Über das Studium der Philosophie.
Einleitung
Ich glaube nicht voraussetzen zu dürfen, daß die Meisten von Ihnen sich schon sonderlich mit Philosophie beschäftigt, ein eigentlich methodisches philosophisches Studium getrieben haben. Dieser Umstand würde mir willkommen seyn, wenn ich darauf die Voraussetzung gründen könnte, Sie völlig unbefangen in dieser Art der Betrachtung zu finden, ohne alle vorgefaßte Meinung, und daher meinem Vortrage desto empfänglicher offen stehend. Aber diese Voraussetzung wäre ganz falsch. Ein Jeder von Ihnen bringt schon eine ganz fertige Philosophie mit, ja er hat sich sogar, wenigstens halb und halb, nur in dem Vertrauen hergesetzt, eine Bestätigung derselben zu vernehmen. Dies kommt nun zum Theil daher, daß jeder Mensch ein geborener Metaphysikus ist: er ist das einzige metaphysische Geschöpf auf der Erde. Daher auch manche Philosophen Das, was im Allgemeinen gilt, als speciell nahmen, und sich einbildeten, die bestimmten Dogmen ihrer Philosophie wären dem Menschen angeboren; da es doch nur der Hang zum metaphysischen Dogmatisiren überhaupt ist, den man jedoch leicht in der Jugend zu bestimmten Dogmen abrichten kann. Alles philosophirt, jedes wilde Volk hat Metaphysik in Mythen, die ihm die Welt in einem gewissen Zusammenhang zu einem Ganzen abrunden und so verständlich machen sollen. Daß bei jedem Volke (obwohl bei einem mehr als dem andern) der Kultus unsichtbarer Wesen einen großen Theil des öffentlichen Lebens ausmacht, ferner daß dieser Kultus mit einem Ernst getrieben wird, wie gar keine andere Sache; endlich der Fanatismus, mit dem er vertheidigt wird; – dies beweist, wie groß die Macht hyperphysischer Vorstellungen auf den Menschen ist, und wie sehr ihm solche angelegen sind. Ueberall philosophiren selbst die Rohesten, die Weiber, die Kinder, und nicht etwa bloß bei seltenen Anlässen, sondern anhaltend und recht fleißig und mit sehr großem Zutrauen zu sich selbst. Dieser Trieb kommt nicht etwa daher, daß, wie Manche es auslegen, der Mensch sich so erhaben über die Natur fühlt, daß sein Geist ihn in Sphären höherer Art, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit zieht, das Irdische ihm nicht genügt u. dgl. m. Der Fall ist selten. Sondern es kommt daher, daß der Mensch mittelst der Besonnenheit, die ihm die Vernunft giebt, das Mißliche seiner Lage einsieht, und es ihm schlecht gefällt, sein Daseyn als ganz prekär und sowohl in Hinsicht auf dessen Anfang als auf dessen Ende ganz dem Zufall unterworfen zu sehn, noch dazu es auf jeden Fall als äußerst kurz zwischen zwei unendlichen Zeiten zu finden, ferner seine Person als verschwindend klein im unendlichen Raum und unter zahllosen Wesen. Dieselbe Vernunft die ihn treibt für die Zukunft in seinem Leben zu sorgen, treibt ihn auch, über die Zukunft nach seinem Leben sich Sorgen zu machen. Er wünscht das All zu begreifen, hauptsächlich um sein Verhältniß zu diesem All zu erkennen. Sein Motiv ist hier, wie meistens, egoistisch. Gäbe man ihm die Gewißheit, daß der Tod ihn ganz zu Nichts macht: so würde er meistentheils sich alles Philosophirens entschlagen und sagen nihil ad me.
Die Philosophie, die, wie ich behaupte, Jeder von Ihnen mitbringt, ist nun theils aus diesem dem Menschen natürlichen Hange entsprungen, theils hat sie aber auch von Außen Nahrung erhalten, fremde fertige Lehren sind ihr zugeführt und, durch die eigene Individualität modificirt, in diese aufgenommen worden. Hieher gehört theils die Religion, deren Unterricht mehr und mehr die Form einer Philosophie angenommen hat und sich mehr auf Ueberzeugung, als auf Offenbarung stützen will; theils ist mit allen Wissenschaften die Philosophie so sehr verwebt, daß Einer mag getrieben oder gelesen haben was er will; es sind immer viel Philosopheme mit eingeflossen.
Also darf ich Ihren Geist keineswegs als eine tabula rasa in Hinsicht auf das Vorzutragende betrachten. Und da dem so ist, so wäre es mir am liebsten, wenn Sie Alle alle vorhandenen Systeme genau kennten. Daß Sie hingegen nur ein einziges der dagewesenen Systeme studirt hätten und Ihre Denkweise ihm angepaßt hätten, wäre mir nicht willkommen: denn bei Einem und dem Andern, der etwa mehr zum Festhalten des Erlernten als zum Aufnehmen des zu Erlernenden fähig und geneigt wäre, könnte so ein einmal vertrauensvoll ergriffenes System zum Glaubensartikel oder gar zu einer Art von fixirten Vorstellungen geworden seyn, die allem Andern, und sei es noch so vorzüglich, den Zugang versperrt. Aber wenn Sie die ganze Geschichte der Philosophie schon kennen gelernt hätten, von allen Systemen einen Begriff hätten, dies wäre mir lieb: – denn Sie würden alsdann am leichtesten dahin kommen, einzusehen, warum der Weg, welchen ich mit Ihnen zu gehn gedenke, der richtige ist oder wenigstens seyn kann, indem Sie bereits aus Erfahrung wüßten, daß alle jene früher versuchten Wege doch nicht zum Ziele führen und überhaupt das Schwierige, ja Mißliche des ganzen Bestrebens deutlich eingesehen hätten; statt daß Sie jetzt manchen jener von Philosophen verschiedener Zeiten eingeschlagenen Wege wohl von selbst gewahr werden und sich wundern möchten, warum man ihn nicht einschlägt. Denn ohne Vorkenntniß der früheren Versuche möchte der Weg, den wir vorhaben, Manchem befremdend, sehr umständlich und beschwerlich und ganz unnatürlich scheinen: denn freilich ist es nicht der auf den die spekulirende Vernunft zuerst geräth, sondern erst nachdem sie die von selbst sich darbietenden und so leicht zu gehenden als falsch befunden hat, durch Erfahrung gewitzigt ist und gesehn hat, daß man einen weitern Anlauf nehmen muß, als die weniger steilen Wege erfordern.
Daß also die spekulirende Vernunft erst allmälig und nach viel mißlungenen Versuchen, den rechten Weg einschlagen konnte, erklärt sich aus Folgendem.
Es ist ein Zusammenhang in der Geschichte der Philosophie und auch ein Fortschritt, so gut als in der Geschichte andrer Wissenschaften, obgleich man hieran zweifeln könnte, wenn man sieht, daß jeder neu auftretende Philosoph es macht, wie jeder neue Sultan, dessen erster Akt die Hinrichtung seiner Brüder ist, nämlich jeder neu auftretende Philosoph damit anfängt, seine Vorgänger zu widerlegen oder wenigstens abzuleugnen und ihre Sätze für null und nichtig zu erklären und ganz von Neuem anhebt, als ob nichts geschehen sei; so daß es ist wie in einer Auktion, wo jedes neue Gebot das frühere annullirt. Die Feinde aller Philosophie benutzen dies: sie behaupten, Philosophie sei ein völlig vergebliches Streben nach einem schlechterdings unerreichbaren Ziel: daher sei ein Versuch darin gerade so viel werth, als der andere, und nach allen Jahrhunderten noch gar kein Fortschritt gemacht worden; denn man höbe ja noch immer von Vorne an. In diesem Sinne ruft Voltaire aus: »O Metaphysik! wir sind grade so weit, als zur Zeit der Druiden!« – Solche entschiedene Feinde der Philosophie kann man nicht aus der Philosophie, die sie nicht gelten lassen, widerlegen, sondern nur aus der Geschichte, nämlich so: Wenn in der Philosophie noch nie etwas geleistet worden, noch kein Fortschritt gemacht worden und eine Philosophie grade so viel werth wäre, als die andere, so wären nicht nur Plato, Aristoteles und Kant Narren, sondern diese unnützen Träumereien hätten auch nie die übrigen Wissenschaften weiter fördern können: nun aber sehn wir durchgängig, daß zu jeder Zeit der Stand aller übrigen Wissenschaften, ja auch der Geist der Zeit und dadurch die Geschichte der Zeit ein ganz genaues Verhältniß zur jedesmaligen Philosophie hat. Wie die Philosophie eines Zeitalters beschaffen ist; so ist auch jedes Mal alles Treiben in den übrigen Wissenschaften, in den Künsten und im Leben: die Philosophie ist im Fortgang des menschlichen Wissens, folglich auch in der Geschichte dieses Fortgangs grade das, was in der Musik der Grundbaß ist; der bestimmt allemal den Ton und Karakter und den Gang des Ganzen: und wie in der Musik jede einzelne musikalische Periode oder Lauf dem Ton entsprechen und mit ihm harmoniren muß, zu welchem der Baß eben fortgeschritten ist: so trägt in jeder Zeitperiode das menschliche Wissen jeder Art durchweg das Gepräge der Philosophie, die zu solcher Zeit herrscht, und jeder Schriftsteller, worüber er auch schreibe, trägt allemal die Spuren der Philosophie seines Zeitalters. Jede große Veränderung in der Philosophie wirkt auf alle Wissenschaften, giebt ihnen einen andern Anstrich. Den Beleg hiezu giebt die Litterargeschichte durchweg. Daher ist jedem Gelehrten das Studium der Philosophie so nothwendig, wie dem Musiker das Studium des Generalbasses. Denn die Philosophie ist der Grundbaß der Wissenschaften. Auch nimmt man, wenn man die Geschichte der Philosophie im Ganzen überblickt, sehr deutlich einen Zusammenhang und einen Fortschritt wahr, dem ähnlich, den unser eigener Gedankengang hat, wenn bei einer Untersuchung wir eine Vermuthung nach der andern verwerfen, eben dadurch den Gegenstand mehr und mehr beleuchten, es in uns immer heller wird, und wir zuletzt bestimmt urtheilen, entweder wie sich die Sache verhält, oder doch wie weit sich etwas davon wissen läßt. So sehn wir auch in der Geschichte der Philosophie die Menschheit nach und nach zur Besinnung kommen, sich selbst deutlich werden, durch Abwege sich belehren lassen, durch vergebliche Anstrengung ihre Kräfte üben und stärken. Durch die Vorgänger wird Jeder, auch wenn er sie verläßt, belehrt, wenigstens negativ, oft auch positiv, indem er das Gegebene beibehält und meistens weiter ausbildet, wobei es oft eine ganz andere Gestalt erhält. So ließe sich also allerdings in der Geschichte der Philosophie eine gewisse Nothwendigkeit, d. h. eine gesetzmäßige,...