Waldbaden heißt die Sinne öffnen
Unsere Sinne öffnen uns das Tor zur Welt. Sehen, hören, riechen, tasten und fühlen – all die Eindrücke, die über sie vermittelt werden, haben einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Lebensqualität. Durch sie erleben, bewerten und gestalten wir alles, was uns umgibt, und uns selbst. Je feiner unsere Sinne sind, desto intensiver und klarer erleben wir die Welt und alles, was in ihr geschieht. Alle Impulse erweitern auch unseren Horizont, wir lernen durch sie, entwickeln neue Gedanken und können uns durch sie weiterentwickeln. Sinne, die wir vernachlässigen, können sich nicht entfalten, sie entwickeln sich zurück. Das kann dazu führen, dass unsere Wahrnehmung verarmt und damit auch unser Leben ein Stück ärmer wird. Dabei ist jeder Sinn gleichwertig und Zeugnis unserer Lebendigkeit. Unbewusst und immerfort bedienen wir uns unserer Sinne, ohne uns ihr Funktionieren jedes Mal bewusst zu machen. Der Hirnforscher Gerald Hüther schreibt in seinem Vorwort zu Richard Louvs Werk Das letzte Kind im Wald?: „Der Mensch ist Natur: Unser Sinnesapparat ist dafür geschaffen, mit der Natur in direktem Kontakt zu stehen, und wir sind sowohl körperlich als auch kognitiv und psychisch an das Leben in der Natur angepasst. Natur ist auch im Informationszeitalter für den Menschen immer noch so essenziell wie gesunde Ernährung.“
Die über die Sinne gewonnenen Informationen – in der Wissenschaft nennt man dies Perzeption – werden von unserem Gehirn gesammelt, verarbeitet und mit dem abgeglichen, was wir bereits als Erfahrung gespeichert haben. Unsere Wahrnehmung ist daher immer eine Kombination aus im Moment aufgenommenen Impulsen und der Ergänzung mit bereits verarbeiteten Informationen. Vielleicht kennst du das: Manchmal siehst du etwas, was sich auf den zweiten Blick als etwas völlig anderes entpuppt. Die Konstruktion, die unser Gehirn aus verschiedenen Informationen zusammenbaut, kann also von uns fehlinterpretiert werden, ist aber der einzige Weg, die Tausenden Reize am Tag zu verarbeiten, ohne verrückt zu werden.
Wenn du deine Sinne schärfst – und du kannst sie genauso trainieren wie dein Gedächtnis oder deine Muskeln –, fällt es dir leichter, unterschiedliche Impulse zu filtern, klarer zu bewerten und wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen. Eine bessere Wahrnehmung vertieft dein (Er-)Leben und macht dich feinfühliger. Schärfere Sinne können so einen echten Vorteil auch in deinem Alltag darstellen und damit deine Lebensqualität steigern. Entscheidend dafür ist allerdings, dass du dein Umfeld und deine Mitmenschen achtsam und bewusst wahrnimmst. Dies ist nur möglich, indem du Ablenkungen so gut wie möglich ausschließt. Bei einem Waldbad steht dir genau eine solche ruhige und reizarme Umgebung zur Verfügung. Sie ist der ideale „Trainingsort“ für deine Sinnesschule.
Deine Augen empfangen unterschiedliche Lichtverhältnisse, zumeist nicht zu dunkles, nicht zu helles Dämmerlicht.
Der Geruchssinn nimmt neue Eindrücke wahr wie zum Beispiel den Geruch von Holz und Erde.
Du hörst Geräusche wie Vogelstimmen, das Rascheln der Blätter oder das Plätschern eines Baches.
Mit den Nervenenden in den Fingern oder nackten Füßen kannst du Naturmaterialien erspüren (Blätter, Rinde, Wurzeln).
Dein Geschmackssinn wird zum Beispiel durch das Probieren von Beeren angesprochen.
Der Sehsinn – Chef im Ring
Unsere Augen sind wie tiefe Brunnen, in denen sich die Seele spiegelt. An diesen Sinnesorganen erkennst du schnell die Stimmungslage deines Gegenübers. Augen können lachen, weinen und beides auch gleichzeitig.
Der Sehsinn ist der dominante Sinn unserer Wahrnehmung: 80 Prozent der Informationen, die unser Gehirn erreichen, sind visueller Natur. Beim Sehen werden zwei Sichtweisen kombiniert: das zentrale und das periphere Sehen. Richtet sich der Blick bewusst auf einen Gegenstand, so fokussiert das Auge automatisch und wir sehen scharf. Zugleich wird unbewusst das Seitenblickfeld gescannt. Erkennt die Peripherie Gefahr oder etwas Interessantes, so schaltet das Gehirn das zentrale Sehen ein. Dadurch wird Sehen als Einheit erst möglich. Raum und Perspektive können erfasst, Farben gesehen, hell und dunkel unterschieden und Bewegungen erkannt werden. Nur wenn wir beide Sehweisen benutzen, schöpfen wir unser Sehpotenzial aus. Tun wir das nicht, kommt es zu Beeinträchtigungen unserer Sehfähigkeit. Um das periphere Sehen zu trainieren, sind Waldbäder mit ihrer Kombination aus Bewegung und frischer Luft optimal. Außerdem kann man hier wunderbar das In-die-Ferne-Sehen und Scharfstellen üben.
Ich integriere gern entspannende Augenübungen in meine Waldbaden-Seminare. (Einige findest du in diesem Buch ab
Seite 130ff.) Auch Entspannungsübungen für den Nacken helfen dabei, die Sehkraft zu erhalten und zu stärken. Der Nacken ist besonders wichtig für das Sehen, denn das Sehzentrum befindet sich im Hinterkopf. Das heißt, ein verspannter Nacken, durch den die wichtigsten Nervenstränge, Adern und Venen in den Kopf gehen, verursacht häufig Sehprobleme.
Denn „nur entspannte Augen mit vollkommen entspannten inneren und äußeren Augenmuskeln können gut sehen“, wie der Erfinder des gleichnamigen Augentrainings, William Bates (1860 – 1931), betonte. Verspannungen äußern sich auch auf anderen Ebenen: Die beiden Augäpfel sind durch sechs äußere Sehmuskeln mit dem Körper verbunden. Hier findet der Augenstoffwechsel statt. Sind die Muskeln verspannt, stört dies den Stoffwechsel der Augen und damit ihre Kraft. Auch zwischen Kiefer und Augen befinden sich Nervenverbindungen, ein verspannter Kiefer schränkt unser Gesichtsfeld ein.
WOHLTAT FÜR DIE AUGEN
Die Sehkraft der Netzhautzellen regeneriert bei Dunkelheit – deshalb Dunkelpausen einbauen (siehe Seite 95). Lebendigkeit und Bewegung an der frischen Luft, Licht und Sonne und viel frisches Grün helfen gegen Frühjahrsmüdigkeit – aber auch gegen Müdigkeit der Augen.
Ein Zusatznutzen des Waldbadens ist die Entspannung für unsere Augen. Endlich können sie einmal in die Ferne schauen, dann auch wieder fokussieren. Diese Abwechslung tut ihnen gut.
Wenn du gerade nicht im Wald unterwegs bist, versuche auch vom Schreibtisch aus, immer wieder nach draußen in die Ferne und ins Grüne zu schauen, wenn das denn möglich ist.
Unermüdlich – der Hörsinn
Von dem deutschen Mediziner und Naturforscher Lorenz Oken (1779-1851) stammt das Zitat: „Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ Tatsächlich ist unser Hörsinn stets auf Empfang und lässt sich nicht ausschalten. Er ist auch der erste Sinn, der sich beim Kind entwickelt, und zugleich dertdifferenzierteste unserer Sinne. Das Ohr verarbeitet mehr als doppelt so viele Sinneseindrücke wie das Auge. Der Hörsinn ist einer der ausgeprägtesten und zugleich am wenigsten erforschten Sinne. Dabei ist Hören Grundlage der Kommunikation, des Lernens und Verstehens. Außerdem beherbergt es den Gleichgewichtssinn. Wir bestimmen damit unsere Position im Raum und können ausmachen, aus welcher Richtung Geräusche kommen. Wir können uns selbst auf ein Gespräch in einer lauten Umgebung konzentrieren und filtern nur die Klänge heraus, die für uns wichtig sind. Unser Gehör leistet Außerordentliches. Anders als die Augen, die wir einfach schließen, wenn wir müde sind oder sie schonen möchten, können wir unsere Ohren nicht schließen. Die Ohren schlafen nie, sie sind 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche geöffnet für alle Eindrücke, die sich über Lautstärke vermitteln lassen. Wenn wir dauerhaftem Lärm ausgesetzt sind, kann das zu Befindlichkeitsstörungen wie Unwohlsein, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und sogar zu Erkrankungen wie erhöhtem Blutdruck, Herz-Kreislauf-Problemen oder psychosomatischen Störungen führen. Deshalb ist es so wichtig, deinen Ohren mal eine Pause zu gönnen. Beim Waldbaden erlebst du einen ganz anderen sanften Geräuschteppich, bei dem du dich wunderbar auf einzelne Laute konzentrieren kannst. Gönne dir regelmäßige Auszeiten vom Alltagslärm, deine Ohren und auch deine Psyche werden es dir danken.
Der Geruchssinn
Er ist der unmittelbarste unserer menschlichen Sinne. Während visuelle, akustische oder haptische Signale erst in der Großhirnrinde des Gehirns verarbeitet werden müssen, wirken Düfte im Gehirn direkt auf das limbische System, wo Emotionen verarbeitet und Triebe gelenkt werden. Wenn man zum ersten Mal einen Raum betritt oder einen unbekannten Menschen trifft, ist es in der Regel der Geruchssinn, der einem den ersten Eindruck verschafft. Zudem ist unsere Erinnerung eng mit Düften und Gerüchen verknüpft. Ein Geruch kann einen urplötzlich in eine lange zurückliegende und längst vergessene Situation zurückversetzen, in der man ihn zum ersten Mal wahrnahm.
Der Geruchssinn lässt sich gut trainieren, da die Riechsinneszellen sich alle 30 Tage erneuern. Es ist sinnvoll, den Geruchssinn ein wenig zu fordern, denn dadurch regen wir die Gehirnaktivität an (auch den Hippocampus, der für unser Gedächtnis zuständig ist), und die Geruchsinformationen können vom Gehirn immer besser ausgewertet werden. Eine „feine“ Nase ist auch an jedem Geschmackserlebnis beteiligt und steigert somit ganz allgemein die Lebensqualität. Außerdem werden auch Gefahren schneller und besser erkannt. Im Alter geht der Geruchssinn immer mehr verloren...