3. Die Expansion der Wikinger in Europa
«In demselben Jahre brachen an vielen Orten die Heiden über die Christen herein, aber es wurden mehr als 12000 von ihnen durch die Friesen erschlagen. Ein anderer Teil von ihnen suchte Gallien heim, und dort fielen von ihnen mehr als 600 Mann. Trotzdem zahlte Karl ihnen wegen seiner Untätigkeit viele Tausende Pfund an Gold und Silber, damit sie aus Gallien fortgingen, was sie dann auch taten. Dennoch wurden die Klöster sehr vieler Heiligen zerstört, und viele Christen führten sie gefangen fort.» (Xantener Annalen zum Jahr 845)
«Versenke die heidnischen Piraten, die die Reiche der Erde verwüsten, vom Schwerte vernichtet in den Tiefen des Meeres!»
(Johannes Scotus Eriugena: Laudes Yrmindrudis, zwischen 869 und 877)
Um die Fahrten der Skandinavier in die Neue Welt aber verstehen und würdigen zu können, ist es notwendig, sie in den Kontext der Expansion der frühmittelalterlichen Skandinavier überhaupt zu stellen, also nach den Ursprüngen und dem Verlauf der Wikingerzeit zu fragen. Welche Umstände führten dazu, dass die Bewohner des an der Peripherie Europas gelegenen, dünn besiedelten Skandinavien nicht nur ganz Westeuropa in Angst und Schrecken versetzten, sondern auch Entdeckungsreisen unternahmen, die die Grenzen der bekannten Welt nachhaltig verschieben sollten?
Um diesen doch etwas erstaunlichen Umstand zu verstehen, ist es notwendig, die Expansionsbewegungen der Skandinavier in Europa kurz nachzuzeichnen, bevor man ihre – zeitlich etwas versetzt einsetzende – meist friedlich verlaufende Eroberung des Nordatlantiks betrachtet, als deren letzte Etappe das Ausgreifen auf den amerikanischen Kontinent hin zu verstehen ist. Diese nordatlantische Phase der Wikingerzeit war zwar keineswegs unabhängig von den Eroberungen und Siedlungen skandinavischer Auswanderer in England, Schottland und Irland, aber sie verweist doch auf eine andere Seite der wikingischen Expansion, nämlich den offenbar weit verbreiteten Wunsch nach einem friedlichen, bäuerlichen Leben auch dort, wo dies nur unter schwierigsten Bedingungen verwirklicht werden konnte – doch dies war man aus den heimischen Gefilden gewohnt.
Als Beginn der Wikingerzeit gilt nach Schulbuchwissen das Jahr 793, als die Wikinger – angeblich völlig überraschend – das reiche Inselkloster Lindisfarne auf Holy Island vor der englischen Nordostküste überfielen und plünderten, wie eine Fassung der Angelsächsischen Chronik dem Leser damals wie heute drastisch vor Augen führt:
«793: In diesem Jahr erschienen schlimme Vorzeichen über Northumbria und versetzten die Menschen in Schrecken. Sie bestanden aus starken Wirbelwinden und Blitzen, und feuerspeiende Drachen sah man durch die Luft fliegen. Diesen Vorzeichen folgte eine große Hungersnot und ein wenig später im selben Jahr, am 8. Juni, verheerten die Überfälle der Heiden Gottes Kirche in Lindisfarne durch Plünderung und Mord.
794: In diesem Jahr [eig. 795] starben Papst Adrian und König Offa.» (Anglo-Saxon Chronicle, Handschrift D, als Worcester Chronicle bekannt, fertiggestellt 1130)[4]
Hier werden die Wikinger als Teil feindlicher Naturgewalten vorgeführt, vor allem um des abschreckenden Effekts willen, hatten es doch heidnische Seeräuber offenbar erstmals gewagt, ein ungeschütztes Kloster, ja eine nationale Pilgerstätte der Engländer völlig respektlos und ohne Furcht vor göttlicher Rache zu plündern und zu zerstören, Gottesmänner zu töten und liturgisches Gerät zu entweihen!
Ganz so plötzlich, wie die Chronisten der englischen Klöster es darstellen, war die Gefahr aus dem Norden allerdings nicht über England gekommen, auch wenn der Übergriff auf ein Haus Gottes sie wirklich schockiert haben mag. Schon in den Jahren zuvor hatten englische Quellen wiederholt von einzelnen Überfällen oder Scharmützeln berichtet, mit denen offenbar eine Zeit friedlicher Handelsbeziehungen zwischen Skandinavien und dem Rest Europas zu Ende ging.
Der Begriff Wikinger bedeutete im Altnordischen, der Sprache Westskandinaviens im Mittelalter, durchweg «Seeräuber, Pirat», auch wenn die Wortwurzel vik «Bucht» ursprünglich darauf verweist, dass es sich hier um die Männer aus den Buchten oder dem buchtenreichen Land handelte, also wohl um Seeräuber aus den Fjorden Norwegens. Die Zeit dieser Wikinger, mit der die Skandinavier mit einem Schlag in ganz Europa berüchtigt wurden, löste eine Periode weitgehend friedlicher Beziehungen ab – das hieß aber nicht, dass neben den zahllosen Wikingerüberfällen an den Küsten und entlang der Flüsse nicht auch weiter gehandelt wurde. Allerdings wissen wir nicht, ob es sich bei den Händlern und den Piraten um unterschiedliche Bevölkerungsgruppen handelte, die sich kaum gegenseitig hold waren, oder ob es nicht auch «Nebenerwerbsräuber» gab, die sowohl handelten als auch plünderten. Mittelalterliche Quellen erzählen jedenfalls, dass es noch in der späten Wikingerzeit gestandene Großbauern gab, die im Sommer ihre Einkünfte aus der Landwirtschaft durch Plünderfahrten nach Irland oder die schottischen Inseln aufbesserten.
Es scheint jedenfalls so, dass die ersten nachweisbaren Wikingerfahrten nach England führten und bald auch nach Irland, und man kann annehmen, dass die Skandinavier auf den Britischen Inseln die ihnen gewohnte Methode der küstennahen Navigation praktizierten: Am Tage segelte man möglichst in Landsicht die Küsten entlang, abends wurde am Ufer angelegt oder geankert und an Land gekocht, da Feuerstellen auf Schiffen eine massive Gefahrenquelle darstellen. Die Überquerung des Englischen Kanals außer Landsicht war vermutlich kein großes Problem, da die Strecke bei günstigem Fahrtwind leicht in zwei Tagen und einer Nacht zu bewältigen ist, denn der Kanal ist auf der Höhe der Rheinmündung und von Ipswich keine 120 Seemeilen breit. Zudem wusste man in Skandinavien auf Grund der jahrhundertelangen Handelsbeziehungen, wie man nach Friesland, an den Rhein, nach Northumbria, nach Irland und selbst bis in die Themsemündung kam.
Es hing wohl in erster Linie mit den innenpolitischen Zuständen in England und dann auch im Frankenreich zusammen, dass die skandinavischen Seefahrer merkten, wie leicht in diesen Landen Beute zu machen war, woraufhin sie ihre räuberischen Aktivitäten mehr und mehr auf besser organisierte, weiter ausgreifende und häufig von ganzen Flotten durchgeführte Plünderfahrten ausdehnten. Ursprünglich waren es aber sicher keine politisch motivierten oder gar durch Herrscher innerhalb Skandinaviens initiierte Fahrten, mit denen die Wikingerzeit begann; es waren wohl eher Raubzüge von Räuberbanden, die sich aus jüngeren, von der Erbfolge ausgeschlossenen Bauernsöhnen zusammengesetzt haben dürften, die nichts zu verlieren, durch Beute an den Küsten anderer Länder aber viel zu gewinnen hatten an Reichtum und Ruhm. Erst mit der Zeit dürften sich derartige Banden zu größeren Verbänden zusammengeschlossen haben, deren Räuberhauptmänner sich dann stolz als Seekönige bezeichneten. Nur äußerst wenig deutet in unseren Quellen darauf hin, dass diese Piratenkapitäne im Auftrag skandinavischer Fürsten oder Kleinkönige handelten, auch wenn die Vermutung naheliegt, dass die stetig fortschreitende Ausdehnung des Frankenreichs unter Karl dem Großen dänische Herrscher zu Gegenschlägen oder einem Guerillakrieg zur See bewogen haben könnte.
Erst später, und ironischerweise im Dienst fränkischer Herrscher, wurden die Piraten dann zu Söldnern, die bezahlt wurden, um andere Wikinger abzuwehren.
Jedenfalls war es wohl die nach dem Tode Karls des Großen im Jahr 814 weitgehend zusammengebrochene Küstenverteidigung des Frankenreiches, welche von den Wikingern geradezu als Einladung zu Plünderungsfahrten entlang der großen Flüsse ins Innenland Westeuropas verstanden wurde. Da man auf Grund der alten Kontakte wusste, wo reiche Städte und Abteien zu finden waren, hielt sich der Planungsaufwand für diese sommerlichen Raubzüge in Grenzen, wodurch die Popularität solcher Fahrten in Skandinavien offenbar deutlich anstieg: Schon für die Jahre nach 840 hören wir von fast jährlichen Überfällen auf die Städte entlang des Rheins, der friesische Handelsplatz Dorestad in der damaligen...