Überleben
Nach einem verstörenden Ereignis greifen wir automatisch auf alte Strategien zurück, mit denen wir uns schon als Kind und Jugendlicher beruhigt haben. Für die aktuelle Situation sind sie manchmal unpassend, trotzdem greift man ohne darüber nachzudenken auf sie zurück. Sie vermitteln ein kleines Stück Sicherheit mitten in dem unsicheren neuen Lebensabschnitt.
Überlebensstrategien können in den ersten Wochen ganz unterschiedlich aussehen, hier eine unvollständige Auswahl:
- •So viel Normalität aufrechterhalten wie nur möglich. (Vor allem Kinder und Jugendliche überleben mithilfe der gewohnten Routinen. Sie möchten genauso essen, spielen, zu Bett gehen wie zuvor.)
- •Ohne Pause alles abarbeiten, was zu tun ist.
- •Sich abschotten und zurückziehen, die sich verändernde Welt einfach nicht beachten.
- •Sich mit Medikamenten, Alkohol oder Drogen betäuben.
- •Zusammenbrechen.
- •Sich nicht alles aus der Hand nehmen lassen. Mitentscheiden. Mitgestalten.
- •Aggressiv sein, streiten.
- •Hilfe einfordern und annehmen.
Jede dieser Strategien hilft dem, der sie anwendet, beim Überleben. Aber manche dieser Strategien machen anderen das Überleben schwerer. Vor allem Aggressionen, totaler Rückzug oder Zusammenbruch lösen bei Familienmitgliedern und Freunden große Sorgen aus. Die folgenden Trittsteine für das eigene Überleben helfen, bei sich und dem eigenen Trauerweg zu bleiben. Danach folgen Trittsteine für das Zusammenbleiben und gemeinsame Überleben als Familie oder Freundeskreis. Diese Reihenfolge gilt für den gesamten weiteren Trauerweg: Man muss erst für sich selbst sorgen, damit man überhaupt für die anderen da sein kann!
Trittsteine in den ersten Wochen
- •Für den Körper: Genug Trinken, aber möglichst wenig Kaffee und Alkohol.
- •Für den Körper: Essen, soweit es möglich ist – am besten etwas Warmes und Nährendes.
- •Für Körper und Seele: Gehen Sie ab und zu raus an die »frische Luft«, es muss kein richtiger Spaziergang und schon gar kein Sport sein.
- •Zur Beruhigung und Stabilisierung: Kleider, Gegenstände, Orte, die als angenehm, vielleicht sogar tröstend wahrgenommen werden.
- •Zur Beruhigung und Stabilisierung (wenn Sie damit vertraut sind): Atemübungen und einfache Bewegungsfolgen aus dem Yoga, Chi Gong oder Tai Chi.
- •Zur Beruhigung: Pflanzliche Beruhigungsmittel als Tee oder Dragees (Baldrian, Hopfen, Melisse), Bachblüten-Notfalltropfen. In Ausnahmefällen: verschreibungspflichtige Medikamente als Tablette oder Spritze.
- •Menschen, die bei Ihnen bleiben, auch in der Nacht, wenn Sie das brauchen.
Trittsteine für das gemeinsame Überleben in der Familie in den ersten Wochen
- •Toleranz für die unterschiedlichen Überlebensstrategien statt Besserwisserei.
- •Viel Unterstützung annehmen von stabilen Personen und praktischen UnterstützerInnen aus dem Freundeskreis, der entfernteren Verwandtschaft und von beruflichen Unterstützern.
- •Möglichst viel Alltagsroutinen für die Kinder der Familie, dabei können stabile Menschen und praktische UnterstützerInnen helfen.
- •Austausch, so wie er möglich ist – wenn Reden nicht geht, sind auch Blicke, Umarmungen, einfaches Beieinandersein ausreichend.
- •Gemeinsame Entscheidungen über das, was zu erledigen ist. Alle Bedürfnisse berücksichtigen, auch die der Kinder und Jugendlichen.
Übung: Überlebens-Mittel wertschätzen
Wenn Sie dieses Buch in den ersten Wochen lesen, nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und beobachten Sie sich selbst:
- •Wie sehen Ihre Überlebensmittel aus?
- •Möchten Sie etwas ändern, weil die Strategien, die Sie gerade anwenden, eigentlich schon lange nicht mehr zu Ihnen gehören? Dann beginnen Sie Stück für Stück.
Und wenn der Tod schon eine Weile zurückliegt:
- •Können Sie sich erinnern, wie Sie diese Wochen überstanden haben? Überlegen Sie, wie Ihre Überlebensstrategien aussahen.
- •Wer hat Ihr Weiterleben unterstützt?
- •Wie sahen die Überlebensstrategien Ihrer Familienmitglieder aus?
- •Gibt es jemandem, dem Sie danken möchten? Dann suchen Sie einen Moment dafür.
Wirklichkeit
Nach einem Suizid dauert es selbst im günstigen Fall meist zwei Tage, bis der Körper des Verstorbenen freigegeben wird. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es für die Angehörigen keinen sichtbaren Beweis für den Tod. Die vollständigen Vorbereitungen für die Bestattung müssen ruhen, bis die Leichenfreigabe erfolgt ist.
In dieser Zeit müssen die nächsten Angehörigen entscheiden, ob sie die Todesursache Suizid bekannt geben oder von einem Unfall sprechen. Wenn die Angst vor sozialem Druck und Scham oder Schuldgefühle zu der Entscheidung führen, die tatsächliche Todesursache zu verschweigen, kann die Wirklichkeit des Todes noch schwerer angenommen werden. Nahe Angehörige müssen sich an ein Doppelleben gewöhnen, Außenstehende erfahren nicht die Wahrheit über den Tod und können deshalb weder selbst über den tatsächlichen Tod trauern noch angemessen auf die Trauer der Angehörigen reagieren.
Es kommt häufig vor, dass die Todesursache Suizid zumindest »ein bisschen« verschwiegen wird. Auch wenn die Angehörigen selbst offen damit umgehen, gilt es als »unschicklich«, den Suizid in einer Todesanzeige offen zu erwähnen. In der Begräbnisansprache wird um die Todesursache oft herumgeredet. Eine Selbsttötung ist immer noch etwas, das viel leichter hinter vorgehaltener Hand besprochen wird als in einem offenen Gespräch.
Gleichzeitig dient die Todesursache Suizid dazu, über alles Mögliche nachzudenken und zu reden – über die Härte der Gesellschaft, nichtfunktionierende Beziehungen, psychische Krankheiten oder philosophische Theorien – nur nicht über den Tod und das Trauern. Wenn das geschieht, bleibt die Wirklichkeit des Todes nach einer Selbsttötung vielfach verschleiert.
Gefühle
Die gesellschaftlichen Regeln für Trauernde in Deutschland und ganz Westeuropa verlangen Optimismus und vor allem Selbstbeherrschung. An die Stelle, an der in anderen Gesellschaften und auch zu anderen Zeiten Rituale mit Klageweibern, Totenwachen und tagelangen Zusammenkünften üblich sind/waren, tritt hier ein reibungsloser, vielfach verwalteter Ablauf. Es gibt wenig Hilfe beim Ausleben von Gefühlen. Noch viel seltener gibt es die Ermunterung dazu. Die meisten Trauernden durchleben die ersten Tage weiter im Schock, sie bleiben unter ihrer Glasglocke, die Entfernung von der Außenwelt nimmt zu, während gleichzeitig ein relativ reibungsloses Funktionieren gelingt. Außenstehende reagieren lobend und erleichtert auf die Selbstbeherrschung und Gedämpftheit von Trauernden. Andere dagegen interpretieren die »Gefasstheit« der Hinterbliebenen als Hinweis auf die vermuteten Motive des Menschen, der sich das Leben genommen hat: Die Selbsttötung sei den Hinterbliebenen offenbar »ganz recht« oder »egal«. Die Unwissenheit der meisten Menschen über Trauerprozesse führt dazu, dass Trauernde sich für jede Reaktion, die sie zeigen, eventuell rechtfertigen müssen.
Auch Menschen, die in der Seelsorge, im Bestattungswesen und in der Medizin arbeiten, wissen in der Regel zu wenig über die normalen Überlebensreaktionen, um Hinterbliebene richtig einschätzen und beraten zu können. Trauernde selbst sitzen dann unter ihrer schützenden Glasglocke und entfernen sich immer weiter von ihrem bisherigen Ich und von ihrer Umwelt.
Bevor der Schock so weit nachlässt, dass heftige Gefühle wahrgenommen werden, reagiert der Körper bereits mit einer Reihe von »Störungen«. Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Leere im Brust- und Bauchbereich, Kopfschmerzen oder völlige Schmerzunempfindlichkeit sind oft eher wahrnehmbar als die emotionalen Schmerzen. Das Auftreten unbekannter und scheinbar sinnloser körperlicher Symptome verunsichert Trauernde und verstärkt das Gefühl, »nicht mehr sie selbst zu sein«.
Viele Menschen sind von der Intensität ihrer Emotionen überfordert, sie versuchen Gefühle zu unterdrücken, weil sie befürchten, von ihnen weggeschwemmt zu werden. Deshalb ist die folgende einfache Übung dazu da, Gefühle in einem aushaltbaren Rahmen zu erleben.
Übung: Körper spüren
Wenn Ihnen Ihre Emotionen zu stark werden, suchen Sie Möglichkeiten, sich zwischendurch zu beruhigen. Stellen Sie die Füße fest auf den Boden und spüren ihn. Bewegen Sie Ihre Hände, reiben Sie sie aneinander. Klopfen Sie mit einer Hand den gegenüberliegenden Arm ab. Wiederholen Sie das mit der anderen Hand. Klopfen Sie auch Ihre Oberschenkel, oder reiben Sie fest über Ihre Haut. Versuchen Sie jetzt, tiefer als bisher zu atmen. Spüren Sie wieder Ihre Füße auf dem Boden. Wenn Sie möchten, können Sie aufstehen und ein paar Schritte gehen, vielleicht holen Sie sich etwas zu...