Ich will so werden, wie ich bin
»Laufstegverbot für Magermodels!« Waren Sie nicht auch ein wenig verblüfft, als Sie diese Schlagzeile lasen? Immerhin bedeutete das für ein Drittel aller Models auf den Madrider Modewochen das Aus. Was war geschehen? Politiker hatten sich endlich dazu durchgerungen, den Protesten und Empfehlungen der Verbraucherverbände nachzugeben, weil durch die klapperdürren Mannequins der Jugend ein völlig falsches Schönheitsideal vermittelt wird.
Tatsächlich hat sich die Zahl der Mädchen unter zehn Jahren, die an Magersucht und Bulimie leiden, allein in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren verachtfacht. Schon lange aber ist dieses Krankheitsbild nicht mehr nur ein rein weibliches Problem. Auch immer mehr Jungen und jugendliche Männer fühlen sich krankhaft zu dick – und sehen sich mit dieser Diagnose konfrontiert. Die von den Medien propagierten Ideale treiben immer mehr Menschen in einen Schlankheits- und Schönheitswahn, weil sie ihnen glauben machen, dass nur ein Mensch, der diesen Idealen entspricht, schön und damit gesellschaftlich akzeptiert ist.
Alle Altersgruppen sind betroffen – und eine ganze Industrie lebt von dieser Betroffenheit: Während junge Menschen sich zu Tode hungern, quälen sich Männer und Frauen mittleren Alters in Fitnessstudios, um »in Form« zu bleiben, wobei »Form« meint, den Idealen eines schönen und schlanken Körpers zu entsprechen. Wem das nicht hilft, der legt sich eben unters Messer. Schönheitsoperationen sind inzwischen salonfähig geworden und nicht selten die Bestimmung so mancher Sparkonten. Und wen die Zeichen der Zeit schließlich doch ereilen, der findet jede Menge entsprechender Produkte im Kosmetik-Regal. Anti-Aging ist das Zauberwort, denn nur wer jung ist, ist auch schön.
Während die Jahresumsätze der Kosmetikbranche und der Diätmittelindustrie kontinuierlich steigen und sich die Konten der Schönheitschirurgen füllen, werden die Menschen immer kränker. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Ungezählt sind die Momente der Selbstzweifel, des Gefühls von Unzulänglichkeit und der Depressionen, die Männer wie Frauen erleben, wenn sie sich im Spiegel unserer Gesellschaft betrachten, in der Jugendlichkeit und Schönheit mittlerweile zu den wichtigsten Idealen gehören. Der Vergleich mit diesen Idealen schmerzt viele Menschen – und treibt sie entweder in die Resignation oder aber in blinden Aktionismus und Konsumrausch.
Die etwas andere Schönheit
Doch es sieht so aus, als ob sich ein Wandel vollzieht. Das Laufstegverbot für Magermodels ist nur ein Zeichen für die Veränderung der Ideale, die unsere moderne Gesellschaft prägen. Längst hat auch die Abweichung vom Schönheitsideal Einzug in das Bewusstsein der Konsumenten gehalten, die sich von den immer höher werdenden Ansprüchen und Erwartungen unter Druck gesetzt fühlen und sich fragen: Wo bleibe ich dabei?
Wer bestimmt eigentlich, wann wir schön sind und wann nicht? Sind wir denn nicht auch schön, so wie wir sind? Wer sagt, dass wir unser Äußeres gewaltsam in eine Form pressen müssen, um akzeptiert zu werden? Wenn alle gleich aussehen – was hat das noch mit Schönheit zu tun?
Werbestrategen haben eine neue Zielgruppe entdeckt: Menschen, die sich nicht länger dem Diktat der Ideale unterwerfen wollen und sich mit ihren Ecken und Kanten, ihrer ganzen Individualität und Natürlichkeit wohlfühlen wollen – auch wenn das bedeutet, nicht den Idealmaßen zu entsprechen, hier ein Pfund zu viel und dort ein Fältchen zu haben. In Werbespots und auf Plakatwänden finden wir auf einmal Frauen, die so gar nicht den Normen makelloser Schönheit entsprechen, sondern »ganz normal« sind und gerade deshalb schön. Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es. Und genau das verkörpert diese neue Generation von Werbung. Sie entlastet uns vom Perfektionswahn, weil sie zeigt, dass Menschen schön sind, wenn sie genau so sind, wie sie sind. Sie vermittelt eine andere Schönheit, die nicht auf die Normierung äußerer Merkmale setzt, sondern neue Werte wie Unvollkommenheit und Anderssein in den Vordergrund rückt: Ich bin schön, weil ich besonders bin. Und genau an dieser Stelle begegnen wir Wabi Sabi.
Wabi Sabi ist keine neue Mode, kein neuer Trend, sondern eine jahrhundertealte fernöstliche Betrachtungsweise, die den wiederentdeckten Werten einer Schönheit entspricht, die sich die Natur zum Vorbild nimmt.
Wabi Sabi war eine Gegenbewegung zu den perfektionistischen Vorstellungen von Schönheit, wie sie seinerzeit im Reich der Mitte vorherrschten. Vielleicht entsteht bei uns gerade eine ähnliche Bewegung. Dabei können wir uns von den Prinzipien des Wabi Sabi stützen und inspirieren lassen. Wenn wir den gegenwärtigen Trend für uns nutzen, um neue Werte für unser Leben zu finden, in deren Mittelpunkt nicht Ideale stehen, die uns von außen übergestülpt werden, sondern das, was uns zu dem macht, was wir immer schon waren, dann haben wir möglicherweise die Chance, einen dauerhaften Wandel zu erreichen.
Wabi Sabi kann uns helfen, den Trend von den Plakatwänden zu holen und ihn zum Leitmotiv unseres alltäglichen Lebens werden zu lassen. Es zeigt uns, dass wir bereits alles in uns tragen, was wir benötigen, um uns schön und glücklich zu fühlen. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit nur endlich auf das richten, was wir wirklich brauchen. Dabei können wir Folgendes erkennen: Es genügt nicht, zu bleiben, wie wir sind – wir müssen endlich auch so werden, wie wir sind.
Die Schönheit der Vergänglichkeit
Der junge Sen no Rikyû war begierig darauf, alles über die Kunst des Teeweges, seine Zeremonien und Riten zu lernen, und wandte sich an Meister Takeno Jo-o. Der Meister wollte prüfen, ob Rikyû für diesen Weg geeignet sei, und schickte ihn in seinen Garten, um dort mit dem Rechen für Ordnung zu sorgen. Rikyû machte sich sogleich eifrig ans Werk und arbeitete den ganzen Tag, während Jo-o ihn heimlich dabei beobachtete. Als er seine Arbeit beendet hatte, betrachtete Rikyû sein Werk: Alles war sauber und makellos. Doch irgendetwas stimmte noch nicht. Da lief Rikyû zum Kirschbaum, der in voller Blüte stand, und schüttelte ihn, sodass vier oder fünf Blütenblätter herabfielen und sanft zu Boden glitten. Da wusste Jo-o, dass Rikyû dem Teeweg alle Ehre machen würde, und hieß ihn als seinen Schüler willkommen.
In einer anderen Geschichte befahl Toyotomi Hideyoshi Rikyû, den er zu seinem obersten Teemeister gemacht hatte, zu sich. Vor ihm stand eine flache goldene, mit Wasser gefüllte Schale, neben der ein einzelner Zweig mit roten Pflaumenblüten lag. Hideyoshi befahl Rikyû, beides zu ordnen. Er wusste wohl, dass das ohne weitere Hilfsmittel nicht möglich war. Doch Rikyû setzte sich und griff ohne zu Zögern nach dem Pflaumenzweig, streifte die Blüten ab und ließ sie auf die Wasseroberfläche fallen. Die auf dem Wasser schwimmenden Blütenblätter sahen wundervoll aus – und Hideyoshi musste erkennen, dass Rikyû ein wahrer Meister seiner Kunst war.
Das Herz von Wabi Sabi
In diesen beiden Geschichte ist das Herz von Wabi Sabi enthalten. Rikyû, der im 16. Jahrhundert den Teeweg mit der berühmten Teezeremonie entscheidend prägte, zeigt, wie der Augenblick durch das Unvollkommene und Zufällige eine unverwechselbare Gestalt bekommt. Schönheit liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Einzigartigkeit. Erst die Blütenblätter auf dem perfekt geordneten Garten machen ihn zu etwas Besonderem. Vielleicht wird der nächste Wind sie wieder fortwehen, aber der Augenblick ihres Anblicks zählt und macht ihn zu einer individuellen Erfahrung. Auch die Blütenblätter in der goldenen Schale werden sicherlich bald untergehen und verschwinden. Doch genau das macht den Moment ihres Anblicks so kostbar. Diese Schönheit im Angesicht des nicht aufzuhaltenden Wandels der Welt ist das Geheimnis von Wabi Sabi.
Wir leben in einer Zeit und Kultur, in der wir dem Einzigartigen und Unwiederbringlichen kaum mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir an Schönheit denken, dann haben wir keine Bilder von der Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Unser Schönheitsverständnis ist geprägt von allem, was neu und makellos ist. Qualität verbinden wir damit, dass Gegenstände möglichst lange so aussehen wie an dem Tag, an dem wir sie gekauft haben. Spuren der Zeit werten einen Gegenstand in unseren Augen ab, und deshalb versuchen wir sie zu vermeiden: unsere Autos dürfen keine Kratzer haben, die Farbe unserer Kleidung muss immer leuchten wie neu, Flecken müssen entfernt werden, und wenn ein Gegenstand sich gar nicht mehr in dieses Schönheitsideal einfügt, dann werfen wir ihn eben weg und kaufen einen neuen.
Das Bewusstsein der Vergänglichkeit
Die Vorstellung, dass nur das Vollkommene und Neue schön sein kann, haben wir auch auf uns Menschen übertragen. Das Ergebnis ist der Jugendwahn, der unsere Gesellschaft derzeit erfasst hat, und der Schönheitskult, der schon junge Menschen bestimmten Idealen unterwirft. Alt werden, Falten zu bekommen – das gilt als großer Verlust. Nicht den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen, zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein sein – das führt zum Gefühl von Minderwertigkeit. Wer nicht jung und schön ist, der fühlt sich schnell ausgeschlossen. Doch natürlich muss sich niemand mit seinem Schicksal abfinden. Wir haben Technologien entwickelt, um auch den unvollkommenen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich an die Idealvorstellungen anzunähern: wir können unser Geld in teure Kosmetik und...