2. Die Völkische Bewegung und ihre Ideologie
Bevor auf die verschiedenen Formen des religiösen Denkens innerhalb der Völkischen Bewegung eingegangen werden wird, sollen an dieser Stelle die Umrisse und die Entwicklung der Völkischen Bewegung in den Jahren von der Reichsgründung 1871 bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit 1919 skizziert werden. Dabei möchte ich zuerst auf die geistesgeschichtlichen Grundlagen und die wichtigsten Vertreter eingehen, anschließend auf die wichtigsten Organisationen und Organisatoren der Völkischen Bewegung bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit 1919. Die Darstellung der Völkischen Bewegung in dieser Arbeit erfolgt mit dem Ziel, einen Rahmen für die anschließende Darstellung der völkischen Religiosität zu schaffen und kann und will daher nicht alle Facetten der Bewegung abdecken. Daher sei an dieser Stelle auf das von Puschner/Schmitz/Ulbricht 1996 herausgegebene Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 – 1918 verwiesen, das die wahrscheinlich umfassendste Darstellung leistet.
Der Begriff „völkisch“ kam zuerst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der deutschnationalen Bewegung Österreichs in Umlauf.[3] Die politische Situation Österreich-Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war geprägt durch den Ausschluss aus dem Deutschen Bund 1866 und die Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 unter preußischer Führung und ohne Beteiligung der Donaumonarchie. Aufgrund der allmählichen Demokratisierung des Staates und der damit einhergehenden Emanzipation der verschiedenen Nationalitäten fürchteten zahlreiche Deutsch-Österreicher um den Primat der deutschen Kultur und Sprache in Österreich. Vor diesem Hintergrund ist auch das Entstehen eines deutschen, völkisch-kulturellen Nationalismus und der alldeutschen Bewegung in Österreich, die sich den Anschluss der deutsch dominierten Gebiete Österreichs an das Deutsche Reich zum Ziel nahm, zu betrachten.[4] Insbesondere die österreichischen Alldeutschen um Georg Ritter von Schönerer und dessen anti-katholische „Los-von-Rom“-Bewegung bildeten den geistesgeschichtlichen Hintergrund für die im weiteren Verlauf der Arbeit darzustellenden Wiener Ariosophen um Guido List und Jörg Lanz von Liebenfels.[5]
Im reichsdeutschen Kontext erschien der Begriff „völkisch“ erst um die Jahrhundertwende, zuerst in Zusammenhang mit dem Alldeutschen Verband, auf der politischen Bildfläche.[6] Die Wurzeln der Völkischen Bewegung reichen jedoch wesentlich weiter zurück und sind insbesondere in vier miteinander verknüpften geistesgeschichtlichen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts zu suchen: Völkischem Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus und Rassenantisemitismus. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begannen diese Tendenzen mehr und mehr miteinander zu verschmelzen, doch erst um die Jahrhundertwende hatte sich das Denken der Völkischen Bewegung in Deutschland zu einer immer noch heterogenen, doch in ihren grundlegenden Zügen weitestgehend einheitlichen völkischen Weltanschauung verfestigt.[7]
Obwohl sich, wie dargestellt, das Adjektiv „völkisch“ im reichsdeutschen Kontext erst nach der Jahrhundertwende durchsetzte, wird es im Rahmen dieser Arbeit, so wie in der Literatur üblich, auch zur Bezeichnung von historisch früheren Formen eines volkszentrierten, nationalistischen Denkens verwendet.[8]
2.1. Völkischer Nationalismus
Berding führt die Tradition des völkischen Nationalismus auf Ideen Gottfried Herders zum „Volk“ zurück, der unter dem Begriff des Volkes eine durch gemeinsame Sprache, Kultur und Tradition abgegrenzte ethnische Gruppe verstand.[9] Die uneindeutige Bedeutung des Begriffes „Volk“, die es ermöglichte, die Begriffe „Volk“, „Nation“ und „Rasse“ mehrdeutig und synonym zu verwenden, besaß daher auch Berührungspunkte mit den entstehenden Rassentheorien. Bis zur Jahrhundertwende waren Volkstums- und Rassenideologie in der völkischen Ideologie miteinander verschmolzen.[10]
Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Idee des „Volkes“ vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege von politischen Romantikern und der deutschen Nationalbewegung aufgegriffen und politisiert – eine Schlüsselrolle kam hierbei frühen deutschen Nationalisten wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und nicht zuletzt dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn zu.[11] Die vermeintliche Wiederentdeckung einer großen gemeinsamen deutschen Vergangenheit trug zur Welle des deutschnationalen Patriotismus bei, die das zuvor aus zahlreiche Klein- und Kleinststaaten bestehende Deutschland, vor allem nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg und der daran anschließenden Gründung des Kaiserreiches 1870/71, erfasste und durch den wirtschaftlichen Aufschwung der sogenannten Gründerjahre noch weiter verstärkt wurde.[12]
Der daraus entstehende völkische Nationalismus verklärte das Volk zu einer idyllischen und mythologischen Einheit und propagierte gleichzeitig den Überlegenheitsanspruch des deutschen Volkes über alle anderen Nationen. Mit der Mythologisierung und Überhöhung des deutschen Volkes ging auch die Vorstellung einher, die Deutschen ständen in der unmittelbaren Nachkommenschaft der Germanen, die zu einem historischen Idealbild konstruiert wurden.[13] Die Konnotation des Begriffs „Volk“ ging im völkischen Nationalismus weit über seine eigentliche Bedeutung hinaus, da allen Mitgliedern des Volkes nun eine eigene „metaphysische Wesenheit“ zugesprochen wurde, die die innerste Natur jedes dieser Menschen prägte. [14] Nicht zu Unrecht sieht Mosse den völkischen Nationalismus als eine „direkte Folgeerscheinung der Romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts“ an, die den Irrationalismus und Emotionalismus der völkischen Ideologie vorbereitet habe.[15]
2.2. Vordenker der Völkischen Bewegung
Im Laufe des 19. Jahrhunderts trugen zahlreiche Gelehrte, Autoren und Publizisten zur Entstehung einer völkischen Ideologie bei, die sich zum Ende des Jahrhunderts hin soweit verbreitet hatte, dass sie sich in der Gründung zahlreicher völkischer Verbände, Vereine und Parteien niederschlug. An dieser Stelle seien insbesondere vier der bedeutendsten Vordenker der Völkischen Bewegung kursorisch dargestellt: Der französische Adelige Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882), der die erste umfassende, wissenschaftlich auftretende Rassentheorie formulierte;[16] der Gelehrte Paul Anton de Lagarde (1827 – 1891), dessen Deutsche Schriften (1878) in ihrer irrationalistischen Überhöhung der deutschen Nation entscheidenden Einfluss auf die nationalistischen und völkischen Diskurse des Kaiserreichs zu nehmen vermochten und dessen Entwurf einer spezifisch deutschen Religion bei der Betrachtung der völkischen Religion von zentraler Bedeutung ist;[17] der Journalist Wilhelm Marr (1819 – 1904), „Erfinder“ des modernen Antisemitismus[18] und schließlich Houston Steward Chamberlain (1855 – 1927), dessen Hauptwerk Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1900) in seinem Rassismus Wissenschaftlichkeit und Mystizismus in einer Weise verband, die für die Völkische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts kennzeichnend wurde.[19]
Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882) und die Entstehung der Rassentheorie
Joseph Arthur Comte de Gobineau, ein konservativ-royalistischer französischer Graf, veröffentlichte seine Rassentheorie in den Jahren 1853 bis 1855 als vierbändigen Essai sur L’Inégalité des Races Humaines.[20] Die meisten in diesem Werk vertretenen rassistischen Thesen waren bereits zuvor von anderen Autoren publiziert worden. Gobineau fasste die verschiedenen Thesen jedoch zu einer umfassenden, universalhistorischen Rassentheorie zusammen. Zentrales Element der Rassentheorie Gobineaus war der Versuch einer ursächlichen Erklärung des Kulturzerfalls: Dieser alle Kulturen betreffende Zerfall werde, so Gobineau, durch den Verlust ethnisch wertvoller Substanz durch Rassenmischung verursacht[21] – ein Ansatz der sich für nahezu alle späteren Rassentheorien ebenfalls nachweisen lässt. Gobineau postulierte ein einfaches hierarchisches System der Menschenrassen: Die menschliche Gattung teile sich in drei Grundrassen...