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E-Book

Vollkommen unvollkommen

Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen

AutorMarie Mannschatz
VerlagO.W. Barth eBook
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783426442524
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Wie können wir ein sinnerfülltes und bedeutungsvolles Leben führen? Die Bestseller-Autorin und bekannte Meditations-Lehrerin Marie Mannschatz beschreibt in ihrem erzählenden Sachbuch buddhistische Lebenskunst für den Alltag. Anhand vieler Beispiele aus ihrem Leben zeigt sie, wie es gerade in Stress und Hektik gelingen kann, immer wieder das Bestmögliche zu tun - und dadurch zufrieden und erfüllt zu leben. Grundlage dafür sind die zehn buddhistischen Vollkommenheiten, u.a. Geduld, Freigebigkeit, liebevolle Güte, Mitgefühl und Gleichmut. Ehrlich, authentisch und mit einer erfrischenden Prise Selbstironie beschreibt die erfahrene Meditations-Lehrerin, wie sie persönlich mit diesen ethischen Tugenden ihren Alltag bestreitet. Dazu gehören auch das Scheitern, das Nicht-Erreichen des Ideals und vor allem Humor und liebevolle Selbstakzeptanz. Zur besseren Nachvollziehbarkeit buddhistischer Lebensweisheit erzählt sie viele Fallgeschichten ihrer Schülerinnen und Schüler und bietet immer wieder die Möglichkeit zum achtsamen Innehalten und zur Selbstreflexion. Mit Achtsamkeit und dieser klaren ethischen Ausrichtung gelingt eine ehrliche Selbsteinschätzung: Sobald wir beginnen, wirklich achtsam und authentisch zu leben, sehen wir immer klarer, dass alles Vollkommenheit in sich trägt.

Marie Mannschatz ist eine international bekannte Meditationslehrerin. Nachdem sie zwanzig Jahre in freier Praxis als Gestalt- und Körpertherapeutin gearbeitet hat, wurde sie in den Neunzigerjahren von Jack Kornfield in Kalifornien am Spirit Rock Meditation Center zur Vipassana-Lehrerin ausgebildet. Dort unterrichtete sie zusammen mit ihrem Lehrer in den folgenden zehn Jahren viele 4- bis 8-wöchige Schweigekurse. Jetzt lebt und schreibt sie in einem Wohnprojekt am nord-östlichen Stadtrand von Hamburg und reist im deutschsprachigen Raum. Ihre Kurse stellen eine Verbindung von Alltag und Meditationspraxis sowie eine mitfühlende, wohlwollende Geisteshaltung in den Mittelpunkt. Ihre Bestseller zur Einführung in buddhistische Alltagspraxis und Meditation wurden in sieben Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

Großzügigkeit


Die zehn Vollkommenheiten (Paramita) sind kreisförmig angeordnet. Sie beginnen und enden mit Großzügigkeit, die ihren höchsten Ausdruck darin findet, dass zwischen Geber und Empfänger kein Unterschied gesehen wird. Großzügiges Geben ist ein Ausdruck der Fähigkeit, loslassen zu können. Großzügigkeit (Dana) umfasst auch die Bereitschaft, fürsorglich die Hand auszustrecken und dem anderen entgegenzukommen, wenn es um Meinungen und Ansichten, um vermeintliches Recht und Unrecht geht. Die Kunst des Gebens zeigt sich in Mitgefühl und Dankbarkeit, in der Bereitschaft, zu verzeihen und zu dienen, in Pflege und Fürsorge. Immer wieder wird durch die Freude des Gebens die Verbindung zum Besten in uns und anderen hergestellt.

 

Es gibt Zeiten im Leben, in denen alles wie am Schnürchen läuft. Die Kontoeingänge sind höher als die Abbuchungen. Die Sonne verschwindet nur hinter den Wolken, wenn wir schlafen. Völlig Unbekannte behandeln uns wie ihre liebsten Familienmitglieder. Hunde wedeln im Vorübergehen mit dem Schwanz, wenn sie uns sehen, und die Blüten am Wegesrand neigen grüßend ihre Köpfe. Die besten Gelegenheiten fallen uns in den Schoß – wir müssen sie nur noch ergreifen.

Es sind Zeiten der Gnade, der grenzenlosen Großzügigkeit, die es in jedem Leben gibt. Sie erfreuen uns manchmal einen Tag lang oder erhellen auch eine ganze Lebensphase. Solche wunderbaren Zeiten werden uns geschenkt. Wir können kein Recht darauf erheben, aber wir können unsere Empfangsbereitschaft sensibilisieren, indem wir der Großzügigkeit mehr Aufmerksamkeit widmen und nach Gelegenheiten zum Geben Ausschau halten. In einer Studie der University of British Columbia in Vancouver erhielten Studenten morgens einen Betrag von fünf oder 20 Dollar. Eine Gruppe sollte das Geld für sich selbst ausgeben, die andere Gruppe konnte anderen ein Geschenk dafür kaufen oder das Geld spenden. Eindeutig zeigte sich, dass diejenigen, die das Geld für andere ausgegeben hatten, am Ende des Tages zufriedener und glücklicher waren als jene, die für sich selbst etwas gekauft hatten, ganz unabhängig von der Höhe des eingesetzten Betrags.

 

Großzügigkeit hat eine zutiefst entspannende Wirkung. So wie die Sonnenwärme Eis zum Schmelzen bringt, so löst der Impuls zum Geben unser inneres Festhalten. Großzügigkeit stimmt uns zufrieden und heilt die Furcht vor dem Loslassen. Ohne Loslassen können wir nicht glücklich werden. Daher spielt die Kunst des Loslassens eine zentrale Rolle im Leben und auch in den zehn Vollkommenheiten. Wir werden sie aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachten und immer besser verstehen, was mit dem Loslassen gemeint ist. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass Großzügigkeit und Loslassen siamesische Zwillinge sind, die nicht voneinander getrennt werden können.

Kein Wunder, dass der Buddha in vielen Lehrreden die Großzügigkeit als tragende Säule auf dem Weg zur inneren Befreiung gepriesen hat. Im Geben fühlen wir uns stark. Wir entspannen uns und können das Loslassen dadurch auch körperlich erfahren, ganz spontan, ohne großes Nachdenken, ohne eine Belohnung zu erwarten. Kaum geben wir etwas hin, fließt uns schon etwas zu, das wir weder berechnen noch voraussagen können. Die Kraft des Gebens hat etwas Magisches, Geheimnisvolles. Manche Menschen versuchen ein Leben lang, dieses Geheimnis zu ergründen. Und je näher sie ihm kommen, umso herausragender wird ihre Großzügigkeit.

 

Als junge Meditationslehrerin habe ich einmal im Spirit-Rock-Meditationszentrum erlebt, wie die Teilnehmerin eines vierwöchigen Schweigekurses – sie hatte schon jahrzehntelange Meditationserfahrung – die Kunst des Loslassens übte. Am Anfang des Kurses kam sie auf mich zu und sagte: »Wenn du magst, kannst du in den kommenden Wochen mein Auto fahren. Es steht jetzt ja nur auf dem Parkplatz herum, weil ich beim Meditieren den Wagen nicht benutze.«

Erfreut nahm ich die Autoschlüssel an.

Zum Glück fügte sie noch hinzu: »Das Auto ist gerade erst eine Woche alt und gut versichert. Ich bin Rechtsanwältin. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, genieße es einfach!«

Ich ging gleich zum Parkplatz und staunte nicht schlecht, als sich das neue Auto als ein goldener Lexus mit weißen Ledersitzen entpuppte. Die Anwältin hatte sich einen Traum erfüllt und teilte ihn nun mit mir. Das war für mich kaum fassbar, und es dauerte eine Weile, bis ich diese Luxuskarosse entspannt über die sechsspurige kalifornische Autobahn steuern konnte.

 

Großzügigkeit zeigt sich in unendlich vielen Variationen. Jemand hält mir die Tür auf, lässt mich zuerst eintreten. Ich bedanke mich mit einem Lächeln. Für den Bruchteil einer Sekunde ist in unseren Herzen ein Licht aufgegangen. Höflichkeit im Alltag empfinden wir oft als großzügig. Beim Autofahren gibt es viele Gelegenheiten, das eigene Repertoire zu erweitern. Geduldig warten, auch wenn man selbst die Vorfahrt hat, oder jemandem einen Parkplatz freiwillig überlassen – schon fühlt man sich selbst als Held des Tages. Auf unübersichtlichen oder kurvenreichen Strecken habe ich mir angewöhnt, in eine Haltebucht zu fahren und nachfolgende schnellere Wagen vorbeizulassen. Wenn ich das in Kalifornien mache, bedanken sich manche Autofahrer mit einem kurzen Antippen der Bremsleuchten. In Schweden blinken sie kurz nacheinander rechts/links, und in Deutschland winken charmante Zeitgenossen gern mit der Hand ein Dankeschön.

 

Eine bemerkenswerte Form von Großzügigkeit habe ich einmal in den Siebzigerjahren erfahren, als ich aus Versehen bei der Abreise aus Berlin den großen Schlüsselbund eines guten Freundes in der Handtasche behielt – ein Desaster am Sonntagnachmittag. Ich saß bereits im Zug, als ich es entdeckte. Nirgends gab es einen Zwischenhalt, bei dem ich aussteigen und umkehren konnte. Drei Stunden steckte ich im Zug fest, dachte fieberhaft nach und malte mir aus, wie wütend und verzweifelt mein Freund wäre, denn am nächsten Morgen war er als Verantwortlicher für eine große Baustelle dringend auf diese Schlüssel angewiesen. Handys gab es damals noch nicht und somit auch keine Möglichkeit, sich zu beraten.

Schließlich hatte ich die rettende Idee. Bei der Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof lief ich sogleich zum nächsten Zug Richtung Berlin. Dort klopfte ich heftig bei dem abfahrbereiten Lokführer an die Windschutzscheibe, schilderte ihm mein Missgeschick und bat ihn, den Schlüsselbund mitzunehmen: »Mein Freund steht dann bei der Ankunft am Bahnhof Zoo und nimmt Ihnen die Schlüssel wieder ab.«

Der gute Mann ließ sich von mir überzeugen. Am Sonntagabend, sieben Stunden nach der Entführung, war der Schlüsselbund wieder in Berlin, und die Bauarbeiten für das Café-Restaurant konnten zum Wochenbeginn ungehindert fortgesetzt werden.

 

Schon mein erster Kontakt mit den Lehren des Buddha in jungen Jahren inspirierte mich, bewusst Großzügigkeit zu üben. Ich wollte diese Chance zu intensiver Praxis bei jeder Gelegenheit nutzen. Als Heranwachsende und junge Erwachsene war ich eher knauserig und aufrechnend. Wenn wir in den Semesterferien zu viert im Urlaub waren, rechnete ich genau nach, wer zu welchem Preis Lebensmittel eingekauft hatte oder im Lokal welches Gericht und welches Getränk bezahlen musste. Ich fragte mich fortwährend: Wenn ich etwas gebe, bekomme ich dann auch etwas dafür? Wird man mir dankbar sein, mich schätzen für meine Großzügigkeit? Und vor lauter Nachdenken darüber versäumte ich die Gelegenheit zum Geben.

Heute vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht ermuntere, großzügig zu denken und zu handeln. Ich sage mir, alles ist vergänglich. Ich kann ohnehin nichts mit ins Grab nehmen, also übe ich mich lieber schon jetzt im Loslassen. Wenn ich nicht gebefreudig bin, fühle ich mich unwohl in meiner Haut, eingeklemmt in meinen berechnenden Gedanken, meinem sturen Wenn und Aber. Die Freude am Geben zu üben und zu erleben, wie ich allmählich daran wachse, berührt mich besonders, wenn ich spontanen Impulsen folgen kann.

 

Eine seltsame Erinnerung an eine kleine Aufmerksamkeit kommt mir da in den Sinn. Ich stand im ICE, mit meinem Koffer bereit zum Aussteigen, während der Zug sich gemächlich zum Hamburger Hauptbahnhof einfädelte. Aus dem Bordbistro trat ein Schrank von einem Mann, stärker schwankend als der Waggon. Er lehnte sich wartend an die Abteilwand neben dem verschlossenen WC. Lederkluft, geschorener Kopf, am Schädelrand ein Kranz langer schwarzer Haare, zu einem kargen Zopf gebunden, am ganzen Körper Tätowierungen, eine in die Wange geritzte dicke rote Narbe in X-Form. In seinen braun gebrannten Bizeps hatte er tatsächlich mit Nadel und schwarzem Faden das Schlagwort »Xtreme« eingestickt. Gut gelaunt sprach ich ihn an: »Ich glaube, diese Toilette ist kaputt, die nächste ist dort am Ende des Waggons, die auf der anderen Seite funktioniert auch nicht.«

Er murmelte ein höchst verdutztes »Danke schön! Das ist ja nett!«, ging ein paar Schritte rückwärts, ließ mich währenddessen nicht aus den Augen. Auf dem ganzen Weg durch den Wagen blickte er sich immer wieder nach mir um, als hätte ich ihn mit einem seltenen Geschenk beglückt.

Durch die Großzügigkeitsübung habe ich gelernt, dass es unendlich vielschichtige Formen des Gebens gibt. Es geht dabei zwar nicht in erster Linie um Materielles, aber auch das kommt vor, wie in der folgenden Anekdote:

 

Alfred Nobel, der Stifter des Nobelpreises, beschäftigte in seiner Pariser Wohnung eine junge Köchin, die ihm eines Tages ankündigte, dass sie heiraten werde. Auf die Frage, was sie sich denn zur Hochzeit wünschte, antwortete sie: »So viel, wie...

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