Der Schrecken der Situation
Vier Grundgedanken
Wie frei sind wir? Gibt es einen „freien Willen“? Die Frage nach unserer Autonomie ist eine zentrale Frage im abendländischen Denken. Seit Jahrhunderten ringen Generationen von Theologen, Philosophen, Psychologen, Künstlern und Biologen mit den Problemen, die sich aus der Frage nach freiem Willen und individueller Autonomie ergeben. Wie frei sind wir? Wo verlaufen die Grenzen unserer individuellen Entscheidungsfreiheit?
Wir erleben uns als mehr oder weniger autonome, unabhängige Wesen, die in der Lage sind, ihr Geschick selbst zu bestimmen. Diesem Erleben steht die erschütternde Tatsache unserer Endlichkeit gegenüber. Wie frei sind wir im Angesicht des Todes? Endlichkeit beschränkt sich nicht auf die Tatsache unseres sicheren biologischen Ablebens – sie ist der herausragende Geschmack unseres gesamten Erlebens. Auf allen Erfahrungsebenen sind wir ununterbrochen mit der Unbeständigkeit aller Erfahrung konfrontiert. Keine Empfindung, kein Gefühl, kein Gedanke hat einen beständigen Kern. Unser gesamtes Erfahrungsspektrum ruht stabil auf dem Fundament der Unbeständigkeit. Wir sind auf Sand gebaut.
Die Gefühle leben uns
Darüber hinaus scheinen wir auch dem Verlauf mentaler und emotionaler Abläufe gänzlich ausgeliefert zu sein. Gedanken und Emotionen erscheinen unwillkürlich im Feld unseres Bewusstseins, bewegen sich dort und lösen sich irgendwann wieder auf. Unser Selbstverständnis ruht bequem auf der Annahme, wir seien die Regisseure dieser „göttlichen Komödie“, dieses tragikomischen Dramas unseres Seins.
Tatsächlich hält dieses Verständnis keiner gründlicheren Untersuchung stand. Zumeist sind wir den mentalen und emotionalen Ereignissen, die unsere Erfahrung des Seins begründen, absolut ausgeliefert. Ich habe mich beispielsweise nie dafür entschieden, eifersüchtig zu sein. Eifersucht macht keinen großen Spaß, im Gegenteil, sie fühlt sich mies an. Ich denke, niemand will eifersüchtig sein. Doch was passiert?
Ich gehe mit meiner Freundin auf eine Party. Wir trinken ein bisschen, tanzen, haben unseren Spaß und sind recht verliebt ineinander. Dann verschwindet sie kurz an die Bar, um sich ein neues Bier zu holen. Ich bleibe auf der Tanzfläche, tanze, trinke – alles gut. Irgendwann fällt mir auf, dass sie schon eine ganze Weile weg ist. Braucht recht lange, um sich ihr Bier zu holen. Ich schlendere in Richtung Bar und sehe sie dort mit irgendeinem Typen ins Gespräch vertieft. Sehr vertieft. Ich schlendere etwas näher, sie bemerkt mich nicht. Sie strahlt diesen Typen an, und die beiden stehen ziemlich dicht beieinander.
Plötzlich verspüre ich einen gewissen Druck in der Magengegend. Es gefällt mir irgendwie nicht, dass meine Freundin da so dicht mit diesem Typen beisammensteht und dass sie ihn so anstrahlt und dass sie mich nicht einmal wahrnimmt. Gut, vielleicht ein alter Freund von ihr, sie haben sich vielleicht lange nicht gesehen, haben sich vielleicht einfach ein bisschen was zu erzählen.
Ich bewege mich zurück auf die Tanzfläche. Sieht ziemlich gut aus der Typ ... Da ist immer noch dieser Druck in der Magengegend. Irgendwie war sie verstimmt heute Morgen! Und ziemlich aufgeregt beim Losfahren. Und als ich mal kurz beim Pinkeln war, hat sie telefoniert ... war irgendwie verlegen danach ... hat vielleicht mit ihm telefoniert ... Sie hat sich vielleicht verabredet ... vielleicht steht sie schon länger auf ihn ... Letzte Woche war sie allein feiern, ich war bei meinen Kindern ... wahrscheinlich hat sie ihn da kennengelernt!
Ich nehme kaum mehr wahr, was um mich herum geschieht. Vor mir tanzt ein hübsches Mädchen, lächelt mich an, berührt mich zufällig – ich bemerke sie kaum.
Dann sehe ich, wie meine Freundin Richtung Ausgang geht, der Typ ist weg. Sie wirft mir einen sonderbaren Blick zu und verschwindet durch die Tür. Ich hinterher, trample dem hübschen Girl auf den Fuß, entschuldige mich nicht, stolpere die Treppe hoch, nach draußen – da steht sie, meine Freundin, allein und raucht.
Ich geh zu ihr hin, will sie küssen, sie dreht sich weg und sagt: „Ganz süß, die Kleine!“
„Welche Kleine?“
„Na die, mit der du da getanzt hast!“
„Hab mit keiner getanzt. Aber ... wer ist denn dieser Typ!? Kennt ihr euch?“
„Nein. Der kam an und wollte mir unbedingt einen Tequila spendieren. Voll der komische Typ! Studiert BWL und behauptet, er hat ein Haus auf La Palma.“
„Ein Haus auf La Palma! Und warum musst du dich so nah zu ihm hinstellen!?“
„Jetzt komm schon! Es ist ziemlich laut hier, ich hab kaum ein Wort verstanden von dem, was er mir erzählen wollte. Und du brauchst dich auch gar nicht aufzuregen! Hast die ganze Zeit mit der Kleinen getanzt!“
Und so fangen wir an zu streiten – wegen nichts, wegen Geschichten, die sich nur in unseren Köpfen abspielen. Kopfkino. Und vielleicht führt uns dieser Streit so weit, dass jeder erst einmal die Nase voll hat vom anderen, und auf einmal bemerke ich vielleicht doch das hübsche Mädchen, dem ich gerade auf den Fuß gestiegen bin, und fange an, mit ihr zu flirten, und meine Freundin lässt sich auf einen weiteren Tequila einladen und beginnt sich vielleicht für das Haus auf La Palma zu interessieren ...
Überall wo sich Menschen aufeinander beziehen, wo Menschen sich begegnen und in Beziehung gehen, weben sie gemeinsame Träume und Albträume. Emotionen und Stimmungen scheinen eine Art Feldcharakter zu haben, sie scheinen hochgradig ansteckend zu sein.
Wenn meine Partnerin traurig oder ärgerlich ist, dann geschieht es nur allzu leicht, dass auch ich plötzlich Trauer empfinde oder ärgerlich werde. Die Stimmung meines Gegenübers färbt meine eigene Stimmung, und die wirkt wiederum auf die Stimmung meines Gegenübers zurück – und schon stecken wir in einer Art emotionaler Feedbackschleife. Wenn es nicht mindestens einem von beiden gelingt, die Situation zu durchschauen und aus der Schleife auszusteigen, dann sitzen womöglich beide recht lange gefangen in einem gemeinsamen Traum oder Albtraum. Stundenlang, tagelang, jahrelang.
Irgendein äußeres Ereignis löst eine emotionale Reaktion in mir aus. Der Emotion folgt ein Gedanke, Gedanken verdichten sich zu einer Geschichte, die ihrerseits die Emotion verstärkt, die Geschichte wird weitergesponnen, die Emotion zementiert – und schließlich handle ich aus dieser Spannung zwischen Emotion und Gedankenfilm heraus, sage irgendetwas, tue irgendetwas, und diese Tat provoziert ihrerseits eine Reaktion meines Gegenübers, verursacht dort ein Gefühl, eine Geschichte, die eine verbale oder nonverbale Reaktion zur Folge hat. Oder aus einer Überlegung, aus einem mentalen Film wird ein Gefühl geboren, und aus diesem Gefühl heraus sage ich etwas oder agiere auf eine bestimmte Art und Weise. Mein Umfeld steigt ein in dieses Spiel – und schon zappeln wir im Netz unserer Geschichten und schnappen verzweifelt nach Luft.
Steuere ich einen derartigen Ablauf? Entscheide ich, wie ich emotional auf ein äußeres Ereignis reagiere und welche gedankliche Assoziationskette die Emotion auslöst? Wenn ich mich aufrichtig selbst beobachte, dann dämmert es mir vielleicht, dass sich emotionale und mentale Prozesse automatisch ereignen. Gemäß dem Zusammenwirken von Set (innere Disposition) und Setting (äußere Umstände) reagiere ich automatisch, gewohnheitsmäßig.
Äußere Ereignisse triggern emotionale und mentale Gewohnheitsmuster, verursachen entsprechende innere Ereignisse, die sich wiederum in meinen Handlungen äußern und in meiner Umwelt entsprechende Reaktionen auslösen. Dieser Vorgang vollzieht sich in der Regel absolut mechanisch, unbewusst und in einer unglaublichen Geschwindigkeit. „Ich“ bin diesem Geschehen zumeist machtlos ausgeliefert.
Welche Reaktionsmuster ein äußeres Ereignis in mir auslösen wird, scheint von den „gewohnheitsmäßigen Tendenzen“ abhängig zu sein, die sich aufgrund früherer Erfahrungen in mir gebildet und aufgrund vorangegangener Reaktionen in mir gefestigt haben. Mein Selbstbild und die Art und Weise, wie ich die Welt erlebe, ist zugleich Resultat und Ursache dieser Tendenzen, in steter, feinster Wechselwirkung. Meist identifiziere ich mich stark mit dieser meiner Art, mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen und übersehe dabei, dass es sich hier um mechanische Abläufe handelt.
Das ist „der Schrecken der Situation“ – wir sind dem äußeren und inneren Geschehen völlig ausgeliefert.
Den Schrecken auflösen
Das Ziel jeder „inneren Arbeit“ ist es zunächst, derartige Abläufe zu erkennen und zu verstehen. Erst wo wir verstanden haben, dass wir völlig automatisch, unseren gewohnheitsmäßigen Tendenzen gemäß agieren und reagieren, und erst wo wir diese Mechanismen wirklich verstehen, können wir beginnen, unser Geschick selbst zu bestimmen. Wir müssen uns dem „Schrecken der Situation“ stellen, unserer völligen Determiniertheit, dem absolut mechanischen Ablauf unserer emotionalen und mentalen Gewohnheitsmuster. Unser volles, wunderbares menschliches Potenzial kann nur dann zur Reife kommen, wenn wir sehr gründlich verstehen, was solch ein Reifen verhindert und wie stark wir in unzureichenden Selbstbildern und mechanischen Gewohnheitsmustern gefangen sind.
Innere Arbeit, spirituelle Praxis beginnt dort, wo wir mit unseren Identifikationen und unseren gewohnheitsmäßigen Tendenzen...