Was ist eine Nation?
Vortrag an der Sorbonne, Paris, am 11. März 1882
Gemeinsam mit Ihnen möchte ich heute eine Idee untersuchen. Obwohl sie auf den ersten Blick klar zu sein scheint, kann diese Idee doch zu den gefährlichsten Missverständnissen führen. Die menschliche Gesellschaft zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen: Die großen Ansammlungen von Menschen, etwa in China, Ägypten, dem ältesten Babylonien; die Stadtgesellschaften nach Art Athens und Spartas; die Vereinigungen verschiedener Länder in der Weise des Karolingischen Imperiums; die Gemeinschaften ohne eigenes Vaterland, die vom Band der Religion zusammengehalten werden, wie die Israeliten und die Parsen; die Nationen wie Frankreich, England und die meisten autonomen Staaten des modernen Europa; die Konföderationen nach Art der Schweiz und Amerikas; die Verwandtschaftsbeziehungen, die die Rasse oder, besser, die Sprache zwischen den verschiedenen Stämmen der Germanen, der Slawen stiftet – alle diese Gruppierungen gibt es oder hat es jedenfalls gegeben.
Man sollte sie allerdings nicht miteinander verwechseln, wenn man sich nicht die größten Schwierigkeiten einhandeln will. Zur Zeit der Französischen Revolution war man der Meinung, dass sich die Institutionen der kleinen, unabhängigen Städte auf unsere großen Nationen von dreißig bis vierzig Millionen Menschen übertragen ließen. Heute begeht man einen noch schwerer wiegenden Fehler: Man verwechselt die Rasse mit der Nation und spricht den ethnischen oder besser den sprachlichen Gruppen eine Souveränität nach dem Vorbild der wirklich existierenden Völker zu. Versuchen wir also einmal, über diese schwierigen Fragen nachzudenken, bei denen bereits die kleinste Unklarheit über den Sinn der Worte am Schluss zu den verhängnisvollsten Irrtümern führen kann. Was wir vorhaben, ist delikat. Dieses Vorhaben ähnelt fast einer Vivisektion; wir behandeln die Lebenden dabei so, wie man gewöhnlich die Toten behandelt. Wir werden mit Kälte und mit absoluter Unparteilichkeit an die Sache herangehen.
I.
Seit dem Ende des Römischen Reiches oder besser seit dem Zerfall des Reiches von Karl dem Großen erscheint das westliche Europa in Nationen aufgeteilt zu sein, von denen einige Nationen, in bestimmten Epochen, eine Vorherrschaft über die anderen Nationen anstrebten, ohne dass ihnen dies jemals dauerhaft gelang. Was Karl V., Ludwig XIV., Napoleon I. nicht fertigbrachten, wird wahrscheinlich auch in Zukunft niemandem gelingen. Ein neues Römisches Reich oder ein neues Karolingisches Reich zu errichten ist unmöglich geworden. Die Teilung Europas geht zu tief, als dass nicht der Versuch, eine übergreifende Herrschaft zu errichten, sehr schnell eine Koalition auf den Plan riefe, die diese ehrgeizige Nation in ihre Grenzen zurückweisen würde.
Für lange Zeit ist eine Art Gleichgewicht entstanden. Frankreich, England, Deutschland, Russland werden noch in Jahrhunderten existieren. Trotz der Abenteuer, auf welche sie sich eingelassen haben, werden diese historischen Akteure, die entscheidenden Figuren eines Schachspiels, dessen Felder unausgesetzt ihre Bedeutung und ihre Größe verändern, nie komplett miteinander verschmelzen.
Nationen dieser Art sind in der Geschichte etwas recht Neues. Das Altertum kennt sie nicht: Ägypten, China, das alte Chaldäa waren überhaupt keine Nationen. Es waren Horden, angeführt von einem Sohn der Sonne oder einem Sohn des Himmels. Es gab keine ägyptischen Staatsbürger, ebenso wenig wie es chinesische Staatsbürger gab. Die Antike kannte Republiken und Stadtkönigtümer, Konföderationen lokaler Republiken, Reiche: Die Nation in unserem Sinne kannte es nicht.
Athen, Sparta, Sidon und Tyros sind kleine Zentren von bewundernswertem Patriotismus, doch nur mit ziemlich kleinem Territorium versehen. Bevor Gallien, Spanien, Italien vom römischen Imperium aufgesogen wurden, waren sie Ansammlungen von Völkerschaften, die häufig miteinander verbündet waren, aber ohne eine zentrale Institution, ohne Dynastien. Auch das Assyrische Reich, das Persische Reich, das Reich Alexanders waren keine Vaterländer. Niemals hat es assyrische Patrioten gegeben, und das Persische Reich war eine riesige Feudalgesellschaft. Keine Nation führt ihren Ursprung auf das großartige Abenteuer Alexanders zurück, obwohl es für die Geschichte der Zivilisation so ungemein folgenreich war.
Schon viel eher war das Römische Reich ein Vaterland. Für die ungeheure Wohltat, die die verringerte Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen mit sich brachte, wurde das anfangs so hart auftretende römische Imperium bald geliebt. Es war eine große Assoziation – also eine Ordnung – des Friedens und der Zivilisation. In den letzten Zeiten des Reiches herrschte unter den nach Höherem strebenden Seelen, bei den aufgeklärten Bischöfen, bei den Gebildeten das echte Gefühl einer „pax romana“, die im Gegensatz zum drohenden Chaos der Barbarei stand. Doch das Reich, das zwölfmal so groß war wie das heutige Frankreich, sollte keinen Staat im modernen Sinne ausbilden. Die Spaltung des Westens und des Ostens war unvermeidlich. Im 3. Jahrhundert scheiterten die Ansätze, ein gallisches Reich zu bilden. Erst die germanische Invasion brachte das Prinzip mit sich, das später die Grundlage der Nationalitäten wurde.
Was also taten die germanischen Völker von ihren großen Invasionen im 5. Jahrhundert bis zu den letzten Eroberungen der Normannen im 10. Jahrhundert? Den Kernbestand der Rassen veränderten sie fast nicht. Allerdings erlegten sie mehr oder weniger großen Teilen des alten Westreiches ihre Dynastien und ihren Militäradel auf, und diese Teile des Reiches trugen fortan die Namen der Eindringlinge, so etwa Frankreich, Burgund, die Lombardei und später die Normandie. Die rasche Vorherrschaft, die schließlich das Frankenreich gewann, stellte für einen kurzen Moment sogar die Einheit des Westreiches wieder her. Doch dieses Reich zerfiel unwiderruflich um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Der Vertrag von Verdun zeichnet die letztlich unveränderlichen Grenzen vor, und seitdem haben sich Frankreich, Deutschland, England, Italien, Spanien auf vielen Umwegen und unter unzähligen Abenteuern auf den Weg zu ihrer vollen nationalen Existenz gemacht, wie wir sie heute vorfinden.
Doch was macht nun wirklich diese verschiedenen Staaten aus? Es ist die Verschmelzung der Bevölkerungen, die sie bewohnen. In den genannten Ländern entspricht nichts dem, was man in der Türkei findet, wo der Türke, der Slawe, der Grieche, der Armenier, der Araber, der Syrer, der Kurde auch heute noch untereinander so verschieden sind wie am Tag der Eroberung. Zwei wesentliche Vorgänge haben dazu beigetragen: Zunächst einmal haben die germanischen Völker das Christentum angenommen, als sie in dauerhaftere Berührung mit den griechischen und lateinischen Völkern kamen. Wenn Sieger und Besiegte derselben Religion angehören oder besser: Wenn der Sieger die Religion des Besiegten annimmt, dann ist das türkische System, die absolute Trennung der Menschen nach ihrer Religion, nicht mehr möglich. Der zweite Umstand bestand darin, dass die Eroberer ihre eigene Sprache vergaßen. Die Enkel von Chlodwig, Alarich, Albuin, Rollon sprachen bereits romanisch. Dies wiederum war die Folge einer anderen wichtigen Besonderheit, dass nämlich Franken, Burgunder, Goten, Lombarden und Normannen nur sehr wenige Frauen ihrer Rasse bei sich hatten. Über mehrere Generationen hinweg heirateten die Anführer noch germanische Frauen; aber ihre Konkubinen waren lateinisch, ebenso die Ammen ihrer Kinder. Der ganze Stamm heiratete lateinische Frauen. Das führte dazu, dass die fränkische und gotische Sprache seit der Niederlassung der Franken und Goten auf römischem Boden nur noch ein kurzes Leben besaßen. In England war es anders. Denn die angelsächsischen Eroberer hatten zweifellos Frauen bei sich, und die Bevölkerung Britanniens floh. Im Übrigen dominierte das Lateinische in Britannien nicht mehr oder war überhaupt nie dominierend gewesen. Wenn in Gallien im 5. Jahrhundert überall gallisch gesprochen worden wäre, so hätten Chlodwig und seine Leute das Germanische nicht für das Gallische aufgegeben.
So kam es zu dem entscheidenden Ergebnis, dass die germanischen Eroberer trotz der außerordentlichen Rohheit ihrer Gebräuche die Form prägten, die im Laufe der Jahrhunderte zur eigentlichen Form der Nation wurde. „Frankreich“ wurde berechtigterweise der Name eines Landes, in das eigentlich nur eine kleine Minderheit von Franken eingedrungen war. Im 10. Jahrhundert sind in den ersten „Chansons de gestes“, die ein so vollkommener Spiegel des damaligen Geistes sind, alle Bewohner Frankreichs bereits Franzosen. Die Vorstellung eines Rassenunterschieds in der Bevölkerung Frankreichs, die bei Gregor von Tours so auffällig ist, ist bei den französischen Schriftstellern und Dichtern nach den „Chansons de gestes“ nicht mehr zu bemerken. Der Unterschied des Adligen und des Nichtadligen wird so stark betont wie nur irgend möglich, doch dieser Unterschied ist in keinerlei Hinsicht ein ethnischer. Vielmehr ist es ein Unterschied des Mutes, der Gewohnheiten und der vererbten Erziehung. Auf die Idee, dass am Ursprung von all diesem eine Eroberung steht, kommt niemand. Die falsche Vorstellung, der Adel verdanke seine Entstehung einem vom König verliehenen Privileg für der Nation geleistete große Dienste und jeder Adlige sei auch ein Geadelter, wird als Dogma erst seit dem 13. Jahrhundert eingeführt. Genauso verlief es nach fast allen normannischen Eroberungen. Eine oder zwei Generation später unterschieden sich die normannischen Eindringlinge nicht mehr von der übrigen Bevölkerung....