Angst und Angstbewältigung
Einleitung
Angst ist für uns ein sehr vertrautes Gefühl, ob wir dazu stehen oder auch nicht. Es scheint ja ein unausgesprochenes Ideal zu sein, daß der Mensch möglichst angstfrei zu sein hat. Deshalb wohl haben wir auch so viele Ausdrücke für Angst, die die Angst auch ein Stück weit bemänteln. So sagen wir etwa, daß wir angespannt sind, verwirrt sind, nervös sind, oder man spricht von Streß.
Es scheint mir sehr typisch für unseren heutigen Umgang mit der Angst zu sein, daß wir sie nicht mehr zu benennen wagen und andere Ausdrücke dafür brauchen. Wir wagen eher selten, sie wirklich bei ihren Namen zu nennen. Dadurch können wir aber ihre wichtige Funktion, die sie in unserem Leben hat, nicht nützen.
Das Wort Angst kommt von der indogermanischen Wurzel „angh“, hat also eine Verbindung zu Enge, zum Eingeschnürtsein. Diese „Enge“, die wir spüren, wenn wir uns ängstigen, bringen wir normalerweise mit dem Brustraum in Verbindung: Wir können nicht frei atmen, die Angst schnürt uns die Kehle zu. Können Menschen nicht frei atmen, dann sagen sie, es wäre ihnen eng auf der Brust. Es gehört ganz wesentlich zur Angst, daß wir nicht mehr so atmen können, wie wir zuvor geatmet haben. Wir spüren das vor allem auch dann, wenn eine Angstsituation vorüber ist, wenn wir wieder aufatmen, durchatmen können und wir unsere ursprüngliche Gelassenheit wiederfinden, vielleicht sogar eine ruhige Daseinsfreude empfinden oder Stolz darauf, eine bedrohliche Situation überstanden zu haben. Dann können wir wieder frei atmen.
Wir wissen meistens, welche Ängste wir in etwa haben, und wir können auch verschiedene Qualitäten dieser unserer Ängste unterscheiden. Wir können zum Beispiel feststellen, daß wir uns schnell anspannen, und wir wissen, daß diese leichte Spannung unsere Konzentration erhöht, daß wir diese Spannung in Konzentration umsetzen können. Das wäre der Sinn eines leichten Lampenfiebers. Diese ängstliche Spannung ist durchaus noch lustvoll. Balint hat den Ausdruck „Angstlust“ geprägt.1 Damit ist die leise Anspannung angesprochen, die eben auch noch in sich lustvoll ist. Angst kann dann aber mit zunehmender Spannung schnell unangenehm werden. Dann sprechen wir davon, daß wir wirklich ängstlich gespannt sind oder gar ängstlich verspannt. Man hat dann das Gefühl, „blockiert“ zu sein, eingeengt, wie eingeschnürt. Diese unangenehm wahrnehmbare Angstspannung kann sich zu einer hellen Angst steigern bis hin zu einer Panik. Wir alle kennen diese Abstufungen im Erleben der Emotion Angst. Und wir wissen auch, wie wir uns fühlen, wenn wir „richtig“ Angst haben. Wir fühlen uns unbehaglich, bedroht, es ist uns unheimlich, unerträglich, wir können nicht reagieren, wir verlieren ganz und gar unsere Souveränität. Sehr häufig werden wir „dumm“ bzw. wir reagieren dumm. Darauf bezieht sich der Ausdruck „Angst macht dumm“. Es gibt wohl kaum ein Schlagwort, das so stimmt wie dieses. Angst macht dumm und umgekehrt: Wenn Menschen sich sehr dumm anstellen, müßte man sich vielleicht überlegen, ob sie Angst haben oder ob wir in diesen Menschen Angst auslösen.
Wenn wir uns ängstigen, dann verlieren wir, zumindest für einen Moment, unsere gewohnte Souveränität, unser gewohntes Selbstvertrauen, wir fühlen uns hilflos und versuchen, dennoch zu reagieren. Sehr leicht ereignet sich dann ein Zirkel der Angst. Da wir den Eindruck haben, in einer Situation immer ungeschickter, immer gehemmter zu sein, ängstigen wir uns noch mehr. Das führt dazu, daß wir noch ungeschickter werden, noch „dümmer“. Das kann bis zu dem Gefühl gehen, sich in dieser Situation ganz und gar zu verlieren und nicht mehr man selbst zu sein. Dabei verliert man auch meistens die Sprache. Das geschieht besonders in traumatischen Situationen, in Situationen also, in denen ein Mensch emotional und kognitiv überfordert ist. Das bedeutet: Unter Angst tritt vorübergehend ein Identitätsverlust ein bis hin zur Fragmentierung. Dieser Identitätsverlust kann unter Umständen rasch wieder behoben werden, denn wir unternehmen sofort etwas dagegen, oder unsere Psyche unternimmt sofort etwas dagegen. Angst und Angstbewältigung oder zumindest der Versuch der Angstbewältigung sind fast gleich ursprünglich: Immer wenn wir große Angst verspüren, dann tun wir auch etwas gegen diese Angst.
Die Gefahr, sich in der Angstsituation selbst zu verlieren, wird auch daran deutlich, daß wir in dieser Situation ganz leicht in eine Kindposition geraten. Auch üblicherweise autonome Menschen, die sich auf ihre Selbständigkeit durchaus etwas einbilden und auch einbilden dürfen, können dann einem anderen Menschen die ganze Verantwortung übergeben: „Mach das doch für mich“, oder sie suchen Rat bei Menschen, die unter Umständen viel weniger wissen als sie selbst. Im Moment der Angst sind sie oft bereit, diesen Rat verhältnismäßig unkritisch zu übernehmen. In der Angstsituation geraten wir in die Kindposition und bringen dann natürlich die helfenden Menschen in die Position von Autoritäten, die dann das Sagen haben. Das erleben wir als eine Form der Angstbewältigung. Angst zu erleben betrifft also nicht nur unsere Identität, sie wirkt auch auf unsere Beziehungen.
Angst verändert unsere Beziehung zu den Mitmenschen. Wir werden entweder zu Hilfesuchenden, oder wir ziehen uns noch mehr zurück. Denn einerseits stammt sehr viel Angst, die wir noch aus unserer Kindheit und aus unserem früheren Leben mit uns tragen, aus Beziehungen, in denen die Kommunikation abgebrochen wurde. Sehr viel Bewältigung von Angst können wir andererseits aber wieder durch Beziehungen zu Mitmenschen leisten, weil wir sofort wieder den Eindruck haben, gestützt zu werden. Beziehungen machen also Angst, sie helfen aber auch, Angst zu bewältigen. Das wird ein Thema sein, daß uns sehr beschäftigen wird.
Angstfantasien – ihr Einfluß auf unser Erleben
Angst verändert uns also in unserem Selbsterleben. Angst verändert uns in unserem Beziehungserleben. Wenn wir Angst haben, haben wir zudem meistens bewußt oder unbewußt Fantasien, die auf unser Angsterleben einen großen Einfluß haben. Diese Fantasien sind auf eine katastrophale nähere oder fernere Zukunft gerichtet. Es sind meistens keine vollkommen ausgestatteten, ausgemalten Fantasien, sondern eher Fantasiesplitter; sie werden begleitet von körperlichen Angstreaktionen. Sätze, oft zu sich selbst gesprochen, wie „ich kann eine Arbeit nicht vollenden“, „alles ist aus“, „ich kann etwas, was mir so erstrebenswert erscheint, nicht mehr tun“, „ich werde durch das Examen fallen“, „ich kann nicht mehr leben in dieser Welt, ich halte es nicht mehr aus“ sind oft mit Bildern unterlegt, die mehr oder weniger bewußt wahrgenommen werden. In diese Bilder vertieft man sich, sie werden dann angereichert mit weiteren Fantasiebildern. Sagt man z. B. den Satz: „Ich kann diese Arbeit nicht rechtzeitig beenden“, dann fantasiert man meistens einen Menschen dazu, der deswegen sehr böse ist. Ist man visuell begabt, drängt sich einem das wütende oder verächtlich-kalte Gesicht der betreffenden Person geradezu auf. Dann fantasiert man weiter, wie man mit Schimpf und Schande davongejagt wird, wie man einen Ausschluß befürchten muß, wie man als Stadtstreicherin enden wird, wie Menschen dann über einen sprechen werden usw.
Eine andere Fantasie, die bei der Angst eine große Rolle spielt, ist der sogenannte „Gesichtsverlust“. Sehr viele Angstfantasien haben ja mit dem befürchteten Verlust unseres Selbstwerts zu tun. Wir stellen uns mehr oder weniger plastisch vor, wie wir in eine Situation kommen, wo einfach offensichtlich, das heißt für alle sichtbar wird, wie wir unser Gesicht verlieren und wie schrecklich das ist. Wir stellen uns vor, was die Menschen sagen, wie sie hämisch grinsen werden usw. Es wäre vielleicht sinnvoller auf der Bildebene zu bleiben und sich einmal vorzustellen, wie es denn eigentlich wäre, verlöre man das Gesicht. Käme wirklich eine Gesichtslosigkeit zustande oder ein anderes Gesicht, vielleicht ein wahreres Gesicht? Und wie sähe dieses aus? Aber solchen Spielereien auf der Imaginationsebene ist man in einer Angstsituation nicht zugänglich. Sind wir aber wirklich in einer Lebenssituation, in der wir das Gesicht verloren haben, stellen wir fest, daß das gar nicht so schlimm ist. Manchmal kann es sogar entlastend wirken, weil man jetzt nicht mehr das schöne Gesicht zeigen muß und man merkt, daß man nicht umkommt, wenn man einmal das Gesicht verliert. Haben wir aber Angst, das Gesicht zu verlieren, sind viele andere Befürchtungen mitbeteiligt. Das Gefühl des Zerstörtseins, die Scham darüber, oder auch das Gefühl des Sich-selbst-Verfehlens, das...