Marianne Schwarz, Alpe Helmingen
Emma und Richard Fuchs, Alpe Loch
Anton Sutterlüty, Untere Falz-Alpe
Bregenzerwald/Österreich
Bei Sonnenschein im Lecknertal zu wandern, das sich hinter Hittisau im Bregenzerwald in Richtung Gunzesried im Allgäu zieht, gleicht einem Ganzkörperbad in Wohlgefühl. Meine Großstädterseele baumelt, die pflastergewohnten Füße federn über wassergesättigte Bergwiesen. Und die Augen staunen über wahre Wolken von kleinen wilden Orchideen, Knabenkraut, das in allen Schattierungen von Rosa bis Violett blüht. Daneben gibt es Erdbeeren, Heidelbeeren, ganze Felder von Minze ‒ ich habe keine Ahnung, wie sich das in Kuhmägen auf die Milch auswirkt, aber es duftet so gut.
Kühe gehören zu dieser Landschaft wie der Geißenpeter zur Heidi, das gänzlich unorchestrierte und dennoch harmonische Geläut ihrer Glocken bildet den Soundtrack der Alpen. Aber die braunen, grauen, gefleckten oder gesprenkelten Wiederkäuer stehen natürlich nicht zur reinen Erbauung einer erholungsbedürftigen Touristin, wie ich es bin, vor dem Gipfelpanorama. Das glückliche Wohlgefühl an einem warmen Sommertag trügt ‒ der Winter ist lang, die Natur unnachgiebig. Das Sennerleben auf der Alp (wie die Alm, die Sommerkäserei der Berge, hier heißt, von denen es in der Gemeinde Hittisau so viele gibt wie sonst nirgends) ist hart, rund hundert Tage von Ende Mai bis in den September, ohne Wochenende oder Ruhepause. Keine Lust, zu müde ‒ das geht hier nicht. Beschaulich ist das nur mit der passenden Einstellung, nennen wir es die Älplerseele. Wer die besitzt, hat Geduld und innere Ruhe, und das zeigt sich im Käse. Und auch ich bin nicht zur Erholung hier (das ist ein großartiger Nebeneffekt), sondern um zwei ganz besondere Alpen zu besuchen.
Gleich hinter dem Parkplatz am Ende der schmalen Mautstraße, die von Hittisau ins Tal hineinführt, steigt ein Weg rechts am Hang hinauf. Er führt nach etwa einer Stunde, genau dann, wenn ich schwitzend die Unzulänglichkeiten meiner städtischen Kurzjogger-Kondition zu spüren beginne, zu einer eher unscheinbaren Sennhütte mit den für die Gegend typischen Holzschindeln. Im Schatten davor stehen zwei einfache Tische mit Bänken. Wochentags ist es ruhig auf der Alpe Helmingen, auch heute sind außer mir keine Touristen hier, aber die Sennerin hat Besuch aus dem Dorf, und der breite Wäldler-Dialekt der Frauen mischt sich in den Alpen-Soundtrack der Glocken. Einen Becher Milch, ein Käsebrot? Unbedingt. Die Milch schmeckt süß, sahnig, würzig ‒ der Winter scheint weit weg, die Welt ist schön. Dann der Biss in den kräftigen Käse, der in dicken Scheiben auf schlichtem, gebuttertem Mischbrot liegt …
Marianne Schwarz, die Sennerin, strahlt eine geerdete Ruhe aus. Sie zieht seit vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann im Sommer hier hinauf, und man sieht der kräftigen, entschiedenen Frau Mitte fünfzig an, dass der Alpsommer mit viel körperlicher Arbeit verbunden ist. Ich habe sie stets nur in weißer Gummischürze erlebt, das Gesicht ein wenig gerötet, die schwarzen kurzen Haare unter einer weißen Kappe. Trotzdem wirkt sie alles andere als gestresst. »Natürlich ist immer viel zu schaffen«, sagt sie gut gelaunt, »aber sobald ich hier hochkomme, bin ich einfach ein ganz anderer Mensch.« Kaum ein Alpsenn, ob auf der eigenen Alpe wie Marianne Schwarz oder im Auftrag eines oder mehrerer Bauern, steht auch den Rest des Jahres am Käsekessel, viele arbeiten als Zimmerleute oder Skilehrer. Der hunderttägige Alp-Sommer wirkt auf dem Kalender viel kürzer als die restlichen 265 Tage des Jahres, dauert aber in seiner Intensität mindestens ebenso lang, und erst der Wechsel verleiht beiden Lebensformen ihre besondere Qualität.
Alpkäsereien sind einfache Bauten, tritt man ein, steht man sofort in der Käserei, die hier Käsküche heißt. Der imposante Kupferkessel hängt über einer offenen, rund gefassten Feuerstelle. Jeden Morgen verarbeitet Marianne Schwarz darin nach dem Melken die gänzlich unbehandelte Milch ihrer dreißig Kühe zu zwei großen runden Alpkäse. Zwei noch ganz embryonale, rindenlose weiße Laibe liegen in Leintücher geschlagen und von Spannringen in Form gehalten auf einem Tisch an der Wand daneben, unter einer einfachen Spindelpresse. In der angrenzenden Milchkammer sind flache, runde hölzerne Gefäße aufgereiht, die Gebsen, die manche auch Stotzen nennen. »In denen steht die Abendmilch über Nacht, das machen wir schon immer so«, sagt sie, »die Milch muss säuern, muss reifen an der Luft.« Strom ist knapp, aber zum Kühlen ist er sowieso nicht nötig. Das Brunnenwasser ist kalt, und als wir in den Keller hinabsteigen, weil ich ein großes Stück Käse vom Vorjahr mit nach Hause nehmen möchte, spüre ich einmal mehr die wunderbare feuchte Frische dort unten.
Wenn ich von Reisen wie dieser zurückkehre, wiegt mein Koffer immer um einiges mehr und duftet aromatisch. Doch nur allzu schnell gehören die mitgebrachten Schätze dank ähnlich turophiler (ein schönes Wort, das »käseliebend« bedeutet) Freunde der kulinarischen Erinnerung an. Wenn dann im dunklen grauen Winter der Stadt die Sehnsucht nach den Bildern und Tönen, dem Duft und Aroma jener Landschaft aufsteigt, dann lockt die nächste Käsetheke mit ihrem Angebot an Vorarlberger Bergkäse als Gegenmittel. Doch funktioniert das leider nur selten. Denn was dort angeboten wird, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von einer Alp wie der Helmingen, sondern aus einer der Dorfsennereien, die es im Bregenzerwald in jedem größeren Ort gibt. Kein schlechter Käse, aber ihm fehlt die elegante, komplexe Helmingen-Würze.
Alpkäse ‒ vor allem, wenn er von einer so gewissenhaften, erfahrenen Sennerin wie Marianne Schwarz hergestellt wird ‒ bildet die Spitze der Qualitätspyramide der Bergkäse. Dorfsennereien hingegen liefern die solide Basis, wenn Kühe und Senner nach dem Sommer wieder unten auf den Höfen sind (selbst wenn »unten« im Hochtal des Bregenzerwalds immerhin eine Höhe von 700 Metern bedeutet). Denn Kühe sind ausgesprochen wählerisch, sogenannte Selektivfresser. Das ist genauso wenig angeboren wie unser eigenes Essverhalten. Im ersten Alpsommer lernen Kälber von Mutter und Tanten, sich in der Bergwelt zurechtzufinden, bekommen die Unterschiede zwischen gutem und schlechtem Grünzeug beigebracht. Die Milch jeder einzelnen Kuh schmeckt ein wenig anders; das ist ein Grund für den ausgeprägten Charakter der besten Alp-Bergkäse.
Am nächsten Tag steige ich die andere Seite des Lecknertals hinauf, zu Richard und Emma Fuchs. Ihre Alpe Loch liegt auf 1200 Meter Höhe an der Nordseite des Tals der Alpe Helmingen mehr oder weniger gegenüber. Doch anders als die sanfte Weite, die Marianne Schwarz umgibt, fällt der Hang hier steil ab, die Landschaft hat eine gewisse Dramatik. »Die Nachbarn wundern sich, warum wir nicht längst die Felsen aus der Alpe gesprengt haben«, sagt Richard Fuchs, »dann hätt's genug für zwei, drei Kühe mehr, die halten uns für blöd.« Was den zierlichen, aber sehnigen Anfang-Sechziger nicht im Geringsten stört, denn die Felsen gehören zur Loch. Achtzehn, maximal zwanzig Liter Milch geben die Tiere hier oben am Tag, im Winter im Dorf ist es die doppelte Menge. Aber das liegt nicht nur an den Felsen. Richard und Emma Fuchs haben sehr genaue Vorstellungen, und die setzen sie sehr konsequent um: Ihre dreißig Kühe ernähren sich im Sommer tatsächlich ausschließlich von dem, was an den steilen Hängen wächst. Das klingt für unbedarfte, erholungssuchende Städter selbstverständlich: glückliche Alpkühe auf grünen Wiesen, Punkt. Dabei übersehen sie jedoch, dass bei den meisten ...