Sonntag, 30. August 2009
Ich erinnere mich blass an zwei Dinge. Zum einen ging es gestern Nacht draußen in den Altstadtgassen höllisch laut zu. Keine Ahnung, ob ein Volksfest zugange war oder doch nur eine völlig normale spanische Samstagnacht. Zum anderen turnte auf dem Nachbarbett jemand die ganze Nacht wild herum. Dadurch brachte der Unbekannte gleichzeitig drei weitere Personen zum Wackeln. Glücklicherweise hatte meine Müdigkeit bereits narkotisierende Gefilde erreicht, sodass mich das konstante Schaukeln nicht besonders lang vom Schlaf abhielt.
Ich wache erst auf, als die meisten Pilger längst unterwegs sind. Auf meiner Hüfttasche, die ich am Kopfende ans Bett geschnallt habe, hockt eine fette, vollgepumpte Bettwanze. Als ich sie zerquetsche, läuft eine Menge Blut heraus. Zum Glück aber nicht meins. Dieses imprägnierte Laken hat sich bereits nach einer einzigen Nacht bezahlt gemacht. Mit noch heilem Fleisch und frohen Mutes, allerdings ohne Frühstück oder Wasser, verlasse ich die Herberge. Nach wenigen Minuten treffe ich auf die gesperrte Passage. Eine provisorische Umleitung führt mich über triste Seitengassen ohne Cafés oder Bäckereien, dafür aber mit geschlossenen, undefinierbaren und vor allem hässlichen Geschäften, aus der Altstadt. Die wenigen Pilger, die außer mir heute Morgen unterwegs sind, flitzen an mir vorbei, als würde ich rückwärts gehen. Wie deprimierend. Anschließend laufe ich an breiten, aber nur sporadisch befahrenen Straßen über schnurgerade Bürgersteige aus der Stadt. Ich beschließe, meine nagelneuen Wanderstöcke auszuprobieren. Zunächst nur zaghaft, denn ich finde, das Laufen mit zwei Wanderstöcken sieht bescheuert aus. Wie eine typische Zivilisationskrankheit eben. Doch wider Erwarten bin ich bereits nach wenigen Minuten im Rhythmus, und da mir Sebastian den Einsatz der Stöcke eindringlich empfohlen hat, bleibe ich zunächst einmal dabei.
Seit etwa einer halben Stunde werde ich von vier Pilgern eskor tiert, die mal zwanzig Meter vor mir, mal dreißig Meter hinter mir laufen. Nach einer weiteren halben Stunde habe ich mir einen gewissen Vorsprung erarbeitet, sodass ich wieder allein über die offensichtlich von Radfahrern und Joggern heiß geliebte Strecke wandere. An einem recht rücksichtslos in die Natur gehämmerten Freizeitgebäude für Wochenendausflügler kaufe ich mir zwei Flaschen Wasser. Da recht hohe Temperaturen herrschen, lege ich in einem pittoresk schattierten Waldstück eine erste kurze Rast ein. Erwartungsgemäß sehe ich besagte Pilgergruppe erneut an mir vorbeiziehen.
Auf dem Weg nach Navarrete, etwa dreizehn Kilometer von Logroño entfernt, hockt ein Bärtiger namens Marcelino an einem Holzstand und bietet neben einem eigenen Stempel auch noch verfaulte Äpfel und trockene Kekse an. Da er mich zur Mitnahme irgendeines Nahrungsmittels drängt (bisher scheint er nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein), leihe ich mir einen der verschrumpelten Äpfel aus und gebe ihn wenige Meter weiter der Natur zurück. Die ersten Kilometer meines Camino sind recht hügelig und geprägt von Weinfeldern mit prächtig behängten Reben. Obwohl es ziemlich heiß und staubig ist, fühle ich mich fit und gewappnet – für was auch immer. Nach der Wanderung durch die Natur geht es einige Kilometer entlang der Autovía del Camino de Santiago, der A-12. Hört sich spektakulär an, ist aber an sich nur eine hässliche spanische Autobahn. Eva Herman würde ihr sicherlich etwas Positives abgewinnen, mich begeistert sie nur bedingt. Entlang des Maschendrahtzauns, der den Camino von der autovía trennt, hängen Hunderte improvisierter Kreuze aus Zweigen, Papier oder Stroh. Spätestens jetzt merkt man, dass man hier nicht auf irgendeinem beliebigen Fernwanderweg unterwegs ist.
Irgendwann verliere ich die Pilger von vorhin aus den Augen. Mit dem Gefühl, als allerletzter Nachzügler allen anderen Pilgern hinterherzulaufen, geht es über einen staubtrockenen Feldweg nach Navarrete, vorbei an der Ruine eines mittelalterlichen Pilgerhospitals. Als ich aus einer schmalen Gasse trete, treffe ich die Pilgergruppe wieder. Es handelt sich um einen Zusammenschluss von vier Frauen offenkundig unterschiedlichster Herkunft und Altersstufen. Nebeneinander auf einer Bank sitzend lüften sie ihre Schuhe. Ich überlege kurz, sie einfach zu passieren. Die meisten Männer hätten Schiss vor einer vierköpfigen Frauengruppe, oder etwa nicht? Dann fällt mir ein Glückskeksspruch ein, der mir vor zwei Monaten auf einer Geburtstagsfeier in die Hände gefallen ist: »Sie sind sehr reiselustig und kontaktfreudig.« Bin ich eigentlich nicht, ganz im Gegenteil. Vielleicht deshalb muss ich jetzt daran denken. Also gut. Ich werfe meine Ängste über Bord, nehme all meinen Mut zusammen (ich weiß, es klingt übertrieben und ist schwer nachvollziehbar) und spreche sie an. Genau in diesem Moment fällt mir auf, dass die eine ältere Dame einen auffälligen weißen Hut trägt, der mir ziemlich bekannt vorkommt. Das ist doch die strenge Frau Generalin, die meine Schuhe aus dem Schlafraum verbannen wollte! Was für ein merkwürdiger Zufall. Nun ja, in freier Natur macht sie einen viel netteren Eindruck. Avril, so heißt sie, ist dreiundsechzig und kommt aus … ja, woher denn nun? Ihre Mutter ist Britin, ihr Vater zu fünfzig Prozent deutschstämmig, sie ist in den USA aufgewachsen und lebt jetzt in San Sebastian. Sie spricht neben Englisch ein sehr passables Spanisch, wie ich aus eigener Erfahrung zu berichten weiß, und ungefähr zehn deutsche Wörter, darunter »Scheiße«. Ihr Haar trägt sie grau und kurz, meist bedeckt von ihrem markanten weißen Hut, dazu eine adrette Brille und eine weiße Handtasche. Zweite im Bunde ist Michelle aus Kalifornien, siebenundfünfzig Jahre, US-Bürgerin, ein wenig zerstreut. Sie dokumentiert die gesamte Reise per Kamera und PDA und verschickt jeden Abend einen Camino-Newsletter an Freunde und Bekannte. Ihr Rucksack wiegt stattliche dreizehn Kilogramm, neuneinhalb mehr als meiner. Nummer drei der Damenbande ist Melanie aus der Nähe von Mönchengladbach, siebenundzwanzig Jahre jung, Studentin in Köln, die ich mit ihren langen, dunkelbraunen Locken auf den ersten Blick für eine Spanierin gehalten habe. Außerdem noch dabei: eine junge Koreanerin, deren Namen ich beim besten Willen nicht verstehe. Nachdem ich sechsmal nachgefragt und ihn immer noch nicht verstanden habe, wird es uns beiden peinlich, und wir verstummen. Sie alle wollen in der nächsten Bar frühstücken und bestehen darauf, dass ich mich ihnen anschließe. Mein Magen und ich erklären uns natürlich sofort einverstanden. Ohne Frühstück dreizehn Kilometer durch diese Hitze hätte ich mir vor wenigen Wochen beim besten Willen nicht zugetraut.
Mit meinem ersten café con leche (deutsch: Milchkaffee) und meinem ersten bocadillo (belegtes Brötchen) gestärkt, geht es weiter Richtung Ventosa. Erneut führt der Weg durch weitläufige Weinberglandschaften. Hier werden die Reben der berühmten wie ausgezeichneten Rioja-Weine angebaut. Den Großteil der Strecke lege ich mit Michelle zurück. Wir laufen in einem ähnlichen Rhythmus und nutzen die Zeit, um uns ein wenig kennen zu lernen. Mit der Pilgerreise, so die Kalifornierin, gehe ein Lebenstraum in Erfüllung. Und so wirkt sie auch: Auf jedem Meter des Weges findet sie garantiert etwas, was sie außerordentlich bewundernswert findet. Permanent zückt sie ihre ziemlich klotzige Digitalkamera und fotografiert. Wie eine meiner Tanten, denke ich. Als wir eine winzige Hütte passieren, die mitten in einem Rebenfeld steht, ertönt aus dem Inneren ein merkwürdig klingendes Blasinstrument. Michelle und ich blicken uns ratlos an und stellen gleichzeitig die Frage: »Was ist das?!« Auf die Idee nachzusehen kommen wir nicht. Stattdessen versuchen wir, mein eingerostetes Schulenglisch in Gang zu bringen.
So schnell geht das: Heute Morgen fühlte ich mich noch fremd und isoliert, lediglich drei Stunden später habe ich mich als ständiges Mitglied einer Pilgergruppe etabliert. Als wären wir seit Tagen gemeinsam unterwegs. Um kurz vor vierzehn Uhr erreichen wir das malerische Dörfchen Ventosa, eine überschaubare Siedlung auf einem Hügel, die von einer markanten Kirche überragt wird. Langsam macht uns die enorme Mittagshitze zu schaffen, es ist weit über dreißig Grad warm. Daher beschließen wir, eine etwas längere Rast einzulegen. Da die Koreanerin keine Lust hat, ihren riesigen Rucksack unnötig durch die Gegend zu schleppen, setzt sie sich vor eine kleine Bar und teilt uns mit, dort auf uns zu warten. Der Rest der Bande erklimmt auf der Suche nach einer kulinarischen Einkehrmöglichkeit den Hügel. Auf der Wiese hinter der liebevoll restaurierten Kirche treffen wir auf die Französin Marie; ich schätze sie auf Mitte fünfzig. Sie spricht beinahe ausschließlich Französisch und scheint eine extrem fröhliche Person zu sein. Avril, Michelle und Melanie kennen sie bereits. Melanie beschließt, auf die Mittagsmahlzeit zu verzichten und sich zu Marie auf die Wiese zu fläzen. Also mache ich mich mit Michelle und Avril auf die Suche nach Futtermitteln. Bald entdecken wir eine seelenlose Kaschemme, eine...