Die Materialsammlung in den Konvoluten des Passagenwerks wirkt vollkommen beliebig; das ist wahrscheinlich die höchste Hürde, die zu überwinden ist, will man Benjamins Arbeit als ein philosophisches Vorhaben verstehen. Wie sollen – um nur ein paar Beispiele zu nennen – kontingente Beschreibungen von Eisenkonstruktionen, Puppen und Moden die philosophische Suche nach allgemeingültigen Wahrheiten unterstützen? Deshalb ist zu betonen, dass Benjamin sich nicht mit der Wahrheitstreue zu Fakten befasste, sondern mit der Erkenntnis von Wahrheit im Medium der Bedeutung, mit der Möglichkeit, die Bedeutung des kontingenten Materials zu erkennen. Man könnte dagegen einwenden, dass jede wirkliche Aufmerksamkeit für historische Fakten das Interesse an ihrer Bedeutung einschließt. Auf welche Weise ist der philosophische Charakter von Benjamins Werk in seiner ausdrücklichen Relation zu dieser Bedeutung greifbar? Damit diese Frage beantwortet werden kann, muss als erstes geklärt werden, welchen Platz die Sprache in Benjamins Untersuchung hat.
1. Zitieren
Die zentrale Rolle der Sprache, nicht nur als Mittel der Darstellung, sondern auch als Medium der Untersuchung oder der Entdeckung von Wahrheit, wird erkennbar, wenn man darüber nachdenkt, warum Zitate im Passagenwerk so viel Raum einnehmen – ein wichtiges Kennzeichen einer Methode, das leicht übersehen wird, weil das Werk ein Fragment geblieben ist. Es wäre naheliegend zu glauben, dass Benjamin in der Pariser Bibliothèque Nationale Material für seine Untersuchung sammelte, aber nie so weit kam, es in eine narrative oder argumentative Struktur einzuarbeiten. Aber auch wenn die Form des Werks – hätte es vollendet werden können – mehr Zusammenhang aufgewiesen hätte, waren die Zitate doch nicht als Erläuterungen oder Belege in längeren Argumentationssträngen gedacht. Dazu kommt, dass Benjamin mit dem Zitatenmaterial nicht nur ein Interesse an öffentlicher Meinung, gesellschaftlichem Bewusstsein oder an den Reaktionen bestimmter Menschen oder Klassen auf besondere historische Umwandlungen deutlich macht, indem er sozusagen untersucht, wie sie aufgenommen werden. Er schreibt dem Zitat vielmehr eine wesentliche Rolle für die Konstitution von historischer Wahrheit zu: «Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren.«[1] (GS V, 1, 595)
Dass das Zitieren bei Benjamin Methode hat, lässt sich bis zu seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels zurückverfolgen. Während der Arbeit an diesem Buch schrieb er an Scholem: «Indessen überrascht mich nun vor allem, dass, wenn man so will, das geschriebene fast ganz aus Zitaten besteht. Die tollste Mosaiktechnik, die man sich denken kann, ….» (Briefe, 366) Die zahllosen, in eine dem Anschein nach kontinuierliche Prosaform verwobenen Zitate in diesem Buch belegen ohne Zweifel Benjamins souveränen philologischen Kenntnisreichtum. Sie sind jedoch auch ausdrücklich auf die Methode bezogen, die in der «erkenntniskritischen Vorrede» zum Ursprung des deutschen Trauerspiels dargelegt wird.
Die Vorrede weist darauf hin, dass die Form des Buchs mittelalterlichen Traktaten ähnlich sei, in deren «kanonischer Form … als einziges Bestandstück einer … Intention das autoritäre Zitat sich einfinden» (GS I, 1, 208) werde. Vereinfacht gesagt, besteht das Buch zum größten Teil aus dem, was andere zu einem bestimmten Thema geäußert haben. Kaum aufzufinden ist das Erwartbare, nämlich Textabschnitte, in denen die Stimme des Autors und seine eigene Meinung zum Untersuchungsgegenstand deutlich werden. Benjamins Text ist im Wesentlichen als ein Nebeneinander von Zitaten konstruiert und drückt damit die Wahrheit der Sache aus, ohne sich auf die Autorität eines eigenen Standpunkts zu berufen, ohne eine Position zu beziehen, mit der man sich identifizieren könnte. Dass dies nicht auf eine Ehrfurcht Benjamins vor Autoritäten hindeutet, sondern vielmehr eine Methode ist, der höchsten Autorität oder Souveränität des Denkens selbst Raum zu geben, muss nicht eigens betont werden. Denn das Werk ist bei Benjamin darauf ausgerichtet, im Material und durch das Material etwas darüber Hinausgehendes darzustellen. (Die Beziehung von Zitaten zur sichtbar werdenden Wahrheit gleicht für Benjamin dem Verhältnis farbiger Teilchen zum Bildmuster des Mosaiks).
Zu bedenken ist, dass in einem Zitat eine Äußerung aus ihrem Kontext gelöst und dass ihre Motivation oder Absicht dadurch erklärungsbedürftig wird. So halten wir im Zitat zwar fest, wie jemand Sprache gebraucht, um eine bestimmte Behauptung zu machen, lassen aber den Kontext verschwinden, der diese Behauptung motiviert. Benjamin verzichtet auf die Erklärungshilfe, die durch die Verbindung des Zitats mit seinem ursprünglichen Kontext geboten würde (sei es in der Person oder den Ereignissen der Zeit): «Einen Text zitieren schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen.» («Was ist episches Theater?», GS II, 2, 536) In einer Art Umkehrung des Fregeschen Satzes über Bedeutung hält Benjamin das Zitat, die Loslösung eines Textes aus seinem Kontext und seine Reihung mit anderen solchen Zitaten für den Schlüssel zu einer höheren Einheit der Bedeutung.
Man kann auch sagen, dass wir so nicht nur auf die Information aufmerksam gemacht werden, die im Zitat vermittelt wird, sondern auch auf die Weise der Vermittlung (welche Bedeutung dem Gegenstand gegeben wird). Der ursprüngliche Wert der Äußerung kann ausgeklammert werden, und die Weise der Bedeutung, die so gut wie verborgen bleibt, wenn die Äußerung in ihrem Zusammenhang verwendet wird, tritt nun in allen ihren besonderen und überraschenden Zügen hervor. Durch Zitieren werden wir über eine Beziehung zur Realität mittels Sprache hinaus auf die Ebene der Sprache selbst gehoben. Das heißt: Eine Wahrheit, welcher Art auch immer, die in diesem Material zu erkennen ist, ergibt sich nicht aus der Korrespondenz seines Sachgehalts mit einer vorgegebenen Realität (etwa der Korrektheit der Aussagen), sondern aus den Relationen zwischen den Weisen der Bedeutung.
Manchmal ist das Zitieren eine Weise, Partei zu ergreifen, sich einer bestimmten herrschenden, in den zitierten Aussagen vorgebrachten Meinung anzuschließen oder sich mit ihr zu identifizieren. Gerade diese Identifikation wird jedoch in Benjamins Sicht durch die Problematisierung des Verhältnisses zwischen einem Zitat und seinem Kontext umgangen. Das, scheint mir, lässt sich in Zusammenhang bringen mit Benjamins Satz in der Einbahnstraße: «Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.» (GS IV, 1, 138) Der Müßiggänger wäre dann der Sprachnutzer, der Worte für Bezeichnungen hält und prinzipiell nicht bedenkt, worauf diese Möglichkeit basiert, nämlich auf der Weise der Bedeutung. Da er von den Bedingungen der Bedeutung nichts weiß, nimmt er Worte als Besitz wahr oder wenigstens so, als hätten sie, gemessen an ihrem Inhalt, mehr oder weniger Wert, den er nach Belieben mitteilen kann. (Dieses besitzergreifende Verhältnis zur Sprache, in dem sie als Mittel zur Förderung der Interessen des Sprechers eingesetzt wird, nennt Benjamin in einem anderen Zusammenhang die «bürgerliche Auffassung von Sprache».)
Der Raub geschieht nicht zwecks Aneignung der Besitztümer anderer: «Die Hast [des Griffs], mit dem man fremdes Eigentum verschwinden läßt, ist Routinierten eigen und um nichts besser als die Bonhomie des Banausen.» (GS I, 1, 2, 225) Benjamin nimmt sich vor, «die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe zu entwickeln» (GS I, 1, 272). Und weiter: «Ich werde keine geistvollen Formulierungen mir aneignen, nichts Wertvolles entwenden. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht beschreiben sondern vorzeigen.» (GS V, 2, 1030) Ein Zitat, das eine Behauptung von ihrem ursprünglichen Lebenskontext abtrennt, hat eine merkwürdig gleichmacherische Wirkung. Alles ist verwendbar, selbst «Lumpen und Abfall», und nichts stellt für sich genommen wertvolles intellektuelles Eigentum dar. Der Unterschied zwischen Größerem und Kleinerem ist verloren gegangen, wenn das Material eingesetzt wird, um eine höhere Einheit ans Licht zu bringen.
Die konstruktive Arbeit mit Zitaten lässt Bedeutung als Mitwirken an der Selbstdarstellung der Wahrheit erscheinen. Die Zitate werden dazu verwendet, etwas ans Licht zu bringen, das selbst nicht als Gegenstand einer linguistischen Absicht aufgefasst werden kann. Das heißt, sofern es um die Darstellung von Wahrheit geht, gibt es kein intentionales Element, nichts, das uns gestattet, diese Beschaffenheit der Bedeutung anzustreben. Darstellung mittels einer Konstruktion aus Zitaten verzichtet auf die Kontinuität einer Argumentationskette, auf eine fortlaufende Erzählung und zielgerichtete Dialoge. Der Einsatz von Zitaten schafft ständige Unterbrechungen und führt zu einem Schreiben, dem Abschweifungen und Umwege wesenseigen sind. Über die Anlage des Trauerspielbuchs nach dem Muster mittelalterlicher Traktate schreibt Benjamin: «Darstellung ist der Inbegriff ihrer [d. i. der Traktate] Methode. Methode ist Umweg, Darstellung als Umweg – das ist...