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Vom Forscher, der auszog, das Zaubern zu lernen

Meine Erlebnisse bei den Erben der Maya

AutorChristian Rätsch
VerlagFranckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783440134535
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Überliefertes Heilpflanzenwissen und magische Zaubersprüche: Vom ersten Momenta an ist Christian Rätsch fasziniert von den Lakandonen, einem indianischen Volk in Mexiko. Er nimmt teil an ihren uralten, überlieferten Zeremonien und entdeckt darin einen kostbaren Schlüssel zu tiefer Zufriedenheit. In seiner Autobiografie schildert der international bekannte Ethnobotaniker und Philosoph erstmals seinen Werdegang vom Wissenschaftler zum spirituell inspirierten Heilkundigen.

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Leseprobe

„Ich werde Dschungelforscher!“


Vom Zaubern handeln nicht nur die Märchen, die man einst den Kindern erzählte, sondern auch die Wissenschaften.“

Christoph DAXELMÜLLER2

Die norddeutsche Ostsee hat mich sehr geprägt. Schon vor meiner Geburt waren meine Eltern begeisterte Camper und schlugen jedes Jahr dort ihr Zelt auf einem FKK-Platz auf. Ich wurde mit natürlicher Nacktheit aufgezogen. Schon meine Großeltern mütterlicherseits gehörten zu der aufkommenden Nudistenbewegung im Deutschen Reich. An der Ostsee sind wir fast jeden Morgen früh aufgestanden, an den Strand gegangen, haben nackt die Sonne gegrüßt und kurz gebadet. Nackt war für mich normal. Nackt war Natur pur.

Seit frühesten Kindertagen haben mich Steine fasziniert. So saß ich ständig im Spülsaum und spielte mit ihnen. Ich schaute sie mir genau an und entdeckte eine unglaubliche Vielfalt in ihnen. Besonders fasziniert war ich von geschossförmigen, hellbraun kristallisierten, kreisrunden Steinen. Sie sollten mich zu einem wichtigen Urerlebnis führen.

Von meinen Eltern lernte ich, dass spezielle Steine von unserem Donnergott Thor mit dessen Hammer durch die Wolken getrieben worden waren, um es regnen zu lassen. Sie heißen Donnerkeile, weil sie den Donner erzeugen und dann mit dem Blitz in die Erde fahren. Wenn ich einen Donnerkeil gefunden hatte, war ich davon überzeugt, einen Stein des mächtigen Gottes in Händen zu halten.3

Eines Tages wurde im Kurmittelhaus von Grömitz eine Ausstellung mit Funden aus dem Grömitzer Geschiebe gezeigt. Ich war gerade neun Jahre alt und interessierte mich gleichermaßen für Dinosaurier, Neandertaler, Hexen, Zauberer und die Götter meiner Ahnen. Ich schob mich zwischen den Kurgästen an den Vitrinen vorbei – bis mich der Blitz traf. Ich blickte in ein seltsames Gesicht, eine magische Maske aus Flintstein. Ich glaubte, Thor persönlich zu sehen. Da lag ein versteinerter Seeigel4 hinter dem Schaufensterglas, der ein Gesicht hatte. In dem kleinen Begleitkatalog zur Ausstellung las ich eilends nach. Da stand: „Wenn nicht alles täuscht, stellt jener seltsam und eigenwillig retuschierte Seeigel den frühen Versuch des prähistorischen Menschen dar, aus einem Petrefakt ein Artefakt, aus einem versteinerten Seeigel eine Dämonenmaske, einen Fetisch, ein Amulett zu schaffen: Man sieht, wie mittels weniger Schliffe gleichsam Augen, Nase, Mund und eine gefurchte, seltsam hohe Stirn entstanden sind. – Oder sollte das Ganze nur ein Naturspiel sein?“5 In den folgenden Wochen hockte ich nur noch zwischen den Steinen am Strand. Ich wollte unbedingt so eine Seeigelmaske finden. Ich war wie besessen, besessen vom natürlichen Pentagramm im Stein.

In der Grömitzer Ausstellung über die Geschiebefossilien überraschte mich auch die Erklärung, woher diese Donnerkeile stammen. Donnerkeile, oder wissenschaftlich Belemniten6, sind die versteinerten (calcitisierten) Spitzen der kalkigen Innengerüste (Rostren) vorzeitlicher, Kalmaren ähnlicher Tintenfische, die auf hoher See schwammen und vor 65 Millionen Jahren, also am Ende der Kreidezeit, zusammen mit den Ammoniten und Dinosauriern ausgestorben sind. Diese Geschichte über die Donnerkeile fand ich genauso spannend wie das mythische Bild meiner Eltern. Aber ist es nicht eigentlich egal, ob man die Herkunft der mit Händen greifbaren Donnerkeile mit einem mythologischen Modell oder mit einer wissenschaftlichen Theorie zu erklären versucht?

Am Ostseestrand begann mein Weg zum Dschungelforscher. Eines Tages, ich war gerade dreieinhalb, baute ich mich vor meiner Mutter auf, drehte mit der linken Hand energisch den Daumen der rechten, und sprach erstaunlicherweise zu ihr: „Mami, ich werde Dschungelforscher!“ – Wohl verblüfft schrieb meine Mutter diese Aussage auf, und daher weiß ich auch so genau davon. Ich weiß allerdings nicht, wie ich damals darauf gekommen bin. Vermutlich bin ich als Knirps einfach einer folgenschweren Intuition gefolgt.

Ich war anders als die anderen Kinder, die Lokführer, Baggerfahrer, Kranführer und Ähnliches werden wollten; ich wollte Forscher sein. Mit fünf konnte ich lesen und schreiben. Ich interessierte mich jedoch nicht für Comics, Märchenbücher oder gar die Bücher von Karl May. Mein Lieblingsbuch war „Die illustrierte Enzyklopädie der Welt“. Besonders angetan war ich von den Seiten, auf denen die griechischen und andere Heidengötter dargestellt waren. Ja, zu den alten Göttern hatte ich eine sehr frühe Beziehung. Sie wurde mir vor allem durch meinen Vater vermittelt.

Mein Vater Paul, den wir alle Päule nennen, war ein großer Geschichtenerzähler. Er erzählte mir und den Nachbarskindern die ganze germanische Mythologie; entweder in unserer Straße, der Kuhkoppel, oder auf dem Zeltplatz an der Ostsee. Er erzählte aus Leidenschaft und mit Verve. Er monologisierte nicht wie viele Märchenerzähler, sondern schmückte die Geschichten fantasievoll aus, fragte die Zuhörer etwas, ging auf Fragen der gebannten Kinder ein. Kurz, es war eine echte Erzähltradition. Diese Form des Erzählens habe ich von Päule geerbt. Und ich habe sie später in meinem Leben, im Dschungel von Südmexiko bei den Lakandonenindianern, wieder erlebt.

Am meisten haben mich die germanische Schöpfungsgeschichte sowie die Sagen von Wotan (= Odin), Thor und Loki gefesselt. In der Urzeit war nichts, dann Ginnungagap, die gähnende Tiefe, das germanische Chaos. Daraus entstand zunächst eine Kuh. Aus ihrem Euter rannen vier Milchflüsse, die Ymir, den ersten Riesen, ernährten. Dann entstanden die ersten Götter, Odin und seine Brüder. Sie erschlugen den Riesen und schufen aus seinen Überresten die Welt7:

„Aus Ymirs Fleisch

Ward die Erde geschaffen,

Aus dem Blute das Brandungsmeer,

Das Gebirge aus den Knochen,

Die Bäume aus dem Haar,

Aus der Hirnschale der Himmel.

Aus des Riesen Wimpern

Schufen Rater hold

Midgard den Menschensöhnen;

Aus des Riesen Gehirn

Sind die rauhgesinnten

Wolken alle gewirkt.“

Ich konnte mir alles so plastisch vorstellen, meine Fantasie war davon sehr erregt. Mir machte es nichts aus, dass die geologische Erklärung von der Entstehung unserer Welt ganz anders war. Für mich standen die beiden Schöpfungsgeschichten nicht in Konkurrenz. Sie ergänzten sich.

Ich habe damals sehr viel gemalt und gezeichnet. Ständig brachte ich die germanischen Götter zu Papier. Ich zeichnete sie nach meiner Fantasie, die der Erzählung meines Vaters entsprang. Mich wunderte es sehr, dass andere Kinder nur Autos, Kräne und Lokomotiven zeichneten. Die technischen Errungenschaften des Menschen interessierten mich herzlich wenig. Aber die mythische, gar mystische Welt der heidnischen Geschichten hielt mich in Bann. Ich erlebte eine Art Mythomania – und Mystomania.

Ich genoss eine echte heidnische Erziehung. Ohne Schuld und Sünde! Keiner in unserer Familie war religiös oder gehörte einer Religion an. Deshalb bin ich auch erst später in meinem Leben mit diesem seltsamen Phänomen in Berührung gekommen. Als ich in die Schule kam, wurde ich von Mitschülern merkwürdige Dinge gefragt wie „Bist du evangelisch oder katholisch?“ oder „Glaubst du an Gott?“ Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, was ich sei und ob wir an Gott glauben würden. Meine Mutter antwortete mir: „Wir sind gar nichts. Wir glauben nicht an Gott, wir verehren die Natur!“

Später ergänzte mein Vater, dass die Natur das ewig Geheimnisvolle sei. Wir sähen in der Natur das Wunder des Lebens und deren Schönheit. Die Natur ist so fantastisch, da braucht man keinen Gott mit langem Bart. Ja, die Natur war mir das Wichtigste und Erstaunlichste überhaupt. Je mehr ich in sie eindrang, desto rätselhafter und geheimnisvoller wurde sie für mich und die Mythen sind die Geschichten, die einem das Wunder des Daseins erklären sollten. Ich vertraute auf die Naturwissenschaften und die Mythologie.

Gleichermaßen wie die Mythen fesselten mich die geologischen und paläontologischen Geschichten. Mich faszinierten die Dinosaurier, die Ammoniten, die Trilobiten (Dreilappkrebse), die Großsäuger aus dem Tertiär, die Urmenschen und Neandertaler.

Eines Tages kam der tschechische Film „Die Reise in die Urzeit“ im Fernsehen. Ich saß gebannt vor dem Schwarz-Weiß-Gerät. Der vierteilige Film handelte von einer Gruppe von abenteuerlustigen Jungs, die einen Fluss entdeckt hatten, auf dem sie mit dem Boot in die Urzeit paddeln konnten. Sie führten genau Buch über ihre Eindrücke und Abenteuer. Das regte mich an, auch ein „wissenschaftliches“ Journal zu führen. Ich schrieb alle meine Aktivitäten als kleiner Forscher darin auf, ich machte Zeichnungen von Fossilien, die ich an der Ostsee gefunden hatte. Ich malte Stammbäume des Lebens ab und verfasste kurze Texte zur allgemeinen Paläontologie. Als ich in der dritten Klasse von meiner Lehrerin ermuntert wurde, einen Vortrag über Fossilien in meiner Klasse zu halten, traf ich ins Schwarze. Außer mir hatte keiner Ahnung von Versteinerungen und Geologie. Ab da nannten mich meine Mitschüler „Professor“.

Obschon ich mich auf die Schule gefreut hatte, war ich doch schon am ersten Tag meiner Einschulung bitter enttäuscht. Wir bekamen nach der Schultüte eine Fibel, eine „Schulfibel“ für die erste Klasse. Ich schlug das Buch auf und war entsetzt. Da gab es ein Bild von einem Fahrzeug im...

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