KAPITEL EINS
WESHALB DIE MEISTEN FÜHRUNGSKRÄFTE UNGEEIGNET SIND
Googeln Sie »Mein Chef ist«, und die automatische Vervollständigung wird den Satz wahlweise mit »ein Tyrann«, »verrückt«, »unfair«, »inkompetent« oder »faul« beenden. Umfragen zeichnen ein ähnliches Bild. Laut Gallup, einem weltweit tätigen Meinungsforschungsinstitut, das regelmäßig globale Daten zur emotionalen Bindung von Mitarbeitern an ihre Arbeitgeber erhebt, sind 75 Prozent aller Kündigungen auf Probleme mit einem direkten Vorgesetzten zurückzuführen. Ergebnisse wie dieses enttarnen mangelnde Führungsqualitäten als die internationale Hauptursache für freiwillige Fluktuation – Kündigungen von Arbeitnehmerseite. Unterdessen geben 65 Prozent der Amerikaner an, sich anstelle einer Gehaltserhöhung lieber einen neuen Chef zu wünschen.1 Diese kurzsichtige Aussage berücksichtigt allerdings nicht, dass der nächste Vorgesetzte keinen Deut besser, sondern noch schlimmer sein könnte.
Was ist von der Tatsache zu halten, dass die meisten Führungskräfte, ob unfähig oder nicht, männlich sind? Nachdem Frauen etwa 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausmachen und weibliche Studenten ihren männlichen Kommilitonen in weiten Teilen der industrialisierten Welt nicht nur zahlen-, sondern auch leistungsmäßig überlegen sind, sollten wir ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern in Führungspositionen erwarten dürfen. Und doch sieht die Realität ganz anders aus. Rund um den Globus ist »Leadership« derart männlich konnotiert, dass es den meisten Menschen schwerfiele, nur eine einzige berühmte weibliche Führungspersönlichkeit in einem Wirtschaftsunternehmen zu benennen. Ein Beispiel: In einer 2018 durchgeführten Erhebung wurden 1000 Amerikaner nach den bekanntesten weiblichen Führungskräften in der Technologiebranche gefragt. Knapp 92 Prozent hatten keine passende Antwort, und ein Viertel der verbleibenden acht Prozent nannte »Siri« oder »Alexa«.2 Als ich einer Klientin erzählte, dass ich ein Buch über Frauen und Leadership schreibe, lautete ihre zynische Antwort: »Sie meinen, Sie schreiben an zwei verschiedenen Büchern gleichzeitig?« Ihre Reaktion versinnbildlicht, wie wenig Frauen mit Führungspositionen in Verbindung gebracht werden – und zwar nicht nur in unseren Köpfen.
Selbst in den 500 größten börsennotierten US-Unternehmen (die sich wesentlich stärker um die Gleichstellung von Männern und Frauen bemühen als kleinere, privat geführte Firmen) ist man noch weit von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis entfernt. Bis 2017 verringerte sich der Frauenanteil in diesen Konzernen zunehmend, je höher eine berufliche Position in der Unternehmenshierarchie angesiedelt war.
Frauen stellten:
44 Prozent der Belegschaft
36 Prozent der unteren und mittleren Führungsebene
25 Prozent der leitenden Angestellten und des Topmanagements
20 Prozent des Vorstands
6 Prozent CEOs3
Dieses Buch widmet sich einer zentralen Frage: Was wäre, wenn diese beiden Beobachtungen – dass die meisten Führungskräfte inkompetent und dass sie zudem überwiegend männlich sind – in einem kausalen Zusammenhang stehen? Oder anders gefragt: Könnte die Dominanz von Bad Leadership eingedämmt werden, wenn weniger Männer und dafür mehr Frauen die Verantwortung trügen?
Diese Frage habe ich erstmals 2013 in einem kurzen Essay für die Harvard Business Review gestellt, dessen Titel das Problem auf den Punkt brachte: »Warum gelangen so viele inkompetente Männer in Führungspositionen?«4 Darin argumentierte ich, dass sich das Defizit an weiblichen Führungskräften nicht durch mangelnde Qualifikation oder Motivation begründen lässt, sondern vielmehr mit unserer Unfähigkeit, männliche Inkompetenz zu erkennen. Wenn Männer für Führungspositionen gehandelt werden, werden oft dieselben Eigenschaften, die sie letztlich zu Fall bringen, irrtümlich als Ausdruck ihres Führungspotenzials oder Talents verstanden oder sogar gefeiert. Somit sind es Charakterschwächen – unter dem Tarnmantel attraktiver Führungsqualitäten –, die Männern zum Aufstieg in hochrangige Positionen verhelfen. Wie dieses Buch offenlegen wird, sollten wir Eigenschaften wie übermäßiges Selbstbewusstsein und Selbstverliebtheit als Warnsignale verstehen. Doch stattdessen denken wir oft: »Na, das ist doch mal ein charismatischer Typ! Der ist zu Höherem berufen.« Als Resultat haben wir sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik einen Überschuss unfähiger Männer in Machtpositionen, welcher die Chancen kompetenter Kandidaten – Frauen und Männer – schmälert und für bedauerlich niedrige Führungsstandards sorgt.
Die Leserschaft dieses Essays wird jährlich größer. Seit seiner Veröffentlichung hat er sich insgeheim zu einem der meistgelesenen Artikel auf HBR.org gemausert und mir mehr Reaktionen beschert als jedes der neun Bücher und jeder der weiteren 300 Artikel, die ich im Laufe meiner Karriere verfasst habe. Traurigerweise spiegelt seine Popularität letztlich jedoch einfach die große Zahl von Menschen in aller Welt wider, die unfähige Vorgesetzte haben und unter ihnen leiden. Wenn Sie jemals in einem Büro gearbeitet haben, ist Ihnen wahrscheinlich bereits eine spezielle Form schlechter Mitarbeiterführung begegnet – durch Chefs, die die Grenzen ihrer persönlichen Fähigkeiten nicht kennen und deshalb ungerechtfertigterweise äußerst selbstzufrieden sind. Sie sind übertrieben selbstbewusst, aggressiv und nehmen sich, besonders angesichts ihres limitierten Könnens, selbst viel zu wichtig. Sie sind mit Abstand ihre eigenen größten Fans.
Und doch schmälern diese Charakterschwächen nur selten ihre Karrierechancen. Ganz im Gegenteil. Und weil diese Chefs häufiger Männer sind als Frauen, wird Frauen mit Aufstiegsambitionen mit Vorliebe ein stereotypisch männliches Auftreten empfohlen: »Glaube an dich selbst«, »Kümmere dich nicht darum, was andere über dich denken« und, mein Favorit, »Sei einfach du selbst« – als ob etwas anderes überhaupt möglich wäre. (Oder wie eine humorvolle Variante dieses Ratschlags lautet: »Sei du selbst, denn alle anderen gibt es schon.«)
Die Versuche der Wirtschaft, mehr Frauen an die Spitze von Unternehmen zu bringen, sind als klares Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts zu werten. Und nur wenige westliche Konzerne kommen ohne Diversity-Programme aus, von denen sich die meisten explizit mit Genderfragen auseinandersetzen.5 Allerdings sind diese Programme in erster Linie darauf ausgerichtet, Frauen dabei zu helfen, ihre männlichen Kollegen nachzuahmen, unter der zugrunde liegenden Annahme, dass Frauen die gleiche Karriere verdienen oder genauso viel erreichen können. Doch wie sinnvoll und logisch ist dieses Ziel, wenn die meisten Führungskräfte ihren Arbeitgebern in der Realität mehr schaden als nützen? Statt Führungspositionen wie glamouröse Karriereziele oder persönliche Belohnungen für den erfolgreichen beruflichen Aufstieg zu behandeln, sollten wir uns vor Augen halten, dass Leadership eine Unternehmensressource ist – die einem Unternehmen nur dann nützt, wenn seine Belegschaft von dieser Ressource profitieren kann, indem sie seine Mitarbeiter motiviert und deren Leistung steigert. Deshalb sollte es unser primäres Ziel sein, den Führungsstandard zu verbessern, und nicht, einfach nur mehr Frauen in verantwortliche Positionen zu bringen.
Die Erfahrungen, die Beschäftigte in aller Welt mit ihren Vorgesetzten machen, sind zum großen Teil alles andere als positiv. Ihr Arbeitsalltag ist eher von Angst geprägt als von Inspiration, von Burnoutstatt von Empowerment, von Misstrauen statt von Vertrauen. Und während wir Menschen, die es bis ganz nach oben schaffen, bewundern und feiern, sind die Aussichten für die Mitarbeiter, die unter ihnen arbeiten müssen, häufig alles andere als rosig.
Die Forschungslage bestätigt die allgegenwärtige Unzufriedenheit. In einer 2011 durchgeführten Studie mit mehr als 14 000 Personalverantwortlichen und anderen Managern, bewerteten die Teilnehmer gerade einmal 26 Prozent ihrer aktuellen Führungsriegen positiv und hielten nur 18 Prozent ihres Führungsnachwuchses für vielversprechend.6 Auch leitende Angestellte schenken dem Potenzial ihrer mutmaßlichen Nachfolger nur wenig Vertrauen. Eine globale Umfrage, in der 2013 untersucht wurde, wie Vorstände ihre unternehmensinternen Talent-Management-Programme beurteilen – also genau jene Systeme, die speziell dafür entwickelt wurden, Führungspersönlichkeiten zu identifizieren, zu fördern und zu...