietnamesen den Spitznamen rau muong, Wasserspinatesser. Im Süden zieht man das schnelle Pfannenrühren und Sautieren dem Frittieren und langsamen Schmoren vor. Eine Ausnahme sind die im Tontopf geschmorten Fleisch- oder Fischgerichte in Karamellsauce, eine Spezialität aus dem Mekong-Delta. Dort, wo große Kokospalmenplantagen das Bild prägen, spielen natürlich auch Kokosnüsse eine tragende Rolle in der Küche. Man verwendet ihr Wasser, ihre Milch und Kokosspäne zum Kochen. Es gibt sogar kräftig gewürzte Curries wie in Thailand oder Kambodscha. Der französische Einfluss zeigt sich am deutlichsten in der Verwendung von Spargel, Kartoffeln und Tomaten, die aber auf vietnamesische Art zubereitet werden. Aus dem Süden kommt außerdem der typisch vietnamesische Brauch, bei Tisch Stückchen von gebratenen oder gegrillten Speisen mit rohem Gemüse und Kräutern in ein Salatblatt oder Reispapier zu wickeln....