Philosophie neu denken
Das Leben, das Universum und der ganze Rest … vermutlich hat sich jeder schon häufig die Frage gestellt, was das alles eigentlich soll. Worin befinden wir uns? Sind wir nur eine Anhäufung von Elementarteilchen in einem riesigen Weltbehälter? Oder haben unsere Gedanken, Wünsche und Hoffnungen eine eigene Realität, und wenn ja: welche? Wie können wir unsere Existenz oder sogar Existenz im Allgemeinen verstehen? Und wie weit reicht unsere Erkenntnis?
Ich werde in diesem Buch den Grundsatz einer neuen Philosophie entwickeln, die von einem einfachen Grundgedanken ausgeht, nämlich dem, dass es die Welt nicht gibt. Wie Sie sehen werden, bedeutet dies nicht, dass es überhaupt nichts gibt. Es gibt unseren Planeten, meine Träume, die Evolution, Toilettenspülungen, Haarausfall, Hoffnungen, Elementarteilchen und sogar Einhörner auf dem Mond, um nur einiges herauszugreifen. Der Grundsatz, dass es die Welt nicht gibt, schließt ein, dass es alles andere gibt. Ich kann deswegen schon einmal vorab in Aussicht stellen, dass ich behaupten werde, dass es alles gibt, bis auf eines: die Welt.
Der zweite Grundgedanke dieses Buches ist der Neue Realismus. Der Neue Realismus beschreibt eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten »Postmoderne« kennzeichnen soll (das ich, streng autobiographisch gesprochen, im Sommer 2011 – genau genommen am 23. 6. 2011, gegen 13 : 30 Uhr – bei einem Mittagessen in Neapel zusammen mit dem italienischen Philosophen Maurizio Ferraris eingeläutet habe.1) Der Neue Realismus ist also zunächst einmal nichts weiter als der Name für das Zeitalter nach der Postmoderne.
Die Postmoderne war der Versuch, radikal von vorne anzufangen, nachdem alle großen Heilsversprechen der Menschheit, von den Religionen über die moderne Wissenschaft bis hin zu den allzu radikalen politischen Ideen des linken und rechten Totalitarismus, gescheitert waren. Die Postmoderne wollte den Bruch mit der Tradition vollziehen und uns von der Illusion befreien, es gebe einen Sinn des Lebens, nach dem wir alle streben sollten.2 Um uns von dieser Illusion zu befreien, hat sie allerdings nur neue Illusionen erzeugt – insbesondere die, dass wir in unseren Illusionen gleichsam feststecken. Die Postmoderne wollte uns weismachen, die Menschheit leide seit der Prähistorie unter einer gigantischen kollektiven Halluzination, der Metaphysik.
Schein und Sein
Metaphysik kann man als den Versuch definieren, eine Theorie des Weltganzen zu entwickeln. Sie soll beschreiben, wie die Welt in Wirklichkeit ist, nicht, wie die Welt uns vorkommt, wie sie uns erscheint. Auf diese Weise hat die Metaphysik die Welt gewissermaßen erst erfunden. Wenn wir von »der Welt« sprechen, meinen wir alles, was wirklich der Fall ist, oder anders: die Wirklichkeit. Dabei liegt es nahe, uns Menschen aus der Gleichung »die Welt = alles, was wirklich der Fall ist« rauszustreichen. Denn man nimmt ja an, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Dingen, wie sie uns erscheinen, und den Dingen, wie sie wirklich sind. Um herauszufinden, wie sie wirklich sind, muss man also sozusagen alles Menschengemachte am Erkenntnisprozess abziehen. Jetzt stecken wir schon knietief in der Philosophie.
Die Postmoderne hat dagegen eingewandt, dass es nur die Dinge gibt, wie sie uns erscheinen. Es gebe überhaupt nichts mehr dahinter, keine Welt oder Wirklichkeit an sich. Manche etwas weniger radikale Vertreter der Postmoderne wie der amerikanische Philosoph Richard Rorty meinten, es möge zwar noch etwas hinter der Welt geben, wie sie uns erscheint. Doch dies spiele eben für uns Menschen keine Rolle.
Die Postmoderne ist allerdings nur eine weitere Variante der Metaphysik. Genau genommen handelte es sich bei ihr um eine sehr allgemeine Form des Konstruktivismus. Der Konstruktivismus basiert auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse oder wissenschaftlichen Methoden konstruieren. Wichtigster Gewährsmann dieser Tradition ist Immanuel Kant. Kant hat behauptet, dass wir die Welt, wie sie an sich ist, nicht erkennen können. Egal was wir erkennen, es sei immer auch irgendwie von Menschen gemacht.
Nehmen wir ein Beispiel, das in diesem Kontext häufig verwendet wird, nämlich die Farben. Spätestens seit Galileo Galilei und Isaac Newton stehen Farben im Verdacht, gar nicht wirklich zu existieren. Diese Annahme hat farbenfrohe Charaktere wie Goethe so sehr verärgert, dass er deswegen eine eigene Farbenlehre verfasst hat. Man könnte meinen, Farben seien nur Wellen einer bestimmten Länge, die auf unser Sehorgan treffen. Die Welt an sich sei eigentlich völlig farblos, sie bestehe nur aus irgendwelchen Teilchen, die sich in einer mittleren Größenordnung zusammenfinden und sich gegenseitig stabilisieren. Genau diese These ist Metaphysik. Sie behauptet, dass die Welt an sich ganz anders ist, als sie uns erscheint. Nur war Kant noch viel radikaler. Er behauptete, dass auch diese Annahme – von Teilchen in der Raumzeit – nur eine Art und Weise sei, wie uns die Welt an sich erscheint. Wie sie wirklich ist, könnten wir überhaupt nicht herausfinden. Alles, was wir erkennen, sei von uns gemacht, und deswegen könnten wir es eben auch erkennen. In einem berühmten Brief an seine Verlobte, Wilhelmine von Zenge, hat Heinrich von Kleist den kantischen Konstruktivismus folgendermaßen veranschaulicht:
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.3
Der Konstruktivismus glaubt an Kants »grüne Brille«. Die Postmoderne hat dem hinzugefügt, dass wir nicht nur eine einzige, sondern ziemlich viele Brillen tragen: die Wissenschaft, die Politik, die Sprachspiele der Liebe, der Poesie, die verschiedenen natürlichen Sprachen, die sozialen Konventionen und so weiter. Alles sei nur ein kompliziertes Spiel mit Illusionen, in dem wir uns gegenseitig den Platz in der Welt zuweisen, oder einfach ausgedrückt: Die Postmoderne hielt die menschliche Existenz für einen langen französischen Kunstfilm, in dem alle Beteiligten sich darum bemühen, einander zu verführen, Macht über die anderen zu erlangen und sie zu manipulieren. Mit geschickter Ironie wird dieses Klischee im französischen Gegenwartsfilm in Frage gestellt, man denke etwa an Jean-Claude Brisseaus Heimliche Spiele oder Catherine Breillats Anatomie der Hölle. Amüsant und verspielt wird diese Option aber auch in David O. Russells I Huckabees zurückgewiesen, ein Film, der neben Klassikern wie Magnolia eines der besten Zeugnisse für den Neuen Realismus darstellt.
Aber die menschliche Existenz und Erkenntnis ist weder eine kollektive Halluzination, noch stecken wir in irgendwelchen Bilderwelten oder Begriffssystemen fest, hinter denen sich die wirkliche Welt befindet. Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist. Natürlich können wir uns täuschen, dann befinden wir uns unter Umständen in einer Illusion. Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen.
Der Neue Realismus
Um zu verstehen, inwiefern der Neue Realismus eine neue Einstellung zur Welt mit sich bringt, wählen wir ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Astrid befinde sich gerade in Sorrent und sehe den Vesuv, während wir (also Sie, lieber Leser, und ich) gerade in Neapel sind und ebenfalls den Vesuv betrachten. Es gibt also in diesem Szenario den Vesuv, den Vesuv von Astrid aus (also aus Sorrent) gesehen und den Vesuv von uns aus (also aus Neapel) gesehen. Die Metaphysik behauptet, dass es in diesem Szenario einen einzigen wirklichen Gegenstand gibt, nämlich den Vesuv. Dieser wird gerade zufällig einmal aus Sorrent und ein andermal aus Neapel betrachtet, was ihn aber hoffentlich ziemlich kaltlässt. Es geht den Vesuv nichts an, wer sich für ihn interessiert. Das ist Metaphysik.
Der Konstruktivismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario drei Gegenstände gibt: den Vesuv für Astrid, Ihren Vesuv und meinen Vesuv. Dahinter gebe es entweder überhaupt keinen Gegenstand oder doch keinen Gegenstand, den wir jemals zu erkennen hoffen könnten.
Der Neue Realismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario mindestens vier Gegenstände gibt:
1. Der Vesuv.
2. Der Vesuv von Sorrent aus gesehen
(Astrids Perspektive).
3. Der Vesuv von Neapel aus gesehen
(Ihre Perspektive).
4. Der Vesuv von Neapel aus gesehen
(meine Perspektive).
Man kann sich leicht klarmachen, warum diese Option die beste ist. Es ist nicht nur eine Tatsache, dass der Vesuv ein Vulkan ist, der sich an einer bestimmten Stelle auf der Erdoberfläche befindet, die derzeit zu Italien gehört, sondern es ist ganz mit demselben Recht ebenfalls eine Tatsache, dass er von Sorrent aus soundso und von Neapel aus eben anders aussieht. Selbst meine geheimsten Empfindungen bei der Betrachtung des Vulkans sind Tatsachen (auch wenn sie nur so lange geheim bleiben, bis es einer komplizierten App...