Wahrnehmung aus philosophisch-theologischer Sicht
Thomas Waldeck
Zusammenfassung
Die christliche Theologie ist die „Wissenschaft von Gott“, von dem Gott, der „Grund allen Seins“ ist, der Gott, der als die umfassende Wirklichkeit gedeutet werden kann. Gottes Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Menschen sind nicht voneinander zu trennen.
Eine Verständigung über die Wirklichkeit und damit über Gott kann aber nur im Kontext der Wahrnehmung erfolgen. Wirklichkeit ist nicht nur einfach da, sie muss wahrgenommen und gedeutet werden. Theologie ist deswegen auch zentral „Wahrnehmungs“-Wissenschaft. Als Wahrnehmungswissenschaft ist die Theologie grundsätzlich interessiert an dem Phänomen der „Wahrnehmung“, wie es im philosophischen, biblischen und weltreligiösen Kontext erscheint.
In dem vorliegenden Artikel sollen die Voraussetzungen von „religiöser“ Wahrnehmung geprüft, Wahrnehmungsspuren Gottes in der christlichen Bibel entdeckt, aber auch die Welt- und Selbstwahrnehmung erörtert werden. Dabei wird erhofft, dass die theologischen Wahrnehmungsmodelle dazu verhelfen, Alltagswirklichkeit tiefer zu verstehen und zu „transzendieren“. Ein kleiner Blick in die Wahrnehmungsmodelle der Religionen und mögliche Schlussfolgerungen für die sozialpädagogische Arbeit schließen sich an.
1 Zur Einführung: Die Religion, die Musik, die Menschen und die Wahrnehmung
Zweimal hat Jürgen Habermas sich öffentlich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, einmal in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Deutschen Friedenspreises 2001 und zum anderen Mal in den öffentlich ausgetragenen Gesprächen mit Kardinal Joseph Ratzinger im Jahr 2004. Habermas, einer der großen Intellektuellen unserer Zeit, knüpft mit seinem Stichwort der religiösen Unmusikalität an Max Weber an:
„Denn ich bin zwar religiös absolut ‚unmusikalisch‘ und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit irgendwelche seelischen ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters in mir zur errichten – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin, nach genauer Prüfung, weder antireligiös noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden, aber […] auch nicht als einen Baumstumpf, der hie und da noch auszuschlagen vermag, mich als einen vollen Baum aufzuspielen. Aus dieser Attitüde folgt viel […].“1
Mit seinem Bekenntnis ist Habermas nicht allein: Menschen treten der Religion ablehnend, vor allem aber neutral entgegen. In einer säkularen Gesellschaft wird Religion vielfach nicht mehr als Deutungsmöglichkeit des Lebens, nicht nur des eigenen, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens und Miteinanderlebens, angesehen. Die religiösen Angebote (Vorträge, Seminare, Gottesdienste, Feiern) der unterschiedlichen religiösen Gruppen sind schlicht unbedeutend, sie spielen im eigenen Lebenskontext keine Rolle. Ohne innere Rührung, ohne dass ein Gefühl wachgerufen wird, ohne dass ein Zusammenhang mit dem je eigenen Lebenskontext hergestellt werden kann, werden Plakatankündigungen einer religiösen Gruppe, kirchliche Fernsehsendungen oder religiöse Bücher in der Auslage einer Buchhandlung betrachtet. Sie sind da, gehören „irgendwie“ in unsere Gesellschaft hinein, aber für den „religiös Unmusikalischen“ sind sie unwichtig, unbedeutend, manchmal störend und verletzend. Der religiös Unmusikalische begegnet den religiösen Deutesystemen mit Ablehnung, Ignoranz und Widerstand, Gründe dafür können und wurden immer wieder zur Genüge benannt („Macht der Kirche“ und „Hierarchie“, „Gräueltaten“, „Missionierung“ und die „Kreuzzüge“ gehören zu den häufig genannten Gründen).
Die sachliche und differenzierte Auseinandersetzung, das offene Gespräch, das Ringen um Verständnis, das sich selbst in-Frage-Stellen – und eben nicht die Ignoranz oder die wie auch immer begründeten (Vor-)Urteile – sind aber eine wichtige Voraussetzung, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Beschäftigung mit der religiösen Wahrnehmung ist insbesondere für die/den Sozialpädagogin/en, die/der in seinem Arbeitsbereich mit den unterschiedlichsten Menschen verschiedener Milieus, eben auch religiöser Milieus zusammentrifft, eine Verstehenshilfe. Im Jahr 2010 erschien eine Biographie von Mahatma Gandhi, geschrieben von einem Enkel des großen Pazifisten. Arun Gandhi erzählt dort:
„Seine respektierende Haltung (Gandhis) gegenüber allen Glaubensrichtungen hat seine Wurzeln in der Umgebung, in der er aufgewachsen ist. Seine Eltern luden regelmäßig Vertreter verschiedener Religionen ein, um an einem freundlichen und offenen Gespräch in ihrem Haus teilzunehmen, damit alle voneinander lernen konnten. … Diese Versammlungen waren keine Diskussionen oder vergleichende Studien. Obwohl der Blick eines Jeden auf die Welt immer durch die Brille getönt ist, die er trägt, haben diese Gespräche dennoch geholfen ein tieferes Verstehen anderer religiöser Praktiken und eine respektvolle Beziehung unter Anhängern verschiedener Glaubenssysteme zu fördern.
Großvater hat zugegeben ein frühes Vorurteil gegenüber dem Christentum gehabt zu haben. Als Kind hatte er oft übereifrige Missionare getroffen, die an indischen Straßenecken standen und den Hinduismus als Aberglauben rügten. In dem Alter, sagte er, entfachte das seine Wut und er lehnte das Christentum vollständig ab. Er hätte sein ganzes Leben mit diesem Vorurteil verbringen können, aber später hat er erkannt, dass es gefährlich ist, etwas aus Wut abzulehnen.
Als Erwachsener hat er das Christentum mit einer offenen Einstellung studiert, genau wie er alle anderen Religionen studiert hat. Er hat den Schluss gezogen, dass keine Religion vollkommen ist – keine hat Antworten auf alle leidigen Fragen, die uns beschäftigen. Für Großvater bedeutete das nicht, dass wir unsere ursprüngliche Religion ablehnen sollten, weil sie nicht perfekt ist. Er war der Meinung, dass wir die Offenheit kultivieren sollten, die Wahrheit in allen zu suchen und dann das Gute in unsere eigene Religion einzubinden. Wenn wir aus anderen Traditionen und Kulturen Teile nehmen, mindern wir nicht den eigenen Glauben: wir erweitern ihn. Wenn diese Philosophie in Bildung, Wissenschaft und vielen weiteren Lebensbereichen anerkannt ist, warum sollte sie nicht auch für die Religion gelten?“2
Mit dem Beitrag „Religiöse Wahrnehmung“ in diesem Band soll für die Studierenden der Sozialen Arbeit ein Fenster geöffnet werden, die religiöse Wahrnehmung als eine von vielen Möglichkeiten der Welt- und der Selbstbetrachtung in ihr Studium mit aufzunehmen. Die religiöse Wahrnehmung ist eine besondere Brille, durch die geschaut, etwas anderes zu sehen ist als mit der soziologischen, der naturwissenschaftlichen, der juristischen oder der pädagogischen Brille. Mit der religiösen Brille schaut der Betrachter über sich selbst, über die Welt hinaus, er schaut auf Transzendenz.
Bevor von religiöser Wahrnehmung gesprochen werden kann, ist zu fragen, was „religiös“ bedeutet, in welchem Zusammenhang von „Religion“ und damit von „religiös“ gesprochen wird. Die Religionsdefinitionen umfassen sowohl funktionalistische (hier vor allem soziologische, philosophische oder ethnologische Begriffsbestimmungen, wie sie etwa von Niklas Luhmann, Hermann Lübbe, Volkhard Krech, Joachim Matthes und vielen anderen vorgetragen werden) als auch substantielle Deutungen. In der funktionalistischen Religionsdefinition wird Religion (meist in ihrer institutionellen Ausprägung) im Blick auf die Gesamtgesellschaft und den Einzelnen definiert: Religion wird damit als kulturelles Phänomen beschrieben und erfasst. Die Transzendenz, Offenbarungen, die Götter und die Himmel sind in der Regel nicht Untersuchungsgegenstand funktionalistischer Religionstheorien.
Demgegenüber gehen theologische oder substantielle Religionsdefinitionen aus von der Religion als grundsätzliche Erfahrung mit dem Transzendenten. Für den christlichen Bereich sind insbesondere Friedrich Schleiermacher oder Karl Barth als sich widersprechende Kontrahenten zu nennen:
Nach Schleiermacher ist Religion das staunende Anschauen des Unendlichen, die Verbindung des Endlichen mit dem Unendlichen, die schlechthinnige Abhängigkeit des Menschen von Gott: „Eben dies ist nun vorzüglich gemeint mit der Formel, daß Sich-schlechthin-abhängig-Fühlen und Sich-seinerselbst-als-Beziehung-mit Gott-bewusst-Sein einerlei ist, weil nämlich die schlechthinnige Abhängigkeit die Grundbeziehung ist, welche alle anderen in sich schließen muß.3
Schleiermacher nimmt eine Seinsstruktur an, in der Gott als selbstverständliche Setzung eingeschlossen ist, nicht als Teil der Welt, sondern als Schöpfer und Gegenüber der Welt, und doch als Teil der umfassenden Wirklichkeit des Seins. Dessen sind wir uns in unserem Fühlen schlechthin bewusst und damit schlechthin abhängig von Gott. Religion ist nicht eine Setzung des Bewusstseins oder des Gefühls selbst, sondern es ist eine Setzung des Seins-Selbst, die uns im „Gefühl“ als schlechthinnige Abhängigkeit entgegentritt. Schleiermacher geht es also um eine systemtheoretische Verschränkung von Immanenz und Transzendenz, die als Grundbeziehung gegeben ist.
Nicht nur die Zeitgenossen Schleiermachers, sondern vor allem Karl Barth kritisieren dieses Konzept des Ineinanders von...