3. Die Wallfahrt nach Wasserleben ab 1231
3.1 Der Harz als ‚Wallfahrtslandschaft’
Der Harz gilt nicht als die typische „’Wallfahrtslandschaft’“[451] im deutschen Raum, jedoch pilgerten die mittelalterlichen Bewohner des Harzgebietes nicht nur zu den berühmten Pilgerstätten, wie zum Beispiel Palästina[452]. „[S]ie fanden auch in ihrer engeren Heimat zahlreiche, z. T. weitberühmte Wallfahrtsstätten, die sich großer Beliebtheit erfreuten und selbst aus weiter Ferne besucht wurden“[453]. Noch heute erinnern Orts- und Flurnamen an Stätten in der Umgebung Wernigerodes, zu denen gepilgert wurde[454].
Als Ansatzpunkte zur Rekonstruktion dieser Wallfahrtslandschaft schlägt Hartmut Kühne vor, die testamentarisch verfügten Pilgerfahrten und die Pilgerzeichen zu untersuchen[455]. Allerdings birgt dieses Vorgehen Probleme, denn „dieser Weg setzt die Kenntnis der in den Legaten gemeinten Ziele und der Herkunftsorte der Pilgerzeichen voraus“[456]. Wenn die aufgefundenen Pilgerzeichen zum Beispiel schlecht lesbar sind oder ein Wappen nicht mehr erkennbar ist, ist es notwendig die Kultorte in der Umgebung zu kennen, um die Pilgerzeichen anhand ihrer Ikonographie zuordnen zu können[457].
„Wie es aber um diese notwendigen Vorkenntnisse in der Forschung bestellt ist, zeigt die Kartierung der um 1500 im römisch-deutschen Reich bestehenden Wallfahrtstätten (‚shrines’), die der kanadische Historiker Lionel Rothkrug 1979 publizierte“[458]. Aus dieser Karte lassen sich vor allem Rückschlüsse auf die Forschungssituation des deutschen Gebiets ziehen[459]. Sie zeigt, „welches historische Wissen über religiöse Mobilität im spätmittelalterlichen Deutschland ohne größere Mühe bibliographierbar ist“[460].
Acht der ein wenig mehr als 1000 aufgeführten Wallfahrtstätten liegen im Gebiet des Harzes. Dies sind Aschersleben, Braunschweig, Germershausen, ein Hülfensberg bei Göttingen, Königslutter, der Nikolausberg bei Göttingen und die Klöster Wasserleben bei Wernigerode sowie Walkenried bei Blankenburg.
Für die unterschiedlichen Gebiete des Harzes lässt sich festhalten, dass es dort immer eine „Reihe von Kirchen und Kapellen mit jahrmarktsähnlichem Kirchweihfest, Votivgaben und dem Besuch durch gruppenweise ‚Prozessionen’“[461] gab. Allerdings gab es vermutlich auch jeweils Orte, die als ‚echte’ Wallfahrtstätten gelten können und unterschiedlich große Einzugsgebiete hatten.[462] Hartmut Kühne merkt hierzu an, dass nur die Orte Braunschweig, Königslutter, der Nikolausberg und Wasserleben ohne weiteres als ‚echte’ Wallfahrtsorte gelten können[463].
3.2 Wasserleben als Wallfahrtsort
Eduard Jacobs berichtet von acht Wallfahrtstätten in der Grafschaft Wernigerode, (a)ber nur im Fall des Klosters Wasserleben mit seiner Heilig Blut-Kapelle wird man von einem Wallfahrtsort sprechen dürfen“[464].
3.2.1 Literatur zur Wallfahrt nach Wasserleben
Die Wallfahrtsforschung, die sich mit dem Harzgebiet beschäftigt, ist auf „die Suche nach mehr oder weniger versteckten Nachrichten in der orts- und territorialgeschichtlichen Literatur der letzten 500 Jahre angewiesen“[465], da es in den protestantischen Gebieten keine „barocke Atlas-Marianus Literatur [und auch keine] wissenschaftlich inventarisierende Wallfahrtsforschung gegeben hat“[466].
Zudem sind chronikalische Berichte aus dem Harzgebiet nur in geringer Anzahl überliefert. Allerdings kann sich die Wallfahrtsforschung für dieses Gebiet auf eine umfangreiche Menge an erhaltenen Urkunden beziehen[467].
Die bisher bekannten Berichte über die Wallfahrts- und Gnadenorte in den Grafschaften Stolberg und Wernigerode und aus dem Hochstift Halberstadt sind zudem nur bruchstückhaft, „so dass es kaum möglich ist, die Geschichte bestimmter Wallfahrten im Hinblick auf ihre zeitliche Genese, ihre geographische Reichweite und die mit dieser Praxis verbundenen Implikationen zu rekonstruieren“[468].
Auch die Wallfahrten der Harzgrafen fanden bisher, außer in regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen, in der Forschung wenig Beachtung, indes dies für die Untersuchung einzelner Wallfahrtsorte von Bedeutung wäre[469].
Erleichtert wird die Rekonstruktionsarbeit bei den Kirchen des Harzes, die durch die von ihnen emittierten Pilgerzeichen oder durch testamentarisch veranlasste Wallfahrten bekannt sind[470]. Allerdings liegen solche Befunde für Wasserleben nicht vor. In diesem Fall sind demnach die überlieferten Urkunden über Schenkungen und Ablässe, sowie die Legenden zum Hostienwunder von Wasserleben von großer Bedeutung.
Bei der Untersuchung von Urkunden in denen der Begriff ‚peregrinatio’ verwendet wird, ist indes zu beachten, dass dieser nicht unbedingt auf eine wirklich bestehende Wallfahrt hinweist[471]. Auch „in der Geschichtsschreibung [ist mit dem Begriff ‚Wallfahrt’] oft allzu großzügig umgegangen worden“[472].
Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Urkunden zur Wallfahrt nach Wasserleben ist besonders der seit 1866 als Archivar und Bibliothekar des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode tätig gewesene Eduard Jacobs von Relevanz. Gerade in den Gebieten, in denen die Reformation Wirkung zeigte, besteht heute kaum ein befriedigender Erschließungsstand der Schriftstücke. „Nur wenige sind durch Urkundenbücher erschlossen, wie das im Falle von Wasserleben […] [durch Eduard Jacobs] geschehen ist“ [473].
Jacobs veröffentlichte schon 1879 mit den „Kirchlichen Alterthümern der Grafschaft Wernigerode […] eine historisch-statistische Beschreibung des spätmittelalterlichen Kirchwesens“[474] dieses Gebietes. Im Jahr 1882 erschien sein ‚Urkundenbuch der Deutschordens-Commende Langeln und der Klöster Himmelpforten und Waterler in der Grafschaft Wernigerode’, welches von ihm bearbeitete Urkunden und weitere Dokumente enthält, die über Wasserleben als Wallfahrtsort Informationen enthalten. Außerdem birgt sein Werk eine Abhandlung über die Geschichte des Klosters Wasserleben[475].
Eine Abschrift einer niederdeutschen Quelle von 1507 zur Legende um das Hostienwunder von Wasserleben veröffentlichte er ebenfalls 1879 in der Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Alterthumskunde.
Der Geschichte der Heilig Blut-Kapelle von Wasserleben widmete Jacobs außerdem einen Artikel, der 1910 auch in der Zeitschrift des Harzvereins erschien.
In derselben Zeitschrift veröffentlichte Hans Walther in den Jahren 1923 und 1924 einen Beitrag zum ältesten Bericht über das Wunderblut von Wasserleben. Dieser enthält unter anderem eine Transkription einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, die Walther nach eigenen Angaben nur wenig emendierte und die als ältester Bericht über das Wunderblut von Wasserleben gilt[476].
Jacobs Arbeiten sind im Zusammenhang mit der Untersuchung Wasserlebens als Wallfahrtsort wichtige Ansatzpunkte, denn sie stellen, mit wenigen Ausnahmen, die einzige Literatur zu diesem Thema dar. In moderneren Werken fand das Wunderblut von Wasserleben bisher nur sehr selten als Beispiel Eingang. Allein in den Aufsätzen ‚Wallfahrtsforschung als Defizit der reformationsgeschichtlichen Arbeit. Exemplarische Beobachtungen zu Darstellungen der Reformation und zu Quellengruppen’ von Siegfried Bräuer, ‚Der Harz und sein Umland – eine spätmittelalterliche Wallfahrtslandschaft?’ und ‚“Ich ging durch Feuer und Wasser…“ Bemerkungen zur Wilsnacker Heilig Blut-Legende’, beide von Hartmut Kühne, wurde der Erzählung der Wunderhostie von Wasserleben Aufmerksamkeit geschenkt.
3.2.2 Quellen zur Geschichte des Klosters Wasserleben und der Legende vom Heiligen Blut zu Wasserleben
Das Kloster Wasserleben wurde um 1300 als Zisterzienserinnenkloster gegründet. „Ein Ablassbrief zugunsten des Baus ist mit 1296 datiert“[477].
Die zugehörige Kapelle wurde wahrscheinlich kurz vor der Gründung errichtet. „Mit den Urkunden stimmt das aber insofern gut zusammen, als in ihnen erst 1292 und 1293 von einer neuerbauten Kapelle oder Kirche des heiligen Bluts, in den Jahren vorher aber nur von der Pfarrkirche des Dorfs die Rede ist“[478].
Die älteste Urkunde, die Informationen über das Hostienmirakel in Wasserleben enthält, „ist eine römische Sammelindulgenz aus dem Jahr 1288 für die Besucher der Jacobikirche zu Wasserleben an den Tagen ‚quibus ostenditur sanguis Christi’[479]“[480]. Diese Urkunde nennt neben der Kirche...