2 Muße und Religion
Ich gehe davon aus, dass in unserer Wahrnehmung Religion und Religiosität irgendwie mit dem Christentum verbunden wahrgenommen und in einem Atemzug mit Kirche oder Kirchen gedacht werden. Aber Religion ist mehr und meistens etwas anderes, als wir vielfach annehmen. Sie gehört zu den interessantesten Phänomenen menschlichen Denkens und Verhaltens und ist auch ein breiteres Phänomen, als wir in säkularisierten Gesellschaften annehmen. Denn von den derzeit 7,1 Milliarden Menschen auf der Welt gehören 5,9 Milliarden Menschen einer Religion an. Das heißt, dass es nichts anderes gibt – keine Sprache, keinen Sport, keine Nation –, das so viele Menschen verbindet wie Religion. Ein Viertel der Bevölkerung Europas schätzt sich selber als ziemlich beziehungsweise sehr religiös ein.[5] Gerade in Europa aber, wo das Christentum als Religion vorherrschend ist, wird beobachtet, dass die Menschen weniger christlich sind, als Theologen und Sozialforscher bisher annahmen, aber religiöser, als diese vermuten.[6]
Muße und Religion haben viel miteinander zu tun, weil beide Wahrnehmungen und Verhaltensweisen sind, die sich irgendwie als Metastruktur über Raum und Zeit spannen und eine wichtige Kraft der Deutung des Lebens liefern. Irgendwie haben Religion und Muße in der modernen Kultur auch das gleiche Schicksal: Trotz der Tatsache, dass man denkt und behauptet, wie wichtig sie seien, werden sie leicht vergessen und an den Rand der »To-do-Listen« des Lebens platziert.
Aus der Sicht der Religionswissenschaften haben Religionen die Funktion, dem Menschen ein geordnetes und sicheres Gefühl für Zeit und Raum zu vermitteln. Wir sehen in der Tat, dass Religion Zeiten gestaltet und ein alternatives Gefühl des Raumerlebens bietet. Sonn-, Festtage und Festzeiten, zum Beispiel Advent und Fastenzeit, sollen dem Menschen vermitteln, dass es ein Gegenüber zu jener Zeit gibt, der der Mensch in der Arbeit ausgesetzt ist.
In der religiösen Zeitdeutung ist der Mensch herausgehoben aus dem fatalen Kommen und Vergehen der Zeit. Diese lineare Zeit bezeichnen wir als »Kronos«. Die andere Zeitform, der Kairos, drückt aus, dass der Mensch in einen Ablauf hineingenommen ist, in dem ein geheimnisvoll gewährtes Sein vorherrscht und wahrgenommen werden soll. In dieser Zeit herrschen nicht meine Anstrengung und Verantwortung vor, sondern das Hinschauen (Kontemplation), Hinfühlen auf die Wirklichkeit des beschenkt Seins.
Die Tatsache, dass es für diese zweite Zeitwahrnehmung, in der die Fähigkeit und Sehnsucht der Muße und der Religion angesprochen werden, eine Art Prägung in unserem Gehirn gibt, scheint durch neurologische Untersuchungen erwiesen. Diese zeigen nicht nur, wie wichtig Ruhe und Distanz – also Muße – für die Regeneration sind, sondern dass sie eine Bedingung für die Vollkommenheit menschlichen Schaffens und die Entwicklung sinnhaften Lebens darstellen.
Wir brauchen offensichtlich das Empfinden für lineare Zeit (Kronos) und ein Gefühl für die Bedeutung und den Sinn der Zeit (Kairos). Die biochemische Voraussetzung für diese Fähigkeit wird über den abwechselnden Rhythmus zwischen Wachen, Schlafen und Träumen erzeugt, über die verschiedenen Rhythmen, die die Schlafforschung entdeckt hat. Danach dauert ein Schlafzyklus 120 Minuten, davon ruhen wir ungefähr 75 Prozent, und etwa 25 Prozent werden vom REM-Schlaf (Rapid Eye Movement) bestimmt. In der Ruhezeit werden Geist und Körper »heruntergefahren«, wir ruhen wirklich, während unser Geist in der REM-Zeit ordnet und interpretiert. Während das Gehirn ordnet und deutet, schaut ein Teil unseres Bewusstseins zu, ohne zu urteilen und einzugreifen. Daraus entwickeln sich Phantasie und die Vorstellung, dass sehr vieles möglich ist. Daraus ergeben sich auch die Träume.
Wir können im Leben sehr vieles entwickeln, beginnen und ändern, sicher aber können wir das nicht machen, was wir uns nicht vorstellen können. Die Entwicklung unseres Lebens und die Aufarbeitung der Wirklichkeit setzen diese innere Erfahrung und eine »höhere Ebene« der Wahrnehmung und Deutung voraus. Es gibt also eine Erfahrungsebene in uns, wo, jenseits von dem, was wir und andere uns zutrauen, unser Denken, Fühlen und Vorstellen unbegrenzt sind. Diese Ebene wird auch in der Muße gespürt und belebt.
Inzwischen hat die Neurologie festgestellt, dass diese Rhythmen auch im Ablauf des Tages weitergehen. In den sogenannten zirkadianen und ultradianen Rhythmen[7] drückt sich aus, dass wir Zeiten haben, wo wir besonders effektiv und kreativ arbeiten können, dass es aber auch Phasen gibt, in denen das Gehirn Pausen, Ruhe oder Muße braucht. Diese Rhythmen zu kennen und zu respektieren ist ein großer Beitrag für ein effektiveres Leben und ein insgesamt größeres Wohlbefinden. Eine wesentliche Ursache für die Entwicklung des viel bemühten Burn-out-Syndroms entsteht dadurch, dass wir diese Phasen, in denen wir Ruhe für Erholung und Deutung bräuchten, nicht respektieren und die geistigen, seelischen und körperlichen Strukturen und Funktionen in Unordnung bringen.
Als Beispiel für das Zusammenspiel von Muße und Religion kann der Hintergrund für die Darstellung des Schöpfungsberichts im 1. und 2. Kapitel des Buches Genesis stehen.[8] Die Erzählung von der Erschaffung der Welt – eigentlich müsste man sagen von der Erschaffung der Wirklichkeit – im ersten Buch der Bibel spiegelt die Struktur »schaffen, schauen, ausruhen« in immer wiederkehrender Form: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und leer; es wurde Abend, und es wurde Morgen – erster Tag. Bei einigen Schöpfungstagen lesen wir den Hinweis »und er sah, dass es gut war«. Der Hinweis auf Abend und Morgen und indirekt auf die Nacht, auf die Zeit, in der das kontrollierende, urteilende und verurteilende Bewusstsein – der Kronos – nicht sieht, was geschieht, und in der eine andere Ebene – der Kairos – deutet, warum etwas geschehen ist oder geschehen wird, macht den Menschen schöpferisch und hilft ihm, das Leben zu verstehen und zu ertragen.
Ich denke und beobachte kritisch an mir selbst, an vielen Menschen und am modernen Lebensalltag, dass wir alle zu arbeiten lernen, dass das »immer mehr, immer schneller« ganz tief in unser Lebensskript eingraviert ist, aber wir lernen nicht oder nicht mehr das Ruhen, das Innehalten und die Muße. Wir haben verlernt, ein bewusstes »und es wurde Abend, und es wurde Morgen« zwischen unsere Werke und unser Arbeiten zu stellen. Das, was zwischen Abend und Morgen passieren muss oder müsste – damit es uns gut geht oder gehen kann und damit wir uns organisch entfalten können –, ist nicht nur das Ausruhen, sondern das positive und bejahende Deuten unseres Lebens: »Und er sah, dass es gut war.«
Muße kann zu dieser entspannten und gütigen Interpretation unseres Lebens und Schaffens führen. Leistungs- und Perfektionsdruck liefern uns einer eigenen Anspannung aus: Es könnte und müsste immer noch mehr und besser sein. Aus der Distanz und Entspannung können wir vielleicht leichter wahrnehmen und sagen: »Es ist so gut oder genug.«
Im Raum und in der Zeit zwischen Abend und Morgen wird nicht beurteilt oder gar verurteilt. Es ist eine Zeit, die jenseits von Gut und Böse ist – das ist das schöne Bild von Paul Tillich über den »unschuldigen Schlaf«. Im Traum, im Schlaf, im Unbewussten hat alles Platz. Trotz der allenthalben angenommenen und verkündeten Emanzipation vom moralischen Diktat der Kirchen und Religionen lebt der Mensch unter einem enormen Druck, den Leistungs- und Konsumgesellschaft erzeugen. Doch gerade der moderne Mensch braucht Zeiten der Muße – und die religiösen oder spirituellen Riten sind auch solche Zeiten –, wo er sich von allem Außendruck befreien und sein Leben und Werk annehmen kann, wie es wirklich ist: »Er/sie sah, dass es gut war und ist.«
Diese Öffnung unseres Wahrnehmungssystems auf die Weite des Unbewussten, auf das noch nicht Strukturierte macht uns kreativ – schöpferisch – und stellt das Kernland des Religiösen dar. Der englische Theologe und Wirtschaftsforscher John Hull hat die These aufgestellt, »dass die modernen Gesellschaften vorwiegend produzieren und konsumieren und dass sie dadurch über kurz oder lang ihre Kreativität verlieren und untergehen, weil sie nicht mehr in der Lage sind, Neues zu schaffen«.[9] Deshalb – meint er – brauchen wir heute mehr denn je Religion, denn sie hilft uns, Leben zu deuten, ihm Sinn und Bedeutung zu geben, und das ist die Voraussetzung für Kreativität.
Ich würde einmal annehmen, dass Muße im eigentlichen Sinn, als bewusst geplante Zeit, in der wir uns vom Anspruch des Kronos erholen und die Vorgaben des Kairos zulassen, eine ähnliche Funktion wie Religiosität hat.
Dies belegt unter anderem die jüdisch-christliche Tradition im Siebentagewerk und in der jüdischen Zahlensymbolik. Das Schöpfungswerk wird an sechs Tagen vollbracht. Aber der siebte Tag, an dem Gott ruhte, ist Teil des Schöpfungswerkes und ein Hinweis, dass die Schöpfung erst durch die Ruhe zwischen den Schöpfungstagen und am Ende der Schöpfung vollkommen wird. Sechs ist in der jüdischen Zahlensymbolik die Zahl der Unvollkommenheit, sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Arbeit, Leistung und Mühen erhalten erst durch die Ruhe und die Deutung ihre Vollkommenheit, ihre Bedeutung. Diese Überlegungen, die im Grunde von der Notwendigkeit der Muße handeln, sind ein grundlegender Beitrag für das Verständnis menschlicher...