Einleitung
Hexen hat es immer schon gegeben. Seit Tausenden von Jahren finden wir sie in Gesellschaften und Überlieferungen überall auf der Welt. Von Circe bis zu Hermine, von Morgan le Fay bis zu Marie Laveau gibt es die Hexe immer schon in den Erzählungen von Frauen mit seltsamen Kräften, die schaden oder heilen können. Und obwohl Menschen jedes Geschlechts als Hexen angesehen wurden, wird dieses Wort heutzutage nur in Verbindung mit Frauen benutzt.
In der Geschichte war sie meistens jemand, den man fürchten musste, eine unheimliche Andere, die unsere Sicherheit bedroht oder die Realität für ihre eigenen launenhaften Zwecke manipuliert. Sie ist ein Paria, eine Persona non grata, eine böse Frau, die man besiegen und ausrotten muss. Doch obwohl sie oft als zerstörerisch angesehen wurde, ist die hexenkundige Frau in Wirklichkeit eher Ziel von Angriffen gewesen, als dass sie selbst Gewalt angewendet hätte. Wie andere »angsteinflößende« Außenseiter spielt sie im kulturellen Bewusstsein eine paradoxe Rolle, ist gefährlicher Angreifer und verletzliches Opfer zugleich.
Doch in den letzten hundertfünfzig Jahren ist der Hexe ein weiterer Zaubertrick gelungen. Sie hat sich von einer Schreckensgestalt in eine inspirierende Figur verwandelt. Mittlerweile kann sie sowohl die gute Heldin in unserer Lieblingsserie sein als auch die Böse. Sie ist vielleicht deine Wicca-Kollegin oder die gefeierte Sängerin, die in Videos oder auf der Bühne ihre Hexenkünste zeigt.
Sie kann auch Du sein, und diese »Hexe« ist eine Identität, die du aus allen möglichen Gründen übernommen hast – aus vollem Herzen oder aus einer Laune heraus, öffentlich oder privat.
Heute wählen mehr Frauen denn je den Weg der Hexe, im buchstäblichen wie auch im symbolischen Sinn. Sie gleiten über Catwalks und Bürgersteige in fließenden, schwarzen Gewändern, schmücken sich mit Pentagrammen und Kristallen, die von Pinterest stammen könnten. Sie füllen die Kinos und schauen sich Hexenfilme an, versammeln sich in Hinterzimmern und Gärten, um Rituale durchzuführen, Tarotkarten zu konsultieren und lebensverändernde Absichten zu erklären. Sie marschieren durch die Straßen mit »Verhext das Patriarchat«-Plakaten und versuchen mindestens einmal im Monat, den diensthabenden Polizisten mit Zaubersprüchen gefügig zu machen. Jedes Jahr stoßen wir auf Artikel mit der Überschrift »Es ist Hexen-Saison«, wenn Journalisten wieder einmal versuchen, aus dem Hexentrend schlau zu werden.
Und hinter all dem steht die Frage: Warum?
Warum sind Hexen wichtig? Warum sind sie gerade jetzt scheinbar überall? Was genau sind sie eigentlich? (Und warum zum Teufel verschwinden sie nicht wieder?)
Man sollte meinen, dass ich kurz und bündig darauf antworten könnte, nachdem ich mich ein Leben lang mit Hexen beschäftigt und darüber geschrieben habe. Außerdem habe ich auch einen Podcast, in dem es um Hexen geht, und ich praktiziere selbst die Hexenkunst.
Stattdessen jedoch stelle ich fest, dass Hexen immer komplexer werden, je mehr ich mich damit beschäftige. Hexen sind schwer zu packen: Wenn du sie festnageln willst, ziehen sie sich immer tiefer in den dunklen Wald zurück.
Doch eines weiß ich mit Sicherheit: Zeig mir deine Hexen, und ich zeige dir, was du von Frauen hältst. Es ist kein Zufall, dass der Feminismus wiederauflebt, seit Hexen beliebter geworden sind: Die beiden reflektieren einander.
Die aktuelle Hexenwelle ist nichts Neues. In den 1990er-Jahren war ich ein Teenager. Es war das Jahrzehnt, das Buffy – Im Bann der Dämonen, Charmed – Zauberhafte Hexen und Der Hexenclub hervorgebracht hat, ganz zu schweigen von den Riot Grrrls und den Dritte-Welle-Feministinnen, die mir beibrachten, dass weibliche Kraft sich in vielen Farben und Sexualitäten zeigen kann. Ich lernte, dass Frauen mit Lippenstift und Kampfstiefeln – und manchmal sogar mit einem Umhang – eine Revolution führen konnten.
Mein eigenes Erwachen als Hexe hatte jedoch schon viel früher stattgefunden.
Morganville, New Jersey, wo ich aufgewachsen bin, war ein Vorort, der jedoch damals zugleich so ländlich war, dass es auch unberührte Natur gab. In unserem Garten befand sich ein kleines Waldstück, das an einen Pferdehof grenzte, und die beiden Grundstücke waren getrennt durch einen kleinen Bach, den wir mittels einer Holzplanke überqueren konnten. Als wir klein waren, wagten meine ältere Schwester Emily und ich uns manchmal auf die andere Seite, wo wir die Pferde füttern (was mir bis heute Angst einflößt) und dicke Kleesträuße pflücken konnten. Aber die meiste Zeit verbrachten wir auf unserer Seite des Bachs, im dunklen Schatten der Bäume, unserem persönlichen Wald. In einer Ecke des Gartens bildete sich immer, wenn es regnete, eine riesige Pfütze, an deren Rand Farne wuchsen. Wir nannten diese Stelle unseren Magischen Ort. Dass er von Zeit zu Zeit verschwand und dann erneut auftauchte, trug nur zu seinem Geheimnis bei. Es war ein Portal ins Unbekannte.
In diesen Wäldern praktizierte ich zum ersten Mal Magie – ich war so in mein Spiel versunken, dass aus Fantasie Realität wurde. Stundenlang hielt ich mich dort auf, erfand Rituale mit Steinen und Stöcken, zeichnete geheime Symbole in den Staub und verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Der Ort fühlte sich heilig und wild an, doch auch seltsam sicher.
Je älter wir werden, desto mehr werden wir dazu angehalten, unsere Köpfe nicht länger mit solchem »Unsinn« zu füllen. Einhörner werden gegen Barbiepuppen eingetauscht (obwohl beide ganz bestimmt mythische Geschöpfe sind). Wir verlieren unsere Zahnfeen, entfernen uns von unseren Zauberern. Drachen werden auf dem Altar der Jugend geopfert.
Die meisten Kinder wachsen aus ihrer »magischen Phase« hinaus. Ich wuchs tiefer in meine hinein.
Meine Oma Trudy war Bibliothekarin in der West Long Branch Library, sodass ich zahlreiche Nachmittage zwischen den Bücherreihen verbrachte, über Bigfoot, Trauminterpretation und Nostradamus las. Stundenlang hockte ich in meinem Zimmer, lernte alles über Hexen und Göttinnen und liebte alle Bücher von Autoren wie George MacDonald, Roald Dahl und Michael Ende – Schriftsteller, die die Sprache der Verzauberung beherrschten. Bücher waren mein Besen. Sie erlaubten mir, in andere Reiche zu fliegen, in denen alles möglich war.
Mein absolutes Lieblingsbuch war Junipers Hexenkind von Monica Furlong, die Geschichte eines jungen Mädchens, das von Juniper, einer lieben, wunderschönen Hexe, die auf einem Hügel im schottischen Hochland lebt, aufgenommen wird. Die Einheimischen fürchten Juniper, weil sie nicht ihre Religion praktiziert und weil sie als Frau alleine wohnt. Sie lehrt das Hexenkind, das sie liebt wie eine Mutter, Naturmedizin und Magie. Die Dorfbewohner kommen nur heimlich zu ihnen, wenn sie Heilung suchen, aber in der Öffentlichkeit werden Juniper und das Hexenkind gemieden. Hexen, so erfuhr ich aus dem Buch, sind komplizierte Geschöpfe, die großen Trost geben und großen Schrecken verbreiten können. Und ganz gleich, wie gut eine Hexe ist, oft wurde sie – im besten Fall – Ziel von Missverständnissen und – im schlimmsten Fall – von Verfolgung.
Die Hexe lebt immer gefährlich. Und doch hält sie durch.
Obwohl fiktionale Hexen meine ersten Lehrerinnen waren, entdeckte ich bald, dass Magie auch etwas Reales war. Ich ging in Esoterik-Läden und experimentierte mit Zaubersprüchen aus Taschenbüchern aus dem Einkaufszentrum. Ich bin jüdisch erzogen worden, fühlte mich aber eher von Glaubenssystemen angezogen, die sich individueller und mystischer anfühlten und das Weibliche verehrten. Schließlich fand ich meinen Weg zum modernen Paganismus, einem spirituellen Pfad, dem ich bis heute folge. Ich bin nicht die Einzige, die von einer organisierten Religion zu etwas Persönlicherem übergetreten ist: Heute, im September 2017, sagen laut Pew Research Center mehr als ein Viertel der amerikanischen Erwachsenen – 27 Prozent – von sich, sie seien spirituell, aber nicht religiös.
Jetzt identifiziere ich mich sowohl als Hexe, als auch mit dem Archetyp der Hexe, und ich verwende den Begriff fließend. Ich könnte zum Beispiel das Wort Hexe benutzen, um meinen spirituellen Glauben, meine übernatürlichen Interessen oder meine Rolle als komplexe, dynamische Frau in einer Welt zu bezeichnen, in der Frauen am liebsten lächelnd und still gesehen werden. Ich benutze es gleichermaßen aufrichtig und vorsichtig: mit einer Verbeugung vor der reichen und oft schmerzlichen Geschichte der Hexenkunst auf der ganzen Welt, und augenzwinkernd anderen Mitgliedern unserer gar nicht so heimlichen Gesellschaft von Leuten gegenüber, die für die Freiheit kämpfen, so merkwürdig und wundersam zu sein, wie wir wollen. Magie entsteht am Rand der Gesellschaft.
Um das noch einmal zu betonen: Du brauchst keine Hexenkunst zu praktizieren oder irgendeine andere Form der Spiritualität, um deine innere Hexe zu wecken. Vielleicht gefallen dir ihr Symbolismus, ihr Stil oder ihre Geschichten, aber du brauchst nicht gleich loszurennen, um einen Kessel zu kaufen oder den Himmel anzusingen. Vielleicht...